> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 15.07.- 21.07.1827 (30)

2014-11-21

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 15.07.- 21.07.1827 (30)




Sonntag, den 15. Juli 1827


Ich ging diesen Abend nach acht Uhr zu Goethe, den ich soeben aus seinem Garten zurückgekehrt fand. »Sehen Sie nur, was da liegt!« sagte er; »ein Roman in drei Bänden, und zwar von wem ? von Manzoni!« Ich betrachtete die Bücher, die sehr schön eingebunden waren und eine Inschrift an Goethe enthielten. »Manzoni ist fleißig«, sagte ich. - »Ja, das regt sich«, sagte Goethe. - »Ich kenne nichts von Manzoni,« sagte ich,»als seine Ode auf Napoleon, die ich dieser Tage in Ihrer Übersetzung abermals gelesen und im hohen Grade bewundert habe. Jede Strophe ist ein Bild!« - »Sie haben recht,« sagte Goethe, »die Ode ist vortrefflich. Aber finden Sie, daß in Deutschland einer davon redet ? Es ist so gut, als ob sie gar nicht da wäre, und doch ist sie das beste Gedicht, was über diesen Gegenstand gemacht worden.«


Goethe fuhr fort, die englischen Zeitungen zu lesen, in welcher Beschäftigung ich ihn beim Hereintreten gefunden. Ich nahm einen Band von Carlyles Übersetzung deutscher Romane in die Hände, und zwar den Teil, welcher Musäus und Fouque enthielt. Der mit unserer Literatur sehr vertraute Engländer hatte den übersetzten Werken selbst immer eine Einleitung, das Leben und eine Kritik des Dichters enthaltend, vorangehen lassen. Ich las die Einleitung zu Fouque und konnte zu meiner Freude die Bemerkung machen, daß das Leben mit Geist und vieler Gründlichkeit geschrieben und der kritische Standpunkt, aus welchem dieser beliebte Schriftsteller zu betrachten, mit großem Verstand und vieler ruhiger, milder Hinsicht in poetische Verdienste bezeichnet war. Bald vergleicht der geistreiche Engländer unsern Fouque mit der Stimme eines Sängers, die zwar keinen großen Umfang habe und nur wenige Töne enthalte, aber die wenigen gut und vom schönsten Wohlklange. Dann, um seine Meinung ferner auszudrücken, nimmt er ein Gleichnis aus kirchlichen Verhältnissen her, indem er sagt, daß Fouque an der poetischen Kirche zwar nicht die Stelle eines Bischofs oder eines ändern Geistlichen vom ersten Range bekleide, vielmehr mit den Funktionen eines Kaplans sich begnüge, in diesem mittleren Amte aber sich sehr wohl ausnehme.


Während ich dieses gelesen, hatte Goethe sich in seine hinteren Zimmer zurückgezogen. Er sendete mir seinen Bedienten mit der Einladung, ein wenig nachzukommen, welches ich tat.»Setzen Sie sich noch ein wenig zu mir,« sagte er, »daß wir noch einige Worte miteinander reden. Da ist auch eine Übersetzung des Sophokles angekommen, sie lieset sich gut und scheint sehr brav zu sein; ich will sie doch einmal mit Solger vergleichen. Nun, was sagen Sie zu Carlyle ?«Ich erzählte ihm, was ich über Fouque gelesen. »Ist das nicht sehr artig?« sagte Goethe; »ja, überm Meere gibt es auch gescheite Leute, die uns kennen und zu würdigen wissen.


Indessen«, fuhr Goethe fort, »fehlt es in anderen Fächern uns Deutschen auch nicht an guten Köpfen. Ich habe in den "Berliner Jahrbüchern" die Rezension eines Historikers über Schlosser gelesen, die sehr groß ist. Sie ist Heinrich Leo unterschrieben, von welchem ich noch nichts gehört habe und nach welchem wir uns doch erkundigen müssen. Er steht höher als die Franzosen, welches in geschichtlicher Hinsicht doch etwas heißen will. Jene haften zu sehr am Realen und können das Ideelle nicht zu Kopf bringen, dieses aber besitzt der Deutsch ein ganzer Freiheit. Über das indische Kastenwesen hat er die trefflichsten Ansichten. Man spricht immer viel von Aristokratie und Demokratie, die Sache ist ganz einfach diese: In der Jugend, wo wir nichts besitzen oder doch den ruhigen Besitz nicht zu schätzen wissen, sind wir Demokraten; sind wir aber in einem langen Leben zu Eigentum gekommen, so wünschen wir dieses nicht allein gesichert, sondern wir wünschen auch, daß unsere Kinder und Enkel das Erworbene ruhig genießen mögen. Deshalb sind wir im Alter immer Aristokraten ohne Ausnahme, wenn wir auch in der Jugend uns zu anderen Gesinnungen hinneigten. Leo spricht über diesen Punkt mit großem Geiste.


Im ästhetischen Fach sieht es freilich bei uns am schwächsten aus, und wir können lange warten, bis wir auf einen Mann wie Carlyle stoßen. Es ist aber sehr artig, daß wir jetzt, bei dem engen Verkehr zwischen Franzosen, Engländern und Deutschen, in den Fall kommen, uns einander zu korrigieren. Das ist der große Nutzen, der bei einer Weltliteratur herauskommt und der sich immer mehr zeigen wird. Carlyle hat das Leben von Schiller geschrieben und ihn überhaupt so beurteilt, wie ihn nicht leicht ein Deutscher beurteilen wird. Dagegen sind wir über Shakespeare und Byron im klaren und wissen deren Verdienste vielleicht besser zu schätzen als die Engländer selber.«


Mittwoch, den 18. Juli 1827


»Ich habe Ihnen zu verkündigen,« war heute Goethes erstes Wort bei Tisch, »daß Manzonis Roman alles überflügelt, was wir in dieser Art kennen. Ich brauche Ihnen nichts weiter zusagen, als daß das Innere, alles was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus vollkommen ist, und daß das Äußere, alle Zeichnung von Lokalitäten und dergleichen gegen die großen inneren Eigenschaften um kein Haar zurücksteht. Das will etwas heißen.« Ich war verwundert und erfreut, dieses zuhören. »Der Eindruck beim Lesen«, fuhr Goethe fort, »ist der Art, daß man immer von der Rührung in die Bewunderung fällt und von der Bewunderung wieder in die Rührung, so daß man aus einer von diesen beiden großen Wirkungen gar nicht herauskommt. Ich dächte, höher könnte man es nicht treiben. In diesem Roman sieht man erst recht, was Manzoni ist. Hier kommt sein vollendetes Innere zum Vorschein, welches er beseinen dramatischen Sachen zu entwickeln keine Gelegenheit hatte. Ich will nun gleich hinterher den besten Roman von Walter Scott lesen, etwa den "Waverley", den ich noch nicht kenne, und ich werde sehen, wie Manzoni sich gegen diesen großen englischen Schriftsteller ausnehmen wird. Manzonis innere Bildung erscheint hier auf einer solchen Höhe, daß ihm schwerlich etwas gleichkommen kann; sie beglückt uns als eine durchaus reife Frucht. Und eine Klarheit in der Behandlung und Darstellung des einzelnen, wie der italienische Himmel selber.« - »Sind auch Spuren von Sentimentalität in ihm?« fragte ich. - »Durchaus nicht«, antwortete Goethe.»Er hat Sentiment, aber er ist ohne alle Sentimentalität; die Zustände sind männlich und rein empfunden. Ich will heute nichts weiter sagen, ich bin noch im ersten Bande, bald aber sollen Sie mehr hören.«


Sonnabend, den 2 1. Juli 1827


Als ich diesen Abend zu Goethe ins Zimmer trat, fand ich ihn im Lesen von Manzonis Roman. »Ich bin schon im dritten Bande,« sagte er, indem er das Buch an die Seite legte, »und komme dabei zu vielen neuen Gedanken. Sie wissen, Aristoteles sagt vom Trauerspiele, es müsse Furcht erregen, wenn es gut sein solle. Es gilt dieses jedoch nicht bloß von der Tragödie, sondern auch von mancher anderen Dichtung. Sie finden es in meinem "Gott und die Bajadere", Sie finden es in jedem guten Lustspiele, und zwar bei der Verwickelung, ja Sie finden es sogar in den "Sieben Mädchen in Uniform", indem wir doch immer nicht wissen können, wie der Spaß für die guten Dinger abläuft. Diese Furcht nun kann doppelter Art sein: sie kann bestehen in Angst, oder sie kann auch bestehen in Bangigkeit. Diese letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moralisches Übel auf die handelnden Personen heranrücken und sich über sie verbreiten sehen, wie z. B. in den "Wahlverwandtschaften". Die Angst aber entsteht im Leser oder Zuschauer, wenn die handelnden Personen von einer physischen Gefahr bedroht werden, z. B. in den "Galeerensklaven" und im "Freischütz"; ja in der Szene der Wolfsschlucht bleibt es nicht einmal bei der Angst, sondern es erfolgt eine totale Vernichtung in allen, die es sehen.


Von dieser Angst nun macht Manzoni Gebrauch, und zwar mit wunderbarem Glück, indem er sie in Rührung auflöset und uns durch diese Empfindung zur Bewunderung führt. Das Gefühl der Angst ist stoffartig und wird in jedem Leser entstehen; die Bewunderung aber entspringt aus der Einsicht, wie vortrefflich der Autor sich in jedem Falle benahm, und nur der Kenner wird mit dieser Empfindung beglückt werden. Was sagen Sie zu dieser Ästhetik? Wäre ich jünger, so würde ich nach dieser Theorie etwas schreiben, wenn auch nicht ein Werk von solchem Umfange wie dieses von Manzoni.


Ich bin nun wirklich sehr begierig, was die Herren vom "Globe" zu diesem Roman sagen werden; sie sind gescheit genug, um das Vortreffliche daran zu erkennen; auch ist die ganze Tendenz des Werkes ein rechtes Wasser auf die Mühle dieser Liberalen, wiewohl sich Manzoni sehr mäßig gehalten hat. Doch nehmen die Franzosen selten ein Werk mit so reiner Neigung auf wie wir; sie bequemen sich nicht gerne zu dem Standpunkte des Autors, sondern sie finden, selbst bei dem Besten, immer leicht etwas, das nicht nach ihrem Sinne ist und das der Autor hätte sollen anders machen.«


Goethe erzählte mir sodann einige Stellen des Romans, um mir eine Probe zu geben, mit welchem Geiste er geschrieben.»Es kommen«, fuhr er sodann fort, »Manzoni vorzüglich vier Dinge zustatten, die zu der großen Vortrefflichkeit seines Werkes beigetragen. Zunächst, daß er ein ausgezeichneter Historiker ist, wodurch denn seine Dichtung die große Würde und Tüchtigkeit bekommen hat, die sie über alles dasjenige weit hinaushebt, was man gewöhnlich sich unter Roman vorstellt. Zweitens ist ihm die katholische Religion vorteilhaft, aus der viele Verhältnisse poetischer Art hervorgehen, die er als Protestant nicht gehabt haben würde. So wie es drittens seinem Werke zugute kommt, daß der Autor in revolutionären Reibungen viel gelitten, die, wenn er auch persönlich nicht darin verflochten gewesen, doch seine Freunde getroffen und teils zugrunde gerichtet haben. Und endlich viertens ist es diesem Romane günstig, daß die Handlung in der reizenden Gegend am Comer See vorgeht, deren Eindrücke sich dem Dichter von Jugend auf eingeprägt haben und die er also in-und auswendig kennet. Daher entspringt nun auch ein großes Hauptverdienst des Werkes, nämlich die Deutlichkeit und das bewundernswürdige Detail in Zeichnung der Lokalität.«

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