Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 02. 10.- 21. 10.1823 (3)
Weimar, Donnerstag, den 2 .Oktober 1823
Bei sehr freundlichem Wetter bin ich gestern von Jena herübergefahren. Gleich nach meiner Ankunft sendete mir Goethe, zum Willkommen in Weimar, ein Abonnement ins Theater. Ich benutzte den gestrigen Tag zu meiner häuslichen Einrichtung, da ohnehin im Goetheschen Hause viel Bewegung war, indem der französische Gesandte Graf Reinhard aus Frankfurt und der preußische Staatsrat Schultz aus Berlin gekommen waren, ihn zu besuchen.
Diesen Vormittag war ich dann bei Goethe. Er freute sich über meine Ankunft und war überaus gut und liebenswürdig. Als ich gehen wollte, sagte er, daß er mich doch zuvor mit dem Staatsrat Schultz bekannt machen wolle. Er führte mich in das angrenzende Zimmer, wo ich den gedachten Herrn mit Betrachtung von Kunstwerken beschäftigt fand, und wo er mich ihm vorstellte und uns dann zu weiterem Gespräch allein ließ. »Es ist sehr erfreulich,« sagte Schultz darauf, »daß Sie in Weimar bleiben und Goethe bei der Redaktion seiner bisher ungedruckten Schriften unterstützen wollen. Er hat mir schon gesagt, welchen Gewinner sich von Ihrer Mitwirkung verspricht,und daß er nun auch noch manches Neue zu vollenden hofft. «Ich antwortete ihm, daß ich keinen anderen Lebenszweck habe, als der deutschen Literatur nützlich zu sein, und daß ich, in der Hoffnung hier wohltätig einzuwirken, gerne meine eigenen literarischen Vorsätze vorläufig zurückstehen lassen wolle. Auch würde, fügte ich hinzu, ein praktischer Verkehr mit Goethe höchst wohltätig auf meine fernere Ausbildung wirken, ich hoffe dadurch nach einigen Jahren eine gewisse Reife zu erlangen, und sodann weit besser zu vollbringen, was ich jetzt nur in geringerem Grade zu tun imstande wäre.
»Gewiß«, sagte Schultz, »ist die persönliche Einwirkung eines so außerordentlichen Menschen und Meisters wie Goethe ganz unschätzbar. Ich bin auch herübergekommen, um mich an diesem großen Geiste einmal wieder zu erquicken.«Er erkundigte sich sodann nach dem Druck meines Buches, wovon Goethe ihm schon im vorigen Sommer geschrieben. Ich sagte ihm, daß ich in einigen Tagen die ersten Exemplare von Jena zu bekommen hoffe, und daß ich nicht verfehlen würde, ihm eins zu verehren und nach Berlin zu schicken, im Fall er nicht mehr hier sein sollte.
Wir schieden darauf unter herzlichem Hände drücken.
Dienstag, den 14, Oktober 1823
Diesen Abend war ich bei Goethe das erste Mal zu einem großen Tee. Ich war der erste am Platz und freute mich über die hell erleuchteten Zimmer, die bei offenen Türen eins ins andere führten. In einem der letzten fand ich Goethe, der mir sehr heiter entgegenkam. Er trug auf schwarzem Anzug seinen Stern, welches ihn so wohl kleidete. Wir waren noch eine Weile allein und gingen in das so genannte Deckenzimmer, wo das über einem roten Kanapee hängende Gemälde der Aldobrandinischen Hochzeit mich besonders anzog. Das Bild war, bei zur Seite geschobenen grünen Vorhängen, in voller Beleuchtung mir vor Augen, und ich freute mich, es in Ruhe zu betrachten.
»Ja,« sagte Goethe, »die Alten hatten nicht allein große Intentionen, sondern es kam bei ihnen auch zur Erscheinung. Dagegen haben wir Neueren auch wohl große Intentionen, allein wir sind selten fähig, es so kräftig und lebensfrisch hervorzubringen, als wir es uns dachten.
«Nun kam auch Riemer und Meyer, auch der Kanzler von Müller und mehrere andere angesehene Herren und Damen von Hofe. Auch Goethes Sohn trat herein und Frau von Goethe, deren Bekanntschaft ich hier zuerst machte. Die Zimmer füllten sich nach und nach, und es ward in allen sehr munter und lebendig. Auch einige hübsche junge Ausländer waren gegenwärtig, mit denen Goethe französisch sprach.Die Gesellschaft gefiel mir, es war alles so frei und ungezwungen, man stand, man saß, man scherzte, man lachte und sprach mit diesem und jenem, alles nach freier Neigung. Ich sprach mit dem jungen Goethe sehr lebendig über das "Bild" von Houwald, welches vor einigen Tagen gegeben worden. Wir waren über das Stück einer Meinung, und ich freute mich, wie der junge Goethe die Verhältnisse mit so vielem Geist und Feuer auseinander zu setzen wußte.
Goethe selbst erschien in der Gesellschaft sehr liebenswürdig. Er ging bald zu diesem und zu jenem und schien immer lieber zu hören und seine Gäste reden zu lassen, als selber viel zureden. Frau von Goethe kam oft und hängte und schmiegte sich an ihn und küßte ihn. Ich hatte ihm vor kurzem gesagt, das mir das Theater so große Freude mache und daß es mich sehr aufheitere, indem ich mich bloß dem Eindruck der Stücke hingebe, ohne darüber viel zu denken. Dies schien ihm recht und für meinen gegenwärtigen Zustand passend zu sein.Er trat mit Frau von Goethe zu mir heran. »Das ist meine Schwiegertochter,« sagte er; »kennt ihr beiden euch schon?«Wir sagten ihm, daß wir soeben unsere Bekanntschaft gemacht. »Das ist auch so ein Theaterkind wie du, Ottilie«, sagte er dann, und wir freuten uns miteinander über unsere beiderseitige Neigung. »Meine Tochter«, fügte er hinzu, »versäumt keinen Abend.« - »Solange gute-heitere Stücke gegeben werden,« erwiderte ich, »lasse ich es gelten, allein bei schlechten Stücken muß man auch etwas aushalten.«-» Das ist eben recht,«erwiderte Goethe, »daß man nicht fort kann und gezwungen ist auch das Schlechte zu hören und zu sehen. Da wird man recht von Haß gegen das Schlechte durchdrungen und kommt dadurch zu einer desto besseren Einsicht des Guten.
Beim Lesen ist das nicht so, da wirft man das Buch aus den Händen, wenn es einem nicht gefällt, aber im Theater muß man aushalten.« Ich gab ihm recht und dachte, der Alte sagt auch gelegentlich immer etwas Gutes. Wir trennten uns und mischten uns unter die übrigen, die sich um uns herum und in diesem und jenem Zimmer laut und lustig unterhielten. Goethe begab sich zu den Damen; ich gesellte mich zu Riemer und Meyer, die uns viel von Italien erzählten.
Regierungsrat Schmidt setzte sich später zum Flügel und trug Beethovensche Sachen vor, welche die Anwesenden mit innigem Anteil aufzunehmen schienen. Eine geistreiche Dame erzählte darauf viel Interessantes von Beethovens Persönlichkeit. Und so ward es nach und nach zehn Uhr, und es war mir der Abend im hohen Grade angenehm vergangen.
Sonntag, den 19.Oktober 1823
Diesen Mittag war ich das erste Mal bei Goethe zu Tisch. Es waren außer ihm nur Frau von Goethe, Fräulein Ulrike und der kleine Walter gegenwärtig, und wir waren also bequem unter uns, Goethe zeigte sich ganz als Familienvater, er legte alle Gerichte vor, tranchierte gebratenes Geflügel, und zwar mit besonderem Geschick, und verfehlte auch nicht, mitunter einzuschenken. Wir anderen schwatzten munteres Zeug über Theater, junge Engländer und andere Vorkommnisse des Tages; besonders war Fräulein Ulrike sehr heiter und im hohen Grade unterhaltend. Goethe war im ganzen still, indem er nur von Zeit zu Zeit als Zwischenbemerkung mit etwas Bedeutendem hervorkam. Dabei blickte er hin und wieder in die Zeitungen und teilte uns einige Steilen mit, besonders über die Fortschritte der Griechen.
Es kam dann zur Sprache, daß ich noch Englisch lernen müsse, wozu Goethe dringend riet, besonders des Lord Byron wegen, dessen Persönlichkeit von solcher Eminenz, wie sie nicht dagewesen und wohl schwerlich wiederkommen werde. Man ging die hiesigen Lehrer durch, fand aber keinen von einer durchaus guten Aussprache, weshalb man es für besser hielt, sich an junge Engländer zu halten. Nach Tisch zeigte Goethe mir einige Experimente in bezug auf die Farbenlehre. Der Gegenstand war mir jedoch durchaus fremd, ich verstand so wenig das Phänomen als das, was er darübersagte; doch hoffte ich, daß die Zukunft mir Muße und Gelegenheitgeben würde, in dieser Wissenschaft einigermaßen einheimisch zu werden.
Dienstag, den 21. Oktober 1823
Ich war diesen Abend bei Goethe. Wir sprachen über die "Pandora". Ich fragte ihn, ob man diese Dichtung wohl als ein Ganzes ansehen könne, oder ob noch etwas weiteres davon existiere. Er sagte, es sei weiter nichts vorhanden, er habe es nicht weitergemacht, und zwar deswegen nicht, weil der Zuschnitt des ersten Teiles so groß geworden, daß er später einen zweiten nicht habe durchführen können. Auch wäre das Geschriebene recht gut als ein Ganzes zu betrachten, weshalb er sich auch dabei beruhiget habe.
Ich sagte ihm, daß ich bei dieser schweren Dichtung erst nach und nach zum Verständnis durchgedrungen, nachdem ich sie so oft gelesen, daß ich sie nun fast auswendig wisse. Darüber lächelte Goethe. »Das glaube ich wohl,« sagte er, »es ist alles als wie ineinander gekeilt" Ich sagte ihm, daß ich wegen dieses Gedichts nicht ganz mit'. Schubarth zufrieden, der darin alles das vereinigt finden wolle, was im "Werther", "Wilhelm Meister, "Faust" und "Wahlverwandtschaften" einzeln ausgesprochen sei, wodurch doch die Sache sehr unfaßlich und schwer werde. »Schubarth«, sagte Goethe, »geht oft ein wenig tief; doch ist er sehr tüchtig, es ist bei ihm alles prägnant.
«Wir sprachen über Uhland. »Wo ich große Wirkungen sehe,«sagte Goethe, »pflege ich auch große Ursachen vorauszusetzen, und bei der so sehr verbreiteten Popularität, die Uhland genießt, muß also wohl etwas Vorzügliches an ihm sein. Übrigens habe ich über seine "Gedichte" kaum ein Urteil. Ich nahm den Band mit der besten Absicht zu Händen, allein ich stieß von vorne herein gleich auf so viele schwache und trübselige Gedichte, daß mir das Weiterlesen verleidet wurde. Ich griff dann nach seinen Balladen, wo ich denn freilich ein vorzügliches Talent gewahr wurde und recht gut sah, daß sein Ruhm einigen Grund hat.«Ich fragte darauf Goethe um seine Meinung hinsichtlich der Verse zur deutschen Tragödie. »Man wird sich in Deutschland«, antwortete er, »schwerlich darüber vereinigen. Jeder machts wie er eben will und wie es dem Gegenstände einigermaßen gemäß ist. Der sechsfüßige Jambus wäre freilich am würdigsten, allein er ist für uns Deutsche zu lang; wir sind wegender mangelnden Beiwörter gewöhnlich schon mit fünf Füßen fertig. Die Engländer reichen wegen ihrer vielen einsilbigen Wörter noch weniger.
«Goethe zeigte mir darauf einige Kupferwerke und sprach dann über die altdeutsche Baukunst, und daß er mir manches der Art nach und nach vorlegen wolle.»Man sieht in den Werken der altdeutschen Baukunst«, sagte er, »die Blüte eines außerordentlichen Zustandes. Wem eine solche Blüte unmittelbar entgegentritt, der kann nichts als anstaunen; wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht, in das Regen der Kräfte und wie sich die Blüte nach und nach entwickelt, der sieht die Sache mit ganz anderen Augen, der weiß, was er sieht.Ich will dafür sorgen, daß Sie im Lauf dieses Winters in diesem wichtigen Gegenstände einige Einsicht erlangen, damit, wenn Sie nächsten Sommer an den Rhein gehen, es Ihnen beim Straßburger Münster und Kölner Dom zugute komme. «Ich freute mich dazu und fühlte mich ihm dankbar.
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