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2013-11-16

Der Baum im Spiegel deutscher Gedichte (10)






Heinrich Seidel

Hinter dem Kastanienbaum

Der Winter kam – zog aus das Kleid
Den Busch und Bäumen weit und breit –
Da, hinter dem Kastanienbaum,
Erwachte mir ein schöner Traum.

Du wunderholdes Mägdelein!
Wie gerne möcht' ich bei dir sein!
Ich schau zu dir, und du zu mir
Durch das entlaubte Zweiggewirr.

Das war so schön in Winterszeit. –
Nun wird es Frühling weit und breit,
Nun wacht auch der Kastanienbaum
Aus seinem langen Wintertraum.

Nun sprengt er seiner Knospen Thor
Und streckt die grünen Finger vor,
Steht breit und rund auf seinem Platz
Und ach, verdeckt mir meinen Schatz!

Nun, zu der Liebe schönster Zeit –
Macht sich der dumme Baum so breit –
Ja, wär' im Garten die Laube nicht,
Wär's 'ne verdriessliche Geschicht'! –
Georg Heym 

Der Baum

Am Wassergraben, im Wicsenland
Steht ein Eichbaum, alt und zerrissen,
Vom Blitze hohl, und vom Sturm zerbissen.
Nesseln und Dorn umstehn ihn in schwarzer Wand.

Ein Wetter zieht sich gen Abend zusammen.
In die Schwüle ragt er hinauf, blau, vom Wind nicht gerührt.
Von der leeren Blitze Gekränz umschnürt,
Die lautlos über den Himmel flammen.

Ihn umflattert der Schwalben niedriger Schwarm.
Und die Fledermäuse huschenden Flugs,
Um den kahlen Ast, der zuhöchst entwuchs
Blitzverbrannt seinem Haupt, eines Galgens Arm.

Woran denkst Du, Baum, in der Wetterstunde
Am Rande der Nacht? An der Schnitter Gered',
In der Mittagsrast, wenn d er Krug umgeht,
Und die Sensen im Grase ruhn in der Runde?

Oder denkst du daran, wie in alter Zeit
Einen Mann sie in deine Krone gehenkt,
Wie, den Strick um den Hals, er die Beine verrenkt,
Und die Zunge blau hing aus dem Maule breit?

Wie er da Jahre hing und den Winter trug,
In dem eisigen Winde tanzte zum Spaß,
Und wie ein Glockenklöppel, den Rost zerfraß,

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