> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 10.08.- 24.11.1824 (12)

2014-11-13

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 10.08.- 24.11.1824 (12)





Dienstag, den 10. August 1824


Seit etwa acht Tagen bin ich von meiner Rheinreise zurück. Goethe äußerte bei meiner Ankunft eine lebhafte Freude, und ich meinerseits war nicht weniger glücklich, wieder bei ihm zu sein. Er hatte sehr viel zu reden und mitzuteilen, so daß ich die ersten Tage wenig von seiner Seite kam. Seine frühere Absicht, nach Marienbad zu gehen, hat er aufgegeben, er will diesen Sommer gar keine Reise machen. »Nun, da Sie wieder hier sind« sagte er gestern, »kann es noch einen recht hübschen August für mich geben.«


Vor einigen Tagen kommunizierte er mir die Anfänge einer Fortsetzung von "Wahrheit und Dichtung", ein auf Quartblätter geschriebenes Heft, kaum von der Stärke eines Fingers. Einiges ist ausgeführt, das meiste jedoch nur in Andeutungen enthalten. Doch ist bereits eine Abteilung in fünf Bücher gemacht und die schematisierten Blätter sind so zusammengelegt, daß man bei einigem Studium den Inhalt des Ganzen wohl übersehen kann.


Das bereits Ausgeführte erscheint mir nun so vortrefflich und der Inhalt des Schematisierten von solcher Bedeutung, daß ich auf das lebhafteste bedaure, eine so viel Belehrung und Genuß versprechende Arbeit ins Stocken geraten zu sehen, und daß ich Goethe auf alle Weise zu einer baldigen Fortsetzung und Vollendung treiben werde. Die Anlage des Ganzen hat sehr viel vom Roman. Zartes, anmutiges, leidenschaftliches Liebesverhältnis, heiter im Entgehen, idyllisch im Fortgange, tragisch am Ende durch ein stillschweigendes gegenseitiges Entsagen, schlingt sich durch vier Bücher hindurch und verbindet diese zu einem wohlgeordneten Ganzen. Der Zauber von Lilis Wesen, im Detail geschildert, ist geeignet, jeden Leser zu fesseln, so wie er den Liebenden selbst dergestalt in Banden hielt, daß er sich nur durcheine wiederholte Flucht zu retten imstande war.


Die dargestellte Lebensepoche ist gleichfalls höchst romantischer Natur, oder sie wird es, indem sie sich an dem Hauptcharakter entwickelt. Von ganz besonderer Bedeutung und Wichtigkeit aber ist sie dadurch, daß sie, als Vorepoche der weimarischen Verhältnisse, für das ganze Leben entscheidet. Wenn also irgendein Abschnitt aus Goethes Leben Interesse hat und den Wunsch einer detaillierten Darstellung rege macht, so ist es dieser.


Um nun bei Goethe für die unterbrochene und seit Jahren ruhende Arbeit neue Lust und Liebe zu erregen, habe ich diese Angelegenheit nicht allein sogleich mündlich mit ihm besprochen, sondern ich habe ihm auch heute folgende Notizen zugehen lassen, damit es ihm vor die Augen trete, was vollendet ist und welche Stellen noch einer Ausführung und anderweiten Anordnung bedürfen.

Erstes Buch



Dieses Buch, welches der anfänglichen Absicht gemäß als fertig anzusehen ist, enthält eine Art von Exposition, indem namentlich darin der Wunsch nach Teilnahme an Weltgeschäften ausgesprochen wird, auf dessen Erfüllung das Ende der ganzen Epoche durch die Berufung nach Weimar abläuft. Damit es sich aber dem Ganzen noch inniger anschließen möge, so rate ich, das durch die folgenden vier Bücher gehende Verhältnis zu Lili schon in diesem ersten Buche anzuknüpfen und fortzuführen bis zu der Ausflucht nach Offenbach. Dadurch würde auch dieses erste Buch an Umfang und Bedeutung gewinnen und ein allzu starkes Anwachsen des zweiten verhütet werden.


Zweites Buch


Das idyllische Leben zu Offenbach eröffnete sodann dieses zweite Buch und führte das glückliche Liebesverhältnis durch, bis es zuletzt einen bedenklichen, ernsten, ja tragischen Charakter anzunehmen beginnt. Hier ist nun die Betrachtung ernster Dinge, wie sie das Schema in bezug auf Stilling verspricht, wohl am Platze, und es läßt sich aus den nur mit wenigen Worten angedeuteten Intentionen auf viel Belehrendes von hoher Bedeutung schließen.


Drittes Buch


Das dritte Buch, welches den Plan zu einer Fortsetzung des "Faust" usw. enthält, ist als Episode zu betrachten, welche sich durch den noch auszuführenden Versuch der Trennung von Lili den übrigen Büchern gleichfalls anschließt. Ob nun dieser Plan zu "Faust" mitzuteilen oder zurückzuhalten sein wird, dieser Zweifel dürfte sich dann beseitigen lassen, wenn man die bereits fertigen Bruchstücke zur Prüfung vor Augen hat und erst darüber klar ist, ob man überall die Hoffnung einer Fortsetzung des "Faust" aufgeben muß oder nicht.


Viertes Buch


Das dritte Buch schlösse mit dem Versuch einer Trennung von Lili.  Dieses vierte beginnt daher sehr passend mit der Ankunft der Stolberge und Haugwitzens, wodurch die Schweizerreise und mithin die erste Flucht von Lili motiviert wird. Das über dieses Buch vorhandene ausführliche Schema verspricht uns die interessantesten Dinge und erregt den Wunsch nach möglichst detaillierter Ausführung auf das lebendigste. Die immer wieder hervorbrechende, nicht zu unterdrückende Leidenschaft zu Lili durchwärmt auch dieses Buch mit der Glut jugendlicher Liebe und wirft auf den Zustand des Reisenden eine höchst eigene, angenehme, zauberische Beleuchtung.


Fünftes Buch


Dieses schöne Buch ist gleichfalls beinahe vollendet. Fortgang und Ende, welche an das unerforschliche höchste Schicksalswesen hinanstreifen, ja es aussprechen, sind wenigstens als durchaus fertig anzusehen, und es bedarf nur noch mit wenigem der Einleitung, worüber ja auch bereits ein sehr klares Schema vorliegt. Die Ausführung dieses ist aber um so notwendiger und wünschenswerter, als dadurch die weimarischen Verhältnisse zuerst zur Sprache kommen und das Interesse für sie zuerst rege gemacht wird.


Montag, den 16. August 1824


Der Verkehr mit Goethe war in diesen Tagen sehr reichhaltig, ich jedoch mit anderen Dingen zu beschäftigt, als daß es mir möglich gewesen, etwas Bedeutendes aus der Fülle seiner Gespräche niederzuschreiben.


Nur folgende Einzelheiten finden sich in meinem Tagebuche notiert, wovon ich die Verbindung und die Anlässe vergessen, aus denen sie hervorgegangen:


»Menschen sind schwimmende Töpfe, die sich aneinander stoßen.«»Am Morgen sind wir am klügsten, aber auch am sorglichsten; denn auch die Sorge ist eine Klugheit, wiewohl nur eine passive. Die Dummheit weiß von keiner Sorge.«


»Man muß keine Jugendfehler ins Alter hineinnehmen, denn das Alter führt seine eigenen Mängel mit sich.«»Das Hofleben gleicht einer Musik, wo jeder seine Takte und Pausen halten muß.«


»Die Hofleute müßten vor Langerweile umkommen, wenn sie ihre Zeit nicht durch Zeremonie auszufüllen wüßten.«»Es ist nicht gut einem Fürsten zu raten, auch in der geringfügigsten Sache abzudanken.«

»Wer Schauspieler bilden will, muß unendliche Geduld haben.«


Dienstag, den 9. November 1824


Abends bei Goethe. Wir sprachen über Klopstock und Herder, und ich hörte ihm gerne zu, wie er die großen Verdienste dieser Männer gegen mich auseinandersetzte.


»Unsere Literatur«, sagte er, »wäre ohne die gewaltigen Vorgänger das nicht geworden, was sie jetzt ist. Mit ihrem Auftreten waren sie der Zeit voran und haben sie gleichsam nach sich gerissen; jetzt aber ist die Zeit ihnen vorangeeilt, und sie, die einst so notwendig und wichtig waren, haben jetzt aufgehört, Mittel zu sein. Ein junger Mensch, der heutzutage seine Kultur aus Klopstock und Herder ziehen wollte, würde sehr zurückbleiben.«


Wir sprachen über Klopstocks "Messias" und seine "Oden" und gedachten ihrer Verdienste und Mängel. Wir waren einig, daß Klopstock zur Anschauung und Auffassung der sinnlichen Welt und Zeichnung von Charakteren keine Richtung und Anlage gehabt, und daß ihm also das Wesentlichste zu einem epischen und dramatischen Dichter, ja man könnte sagen, zu einem Dichter überhaupt, gefehlt habe.»


Mir fällt hier jene Ode ein,« sagte Goethe, »wo er die deutsche Muse mit der britischen einen Wettlauf machen läßt; und in der Tat, wenn man bedenkt, was es für ein Bild gibt, wenn die beiden Mädchen miteinander laufen und die Beine werfen und den Staub mit ihren Füßen erregen, so muß man wohl annehmen, der gute Klopstock habe nicht lebendig vor Augen gehabt und sich nicht sinnbildlich ausgebildet, was er machte, denn sonst hätte er sich unmöglich so vergreifen können.«


Ich fragte Goethe, wie er in der Jugend zu Klopstock gestanden und wie er ihn in jener Zeit an gesehen.

»Ich verehrte ihn«, sagte Goethe, »mit der Pietät, die mir eigen war; ich betrachtete ihn wie meinen Oheim. Ich hatte Ehrfurcht vor dem, was er machte, und es fiel mir nicht ein, darüber zu denken und daran etwas aussetzen zu wollen. Sein Vortreffliches ließ ich auf mich wirken und ging übrigens meinen eigenen Weg.«


Wir kamen auf Herder zurück, und ich fragte Goethe, was er für das beste seiner Werke halte. »Seine "Ideen zur Geschichte der Menschheit"«, antwortete Goethe, »sind unstreitig das vorzüglichste. Später warf er sich auf die negative Seite, und da
war er nicht erfreulich.«


»Bei der großen Bedeutung Herders«, versetzte ich, »kann ich nicht mit ihm vereinigen, wie er in gewissen Dingen so wenig Urteil zu haben schien. Ich kann ihm z. B. nicht vergeben, daß er, zumal bei dem damaligen Stande der deutschen Literatur, das Manuskript des "Götz von Berlichingen" ohne Würdigung seines Guten mit spöttelnden Anmerkungen zurücksandte. Es mußte ihm doch für gewisse Gegenstände an allen Organen fehlen.«


»In dieser Hinsicht war es arg mit Herder,« erwiderte Goethe;»ja wenn er als Geist in diesem Augenblick hier gegenwärtig wäre,«fügte er lebhaft hinzu,»er würde uns nicht verstehen.«»Dagegen muß ich den Merck loben,« sagte ich, »daß er Sie trieb, den "Götz" drucken zu lassen.«


»Das war freilich ein wunderlicher bedeutender Mensch«, erwiderte Goethe. »"Laß das Zeug druckend sagte er; es taugt zwar nichts, aber laß es nur drucken! Er war nicht für das Umarbeiten und er hatte recht; denn es wäre wohl anders geworden, aber nicht besser.«


Mittwoch, den 24. November 1824


Ich besuchte Goethe abends vor dem Theater und fand ihn sehr wohl und heiter. Er erkundigte sich nach den hier anwesenden jungen Engländern, und ich sagte ihm, daß ich die Absicht habe, mit Herrn Doolan eine deutsche Übersetzung des Plutarch zu lesen. Dies führte das Gespräch auf die römische und griechische Geschichte, und Goethe äußerte sich darüber folgendermaßen:


»Die römische Geschichte«, sagte er, »ist für uns eigentlich nicht mehr an der Zeit. Wir sind zu human geworden, als daß uns die Triumphe des Cäsar nicht widerstehen sollten. So auch die griechische Geschichte bietet wenig Erfreuliches. Wo sich dieses Volk gegen äußere Feinde wendet, ist es zwar groß und glänzend, allein die Zerstückelung der Staaten und der ewige Krieg im Innern, wo der eine Grieche die Waffen gegen den andern kehrt, ist auch desto unerträglicher. Zudem ist die Geschichte unserer eigenen Tage durchaus groß und bedeutend ; die Schlachten von Leipzig und Waterloo ragen so gewaltig hervor, daß jene von Marathon und ähnliche andere nachgerade verdunkelt werden. Auch sind unsere einzelnen Helden nicht zurückgeblieben: die französischen Marschälle und Blücher und Wellington sind denen des Altertums völlig an die Seite zu setzen.«Das Gespräch wendete sich auf die neueste französische Literatur und der Franzosen täglich zunehmendes Interesse an deutschen Werken.


»Die Franzosen«, sagte Goethe, »tun sehr wohl, daß sie anfangen, unsere Schriftsteller zu studieren und zu übersetzen; denn beschränkt in der Form und beschränkt in den Motiven, wie sie sind, bleibt ihnen kein anderes Mittel, als sich nach außen zu wenden. Mag man uns Deutschen eine gewisse Formlosigkeit vorwerfen, allein wir sind ihnen doch an Stoff überlegen. Die Theaterstücke von Kotzebue und Iffland sind so reich an Motiven, daß sie sehr lange daran werden zu pflücken haben, bis alles verbraucht sein wird. Besonders aber ist ihnen unsere philosophische Idealität willkommen; denn jedes Ideelle ist dienlich zu revolutionären Zwecken.


Die Franzosen«, fuhr Goethe fort, »haben Verstand und Geist, aber kein Fundament und keine Pietät. Was ihnen im Augenblick dient, was ihrer Partei zugute kommen kann, ist ihnen das Rechte. Sie loben uns daher auch nie aus Anerkennung unserer Verdienste, sondern nur, wenn sie durch unsere Ansichten ihre Partei verstärken können.«



Wir sprachen darauf über unsere eigene Literatur und was einigen unserer neuesten jungen Dichter hinderlich. Die Mehrzahl unserer jungen Poeten«, sagte Goethe, »fehlt weiter nichts, als daß ihre Subjektivität nicht bedeutend ist und daß sie im Objektiven den Stoff nicht zu finden wissen. Im höchsten Falle finden sie einen Stoff, der ihnen ähnlich ist, der ihrem Subjekte zusagt; den Stoff aber um sein selbst willen, weil er ein poetischer ist, auch dann zu ergreifen, wenn er dem Subjekt widerwärtig wäre, daran ist nicht zu denken.


Aber, wie gesagt, wären es nur bedeutende Personagen, die durch große Studien und Lebensverhältnisse gebildet würden, so möchte es, wenigstens um unsere jungen Dichter lyrischer Art, dennoch sehr gut stehen.«


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