> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 30.03.- 14.04.1824 (10)

2014-11-12

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 30.03.- 14.04.1824 (10)




Dienstag, den 30. März 1824

Abends bei Goethe. - Ich war alleine mit ihm. Wir sprachen vielerlei und tranken eine Flasche Wein dazu. Wir sprachen sprachen über das französische Theater im Gegensatz zum deutschen.»


Es wird schwer halten,« sagte Goethe, »daß das deutsche Publikum zu einer Art von reinem Urteil komme, wie man es etwa in Italien und Frankreich findet. Und zwar ist uns besonders hinderlich, daß auf unseren Bühnen alles durcheinander gegeben wird. An derselbigen Stelle, wo wir gestern den "Hamlet" sahen, sehen wir heute den "Staberle", und wo uns morgen die Zauberflöte entzückt, sollen wir übermorgen an den Späßen des "Neuen Sonntagskindes" Gefallen finden. Dadurch entsteht beim Publikum eine Konfusion im Urteil, eine Vermengung der verschiedenen Gattungen, die es nie gehörig schätzen und begreifen lernt. Und dann hat jeder seine individuellen Forderungen und seine persönlichen Wünsche, mit denen er sich wieder nach der Stelle wendet, wo er sie realisiert fand. An demselbigen Baum, wo er heute Feigen gepflückt, will er sie morgen wieder pflücken, und er würde ein sehr verdrießliches Gesicht machen, wenn etwa über Nacht Schlehen gewachsen wären. Ist aber jemand Freund von Schlehen, der wendet sich an die Dornen.Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes Haus für die Tragödie zu bauen, auch jede Woche ein Stück bloß für Männer zu geben. Allein dies setzte eine sehr große Residenz voraus und war in unsern kleinen Verhältnissen nicht zu realisieren.«Wir sprachen über die Stücke von Iffland und Kotzebue, die Goethe in ihrer Art sehr hoch schätzte. »Eben aus dem gedachten Fehler,« sagte er, »daß niemand die Gattungen gehörig unterscheidet, sind die Stücke jener Männer oft sehr ungerechterweise getadelt worden. Man kann aber lange warten, ehe ein paar so populäre Talente wieder kommen.


«Ich lobte Ifflands "Hagestolzen", die mir von der Bühne herunter sehr wohl gefallen hatten. »Es ist ohne Frage Ifflands bestes Stück,« sagte Goethe; »es ist das einzige, wo er aus der Prosa ins Ideelle geht.


«Er erzählte mir darauf von einem Stück, welches er mit Schiller als Fortsetzung der "Hagestolzen" gemacht, aber nicht geschrieben,sondern bloß gesprächsweise gemacht. Goethe entwickelte mir die Handlung Szene für Szene; es war sehr artig und heiter, und ich hatte daran große Freude.


Goethe sprach darauf über einige neue Schauspiele von Platen.»Man sieht«, sagte er, »an diesen Stücken die Einwirkung Calderons. Sie sind durchaus geistreich und in gewisser Hinsicht vollendet, allein es fehlt ihnen ein spezifisches Gewicht, eine gewisse Schwere des Gehalts. Sie sind nicht der Art, um im Gemüt des Lesers ein tiefes und nachwirkendes Interesse zu erregen, vielmehr berühren sie die Saiten unseres Innern nur leicht und vorübereilend. Sie gleichen dem Kork, der auf dem Wasser schwimmend keinen Eindruck macht, sondern von der Oberfläche sehr leicht getragen wird.


Der Deutsche verlangt einen gewissen Ernst, eine gewisse Größe der Gesinnung, eine gewisse Fülle des Innern, weshalb denn auch Schiller von allen so hoch gehalten wird. Ich zweifle nun keinesfalls an Platens sehr tüchtigem Charakter, allein das kommt, wahrscheinlich aus einer abweichenden Kunstansicht, hier nicht zur Erscheinung. Er entwickelt eine reiche Bildung, Geist, treffenden Witz und sehr viele künstlerische Vollendung; allein damit ist es, besonders bei uns Deutschen, nicht getan. Überhaupt: der persönliche Charakter des Schriftstellers bringts eine Bedeutung beim Publikum hervor, nicht die Künste seinesTalents. Napoleon sagte von Corneille: "S’il vivait, je leferais Prince" - und er las ihn nicht. Den Racine las er, aber von diesem sagte er es nicht. Deshalb steht auch der Lafontaine beiden Franzosen in so hoher Achtung, nicht seines poetischen Verdienstes wegen, sondern wegen der Großheit seines Charakters, er aus seinen Schriften hervorgeht.«Wir kamen sodann auf die "Wahlverwandtschaften" zu reden , und Goethe erzählte mir von einem durchreisenden Engländer, der sich scheiden lassen wolle, wenn er nach England zurück käme. Er lachte über solche Torheit und erwähnte mehrere Beispielen von Geschiedenen, die nachher doch nicht hätten voneinanderr lassen können.»


Der selige Reinhard in Dresden«, sagte er, »wunderte sich oft über mich, daß ich in bezug auf die Ehe so strenge Grundsätze habe, während ich doch in allen übrigen Dingen so läßlich denke.


Diese Äußerung Goethes war mir aus dem Grunde merkwürdig, weil sie ganz entschieden an den Tag legt, wie er es mit jedem so oft gemißdeuteten Romane eigentlich gemeint hat. Wir sprachen darauf über Tieck und dessen persönliche Stellung zu Goethe.


"Ich bin Tiecken herzlich gut,« sagte Goethe, »und er ist auch im ganzen sehr gut gegen mich gesinnt; allein es ist in seinem Verhältnis zu mir doch etwas, wie es nicht sein sollte. Und zwar bin ich daran nicht schuld, und er ist es auch nicht, sondern es hat seine Ursachen anderer Art.


Als nämlich die Schlegel anfingen bedeutend zu werden, war ich ihnen zu mächtig, und um mich zu balancieren, mußten sies ich nach einem Talent umsehen, das sie mir entgegenstellten. Ein solches fanden sie in Tieck, und damit er mir gegenüber in den Augen des Publikums genugsam bedeutend erscheine, so mußten sie mehr aus ihm machen, als er war. Dieses schadete unserm Verhältnis; denn Tieck kam dadurch zu mir, ohne es sich eigentlich bewußt zu werden, in eine schiefe Stellung. Tieck ist ein Talent von hoher Bedeutung, und es kann seine außerordentlichen Verdienste niemand besser erkennen als ich selber; allein wenn man ihn über ihn selbst erheben und mir gleichstellen will, so ist man im Irrtum. Ich kann dieses gerade heraussagen, denn was geht es mich an, ich habe mich nicht gemacht. Es wäre ebenso, wenn ich mich mit Shakespeare vergleichen wollte, der sich auch nicht gemacht hat und der doch ein Wesen höherer Art ist, zu dem ich hinaufblicke und das ich zu verehren habe.«


Goethe war diesen Abend besonders kräftig, heiter und aufgelegt. Er holte ein Manuskript ungedruckter Gedichte herbei, woraus er mir vorlas. Es war ein Genuß ganz einziger Art, ihm zuzuhören, denn nicht allein daß die originelle Kraft und Frische der Gedichte mich in hohem Grade anregte, sondern Goethe zeigte sich auch beim Vorlesen von einer mir bisher unbekannten höchst bedeutenden Seite. Welche Mannigfaltigkeitund Kraft der Stimme! Welcher Ausdruck und welchesLeben des großen Gesichtes voller Falten! Und welche Augen!


Mittwoch, den 14. April 1824


Um ein Uhr mit Goethe spazieren gefahren. Wir sprachen über den Stil verschiedener Schriftsteller.


»Den Deutschen«, sagte Goethe, »ist im ganzen die philosophische Spekulation hinderlich, die in ihren Stil oft ein unsinnliches, unfaßbares, breites und aufdröselndes Wesen hineinbringt. Je näher sie sich gewissen philosophischen Schulen hingeben, desto schlechter schreiben sie. Diejenigen Deutschen aber, die als Geschäfts- und Lebemenschen bloß aufs Praktische gehen, schreiben am besten. So ist Schillers Stil am prächtigsten und wirksamsten, sobald er nicht philosophiert, wie ich noch heute an seinen höchst bedeutenden Briefen gesehen, mit denen ich mich grade beschäftige.


Gleicherweise gibt es unter deutschen Frauenzimmern geniale Wesen, die einen ganz vortrefflichen Stil schreiben, so daß sie sogar manche unserer gepriesenen Schriftsteller darin übertreffen.


Die Engländer schreiben in der Regel alle gut, als geborene Redner und als praktische, auf das Reale gerichtete Menschen. Die Franzosen verleugnen ihren allgemeinen Charakter auch in ihrem Stil nicht. Sie sind geselliger Natur und vergessen als solche nie das Publikum, zu dem sie reden; sie bemühen sich klar zu sein, um ihren Leser zu überzeugen, und anmutig, um ihm zu gefallen.Im ganzen ist der Stil eines Schriftstellers ein treuer Abdruck seines Innern; will jemand einen klaren Stil schreiben, so sei es ihm zuvor klar in seiner Seele; und will jemand einen großartigen Stil schreiben, so habe er einen großartigen Charakter.«Goethe sprach darauf über seine Gegner und daß dieses Geschlecht nie aussterbe. »Ihre Zahl ist Legion,« sagte er, »doch ist es nicht unmöglich, sie einigermaßen zu klassifizieren.


Zuerst nenne ich meine Gegner aus Dummheit, es sind solche, die mich nicht verstanden und die mich tadelten, ohne mich zu kennen. Diese ansehnliche Masse hat mir in meinem Leben viele Langeweile gemacht; doch es soll ihnen verziehen sein, denn sie wußten nicht, was sie taten.


Eine zweite große Menge bilden sodann meine Neider. Diese Leute gönnen mir das Glück und die ehrenvolle Stellung nicht, die ich durch mein Talent mir erworben. Sie zerren an meinem Ruhm und hätten mich gerne vernichtet. Wäre ich unglücklich und elend, so würden sie aufhören.


Ferner kommt eine große Anzahl derer, die aus Mangel an eigenem Sukzeß meine Gegner geworden. Es sind begabte Talente darunter, allein sie können mir nicht verzeihen, daß ich sie verdunkele.


Viertens nenne ich meine Gegner aus Gründen. Denn da ich ein Mensch bin und als solcher menschliche Fehler und Schwächen habe, so können auch meine Schriften davon nicht frei sein. Da es mir aber mit meiner Bildung ernst war und ich an meiner Veredelung unablässig arbeitete, so war ich im beständigen Fortstreben begriffen, und es ereignete sich oft, daß sie mich wegen eines Fehlers tadelten, den ich längst abgelegt hatte. Diesee Guten haben mich am wenigsten verletzt; sie schossen nach mir, wenn ich schon meilenweit von ihnen entfernt war. Überhaupt war ein abgemachtes Werk mir ziemlich gleichgültig; ich befaßte mich nicht weiter damit und dachte sogleich an etwas Neues.


Eine fernere große Masse zeigt sich als meine Gegner aus abweichender Denkungsweise und verschiedenen Ansichten. Man sagt von den Blättern eines Baumes, daß deren kaum zwei vollkommen gleich befunden werden, und so möchten sich auch unter tausend Menschen kaum zwei finden, die in ihrer Gesinnungs- und Denkungsweise vollkommen harmonieren. Setze ich dieses voraus, so sollte ich mich billig weniger darüber wundern, daß die Zahl meiner Widersacher so groß ist, als vielmehr darüber, daß ich noch so viele Freunde und Anhänger habe. Meine ganze Zeit wich von mir ab, denn sie war ganz in subjektiver Richtung begriffen, während ich in meinem objektiven Bestreben im Nachteile und völlig allein stand.


Schiller hatte in dieser Hinsicht vor mir große Avantagen. Ein wohl meinender General gab mir daher einst nicht undeutlich zu verstehen, ich möchte es doch machen wie Schiller. Darauf setzte ich ihm Schillers Verdienste erst recht auseinander, denn ich kannte sie doch besser als er. Ich ging auf meinem Wege ruhig fort, ohne mich um den Sukzeß weiter zu bekümmern, und von allen meinen Gegnern nahm ich so wenig Notiz als möglich.«


Wir fuhren zurück und waren darauf bei Tische sehr heiter. Frau von Goethe erzählte viel von Berlin, woher sie vor kurzem gekommen; sie sprach mit besonderer Wärme von der Herzogin von Cumberland, die ihr viel Freundliches erwiesen. Goethe erinnerte sich dieser Fürstin, die als sehr junge Prinzeß eine Zeitlang bei seiner Mutter gewohnt, mit besonderer Neigung.


Abends hatte ich bei Goethe einen musikalischen Kunstgenuß bedeutender Art, indem ich den "Messias" von Händel teilweise vortragen hörte, wozu einige treffliche Sänger sich unter Eberweins Leitung vereinigt hatten. Auch Gräfin Karoline von Egloffstein, Fräulein von Froriep sowie Frau von Pogwisch und Frau von Goethe hatten sich den Sängerinnen angeschlossen und wirkten dadurch zur Erfüllung eines lange gehegten Wunsches von Goethe auf das freundlichste mit. Goethe, in einiger Ferne sitzend, im Zuhören vertieft, verlebte einen glücklichen Abend, voll Bewunderung des großartigen Werkes.



Gesamtübersicht

weiter











Keine Kommentare: