> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 12.05.- 15.10.1825 (17)

2014-11-16

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 12.05.- 15.10.1825 (17)





Donnerstag,den 12. [?] Mai 1825


Goethe sprach mit hoher Begeisterung über Menander. »Nächst dem Sophokles«, sagte er, »kenne ich keinen, der mir so lieb wäre. Er ist durchaus rein, edel, groß und heiter; seine Anmut ist unerreichbar. Daß wir so wenig von ihm besitzen, ist allerdings zu bedauern, allein auch das Wenige ist unschätzbar und für begabte Menschen viel daraus zu lernen.Es kommt nur immer darauf an,« fuhr Goethe fort, »daß derjenige, von dem wir lernen wollen, unserer Natur gemäß sei. So hat z. B. Calderon, so groß er ist und so sehr ich ihn bewundere, auf mich gar keinen Einfluß gehabt, weder im Guten noch im Schlimmen. Schillern aber wäre er gefährlich gewesen, er wäre an ihm irre geworden, und es ist daher ein Glück, daß Calderon erst nach seinem Tode in Deutschland in allgemeine Aufnahme gekommen. Calderon ist unendlich groß im Technischen und Theatralischen; Schiller dagegen weit tüchtiger, ernster und größer im Wollen, und es wäre daher schade gewesen, von solchen Tugenden vielleicht etwas einzubüßen, ohne doch die Größe Calderons in anderer Hinsicht zu erreichen.«


Wir kamen auf Moliere. »Moliere«, sagte Goethe, »ist so groß, daß man immer von neuem erstaunt, wenn man ihn wieder liest. Er ist ein Mann für sich, seine Stücke grenzen ans Tragische, sie sind apprehensiv, und niemand hat den Mut, es ihm nachzutun. Sein "Geiziger", wo das Laster zwischen Vater und Sohn alle Pietät aufhebt, ist besonders groß und im hohen Sinne tragisch. Wenn man aber in einer deutschen Bearbeitung aus dem Sohn einen Verwandten macht, so wird es schwach und will nicht viel mehr heißen. Man fürchtet, das Laster in seiner wahren Natur erscheinen zu sehen; allein was wird es da, und was ist denn überhaupt tragisch wirksam als das Unerträgliche.


Ich lese von Moliere alle Jahr einige Stücke, so wie ich auch von Zeit zu Zeit die Kupfer nach den großen italienischen Meistern betrachte. Denn wir kleinen Menschen sind nicht fähig, die Größe solcher Dinge in uns zu bewahren, und wir müssen daher von Zeit zu Zeit immer dahin zurückkehren, um solche Eindrücke in uns anzufrischen.


Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! So wie wir geboren werden, fängt die Welt an, auf uns zu wirken, und das geht so fort bis ans Ende. Und überhaupt, was können wir denn unser Eigenes nennen als die Energie, die Kraft, das Wollen! Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.


Hiebei aber ist es keineswegs gleichgültig, in welcher Epoche unseres Lebens der Einfluß einer fremden bedeutenden Persönlichkeit stattfindet.


Daß Lessing, Winckelmann und Kant älter waren als ich, und die beiden ersteren auf meine Jugend, der letztere auf mein Alter wirkte, war für mich von großer Bedeutung.Ferner: daß Schiller so viel jünger war und im frischesten Streben begriffen, da ich an der Welt müde zu werden begann; in gleichen, daß die Gebrüder von Humboldt und Schlegel unter meinen Augen aufzutreten anfingen, war von der größten Wichtigkeit. Es sind mir daher unnennbare Vorteile entstanden.«


Nach solchen Äußerungen über die Einflüsse bedeutender Personen auf ihn kam das Gespräch auf die Wirkungen, die er auf andere gehabt, und ich erwähnte Bürger, bei welchem es mir problematisch erscheine, daß bei ihm, als einem reinen Naturtalent, gar keine Spur einer Einwirkung von Goethes Seite wahrzunehmen.


»Bürger«, sagte Goethe, »hatte zu mir wohl eine Verwandtschaft als Talent, allein der Baum seiner sittlichen Kultur wurzelte in einem ganz anderen Boden und hatte eine ganz andere Richtung. Und  jeder geht in der aufsteigenden Linie seiner Ausbildung fort, so wie er angefangen. Ein Mann aber, der in seinem dreißigsten Jahre ein Gedicht wie die "Frau Schnips" schreiben konnte, mußte wohl in einer Bahn gehen, die von der meinigen ein wenig ablag. Auch hatte er durch sein bedeutendes Talent sich ein Publikum gewonnen, dem er völlig genügte ,und er hatte daher keine Ursache, sich nach den Eigenschaften eines Mitstrebenden umzutun, der ihn weiter nichts anging.


Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »lernt man nur von dem den man liebt. Solche Gesinnungen finden sich nun wohl gegen mich bei jetzt heranwachsenden jungen Talenten, allein ich fand sie sehr spärlich unter Gleichzeitigen. Ja ich wüßte kaum einen einzigen Mann von Bedeutung zu nennen, dem ich durchaus recht gewesen wäre. Gleich an meinem "Werther" tadelten sie so viel, daß, wenn ich jede gescholtene Stelle hätte tilgen wollen, von dem ganzen Buche keine Zeile geblieben wäre. Allein aller Tadel schadete mir nichts, denn solche subjektive Urteile einzelner obgleich bedeutender Männer stellten sich durch die Masse wieder ins Gleiche. Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben.


Nun streitet sich das Publikum seit zwanzig Jahren, wer größer sei: Schiller oder ich, und sie sollten sich freuen, daß überhaupt ein paar Kerle da sind, worüber sie streiten können.«



Sonnabend, den 11.  [Mittwoch, den 1.] Juni 1825


Goethe sprach heute bei Tisch sehr viel von dem Buche des Major Parry über Lord Byron. Er lobte es durchaus und bemerkte, daß Lord Byron in dieser Darstellung weit vollkommener und weit klarer über sich und seine Vorsätze erscheine als in allem, was bisher über ihn geschrieben worden.


»Der Major Parry«, fuhr Goethe fort, »muß gleichfalls ein sehr bedeutender, ja ein hoher Mensch sein, daß er seinen Freund so rein hat auffassen und so vollkommen hat darstellen können. Eine Äußerung seines Buches ist mir besonders lieb und erwünscht gewesen, sie ist eines alten Griechen, eines Plutarch würdig. "Dem edlen Lord", sagt Parry, fehlten alle jene Tugenden, die den Bürgerstand zieren und welche sich anzueignen er durch Geburt, durch Erziehung und Lebensweise gehindert war. Nun sind aber seine ungünstigen Beurteiler sämtlich aus der Mittelklasse, die denn freilich tadelnd bedauern, dasjenige an ihm zu vermissen, was sie an sich selber zu schätzen Ursache haben. Die wackern Leute bedenken nicht, daß er an seiner hohen Stelle Verdienste besaß, von denen sie sich keinen Begriff machen können. "Nun, wie gefällt Ihnen das?« sagte Goethe; »nicht wahr, so etwas hört man nicht alle Tage ?«


»Ich freue mich,« sagte ich, »eine Ansicht öffentlich ausgesprochen zu wissen, wodurch alle kleinlichen Tadler und Herunterzieher eines höher stehenden Menschen ein für allemal durchaus gelähmt und geschlagen worden.«


Wir sprachen darauf über welthistorische Gegenstände in bezug auf die Poesie, und zwar inwiefern die Geschichte des einen Volkes für den Dichter günstiger sein könne als die eines andern.


»Der Poet«, sagte Goethe, »soll das Besondere ergreifen, und der wird, wenn dieses nur etwas Gesundes ist, darin ein Allgemeines darstellen. Die englische Geschichte ist vortrefflich zu poetischer Darstellung, weil sie etwas Tüchtiges, Gesundes und daher Allgemeines ist, das sich wiederholt. Die französische Geschichte dagegen ist nicht für die Poesie, denn sie stellt eine Lebensepoche dar, die nicht wiederkommt. Die Literatur dieses Volkes, insofern sie auf jener Epoche gegründet ist, steht daher als ein Besonderes da, das mit der Zeit veralten wird.Die jetzige Epoche der französischen Literatur«, sagte Goethe später, »ist gar nicht zu beurteilen. Das eindringende Deutsche bringt darin eine große Gärung hervor, und erst nach zwanzig Jahren wird man sehen, was dies für ein Resultat gibt.«


Wir sprachen darauf über Ästhetiker, welche das Wesen der Poesie und des Dichters durch abstrakte Definitionen auszudrücken sich abmühen, ohne jedoch zu einem klaren Resultat zu kommen.

»Was ist da viel zu definieren!« sagte Goethe. »Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Poeten.«




Mittwoch, den 15. [12.] Oktober 1825


Ich fand Goethe diesen Abend in besonders hoher Stimmung und hatte die Freude, aus seinem Munde abermals manches Bedeutende zu hören. Wir sprachen über den Zustand der neuesten Literatur, wo denn Goethe sich folgendermaßen äußerte:»Mangel an Charakter der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen«, sagte er, »ist die Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur.


Besonders in der Kritik zeigt dieser Mangel sich zum Nachteile der Welt, indem er entweder Falsches für Wahres verbreitet oder durch ein ärmliches Wahres uns um etwas Großes bringt, das uns besser wäre.


Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lucretia, eines Mucius Scävola und ließ sich dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fiktionen und Fabeln anzusehen sind, die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit! Und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben.


So hatte ich bisher immer meine Freude an einem großen Faktum des dreizehnten Jahrhunderts, wo Kaiser Friedrich der Zweite mit dem Papste zu tun hatte und das nördliche Deutschland allen feindlichen Einfällen offen stand. Asiatische Horden kamen auch wirklich herein und waren schon bis Schlesien vorgedrungen; aber der Herzog von Liegnitz setzte sie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten sie sich nach Mähren, aber hier wurden sie vom Grafen Sternberg geschlagen. Diese Tapfern lebten daher bis jetzt immer in mir als große Retter der deutschen Nation. Nun aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Helden sich ganz unnütz aufgeopfert hätten, indem das asiatische Heer bereits zurückgerufen gewesen und von selbst zurückgegangen sein würde. Dadurch ist nun ein großes vaterländisches Faktum gelähmt und zernichtet, und es wird einem ganz abscheulich zumute.«Nach diesen Äußerungen über historische Kritiker sprach Goethe über Forscher und Literatoren anderer Art.


»Ich hätte die Erbärmlichkeit der Menschen und wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu tun ist, nie so kennengelernt,« sagte er, »wenn ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht hätte. Da aber sah ich, daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben.


Und in der schönen Literatur ist es nicht besser. Auch dort sind große Zwecke und echter Sinn für das Wahre und Tüchtige und dessen Verbreitung sehr seltene Erscheinungen. Einer hegt und trägt den andern, weil er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das wahrhaft Große ist ihnen widerwärtig, und sie möchten es gerne aus der Welt schaffen, damit sie selber nur etwas zu bedeuten hätten. So ist die Masse, und einzelne Hervorragende sind nicht viel besser.


Böttiger hätte bei seinem großen Talent, bei seiner weltumfassenden Gelehrsamkeit der Nation viel sein können. Aber so hat seine Charakterlosigkeit die Nation um außerordentliche Wirkungen und ihn selbst um die Achtung der Nation gebracht, ein Mann wie Lessing täte uns not. Denn wodurch ist dieser so groß als durch seinen Charakter, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen gibt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter!Viele sind geistreich genug und voller Kenntnisse, allein sie sind zugleich voller Eitelkeit, und um sich von der kurzsichtigen Masse als witzige Köpfe bewundern zu lassen, haben sie keine Scham und Scheu und ist ihnen nichts heilig.


Die Frau von Genlis hat daher vollkommen recht, wenn sie sich gegen die Freiheiten und Frechheiten von Voltaire auflegte. Denn im Grunde, so geistreich alles sein mag, ist der Welt doch nichts damit gedient; es läßt sich nichts darauf gründen. Ja es kann sogar von der größten Schädlichkeit sein, indem es die Menschen verwirrt und ihnen den nötigen Halt nimmt.Und dann! Was wissen wir denn, und wie weit reichen wir denn mit all unserm Witze!

Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich so dann an der Grenze des Begreiflichen zu halten. Die Handlungen des Universums zu messen, reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkt ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge.

Sobald wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, ist es um die Allwissenheit Gottes getan; denn sobald die Gottheit weiß, was ich tun werde, bin ich gezwungen zu handeln, wie sie es weiß. 


Dieses führe ich nur an als ein Zeichen, wie wenig wir wissen, und daß an göttlichen Geheimnissen nicht gut zu rühren ist. Auch sollen wir höhere Maximen nur aussprechen, insofern sie der Welt zugute kommen; andere sollen wir bei uns behalten, aber sie mögen und werden auf das, was wir tun, wie der milde Schein einer verborgenen Sonne ihren Glanz breiten.«




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