Mädel, laß dich nicht betören
Von den Worten deiner Alten!
Ihre abgedroschnen Lehren
Darfst du nicht für Wahrheit halten.
Wahrheit wohnt nur in den Herzen,
Die in steten Kreisen schweben.
Mögest du von ihnen lernen,
Dem Naturgesetz zu leben.
Dem Naturgesetz, des Wissen
Menschen aneinanderkettet
Und sie auf dem weichen Kissen
Feuriger Umarmung bettet.
Später kommt von selbst die Tugend
Mit des Alters grausen Schauern. -
Laß die Reize deiner Jugend
Nicht die schöne Zeit vertrauern.
Nein, bevor an düsterm Orte
Welket hin die holde Blume,
Öffne doch die traute Pforte
Zu dem stillen Heiligtume!
Wenn ich bei dir bin, dann schließe
Lautlos zu die Kammertüre,
Daß ich deinen Leib genieße
Und dich ungestört verführe. -
Ha, da stehst du schon entkleidet
Wie die Göttin Aphrodite;
Und mein trunknes Auge weidet
Sich an deiner Schönheit Blüte.
Mit dem Stolz der schlanken Hüften
Macht mein kühner Blick Bekanntschaft,
Mit den Triften, mit den Klüften,
Mit der ganzen Götterlandschaft.
Goldenhelle Locken fallen
Wild auf deine weißen Brüste;
Um die zarten Knospen wallen
Sie in sinnlichem Gelüste. -
Sinnlich, selig dich umschlingend
Möcht’ ich heiße Liebe trinken;
Dir von Lust und Freude singend
Auf das weiche Lager sinken.
Doch da regt sich mein Gewissen:
Sollt’ ich sie denn wirklich knicken?
Soll die Lilie welken müssen
Um ein einziges Entzücken?
Beinah war’ ich fortgegangen,
Hätt’ sie nicht mit weichen Armen
Leidenschaftlich mich umfangen
Und gerufen: »Kein Erbarmen!
Nein, was fällt dir ein, mein Bester?
Willst das Schönste du verfehlen?
Sieh, dort stehn zwei weiche Nester -
Unverzüglich sollst du wählen!
Lege mich in eines nieder;
Leg’ mich lieber in das breite! -
Dann enthülle deine Glieder,
Streck’ dich hin an meiner Seite!
Schleudre fort den ird’schen Plunder,
Wo ihr Menschen drein verpackt seid.
Auch dein Hemde zieh herunter:
Nichts ist schöner als die Nacktheit!
Nackend will ich mich vereinen
Dir und diese Nacht genießen.
Mit den Armen, mit den Beinen
Will ich deinen Leib umschließen!
Küsse mich und frag’ mich leise,
Ob du darfst, wenn du daran bist.
Liebster, sag ich dann, beweise
Mir, daß du ein ganzer Mann bist!«

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