> Gedichte und Zitate für alle: Frauen im Spiegel deutscher Gedichte (Kempner, C.F.Meyer) 12

2013-08-22

Frauen im Spiegel deutscher Gedichte (Kempner, C.F.Meyer) 12





Friederike Kempner

Das Lied der braven Frau

Ein Jeder kennt im deutschen Gau
Das Lied vom braven Mann.
Mit Recht so mancher fragen kann:
Giebt’s keine brave Frau? –

Die »brave Frau« ist mir bekannt:
Wer kühn das Vorurteil zertritt,
Voraus uns geht mit Riesenschritt –
Ein Beispiel für das ganze Land; –

Was uns’re Zeit begriffen kaum,
Was mancher kaum zu denken wagt,
Die »brave Frau« gab unverzagt
In wackrer Tat der Wahrheit Raum! –

»Der Wahrheit Raum«, der erste Schritt
Im Kampf für alle, aller Wohl 
Das ist das Allerbravste wohl –
Wo mancher Held schon seitwärts glitt. –

Dies Lied sing’ ich der braven Frau,
Die einfach »Christel Wiesen« heißt,
Gefeiert sei ihr Herz und Geist,
Als Vorbild hoch im deutschen Gau.


Conrad Ferdinand Meyer

Der Tod und Frau Laura

Es war in Avignon am Karneval
Dass sich ein Mörder in den Reigen stahl
Und dass die Pest verlarvt sich schwang im Tanz
Mit einem schlotterichten Mummenschanz.

In einer nahen Villa täuschen sie
Die Angst mit Wohllaut und mit Phantasie,
Frau Laura war und auch Petrarca da,
Als an das Tor ein dumpfer Schlag geschah.

Die blassen Lippen schaudern vor dem Wein,
Es tritt ein Weissgewandeter herein,
Der eine Maske mit dem Sterbezug
Und einen frisch gepflückten Lorbeer trug.

Der Dämon hebt den Lorbeer voller Ruh
Und sinnt und schreitet auf Petrarca zu:
»Ich grüße, Freund, und komme priesterlich
Das ist der Selgen Lorbeer! Neige dich!«

Der Lorbeer schwebt. Da raubt ihn eine Hand,
Frau Laura war es, die daneben stand,
Sie schmiegt ihn um die blonden Haare leicht,
Sie steht bekränzt. Sie schaudert. Sie erbleicht.

Keine Kommentare: