> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 03.01.- 12.01.1827 (21)

2014-11-16

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil: 03.01.- 12.01.1827 (21)




1827


Mittwoch, den 3. Januar 1827


Heute bei Tisch sprachen wir über Cannings treffliche Rede für Portugal.


»Es gibt Leute,« sagte Goethe, »die diese Rede grob nennen; aber diese Leute wissen nicht, was sie wollen, es liegt in ihnen eine Sucht, alles Große zu frondieren. Es ist keine Opposition, sondern eine bloße Frondation. Sie müssen etwas Großes haben, das sie hassen können. Als Napoleon noch in der Welt war, haßten sie den, und sie hatten an ihm eine gute Ableitung. Sodann als es mit diesem aus war, frondierten sie die Heilige Allianz, und doch ist nie etwas Größeres und für die Menschheit Wohltätigeres erfunden worden. Jetzt kommt die Reihe an Canning. Seine Rede für Portugal ist das Produkt eines großen Bewußtseins. Er fühlt sehr gut den Umfang seiner Gewalt und die Größe seiner Stellung, und er hat recht, daß er spricht, wie er sich empfindet. Aber das können diese Sanscülotten nicht begreifen, und was uns andern groß erscheint, erscheint ihnen grob. Das Große ist ihnen unbequem, sie haben keine Ader, es zu verehren, sie können es nicht dulden.«

Donnerstag abend, den 4. Januar 1827


Goethe lobte sehr die Gedichte von Victor Hugo. »Er ist ein entschiedenes Talent,« sagte er, »auf den die deutsche Literatur Einfluß gehabt. Seine poetische Jugend ist ihm leider durch die Pedanterie der klassischen Partei verkümmert; doch jetzt hat er den "Globe" auf seiner Seite, und so hat er gewonnen Spiel. Ich möchte ihn mit Manzoni vergleichen. Er hat viel Objektives und erscheint mir vollkommen so bedeutend als die Herren de Lamartine und Delavigne. Wenn ich ihn recht betrachte, so sehe ich wohl, wo er und andere frische Talente seinesgleichen herkommen. Von Chateaubriand kommen sie her, der freilich ein sehr bedeutendes rhetorisch-poetisches Talent ist. Damit Sie nun aber sehen, in welcher Art Victor Hugo schreibt, so lesen Sie nur dies Gedicht über Napoleon: "Les deux isles".«


Goethe legte mir das Buch vor und stellte sich an den Ofen. Ich las. »Hat er nicht treffliche Bilder?« sagte Goethe, »und hat er seinen Gegenstand nicht mit sehr freiem Geiste behandelt?« Er trat wieder zu mir. »Sehen Sie nur diese Stelle, wie schön sie ist!« Er las die Stelle von der Wetterwolke, aus der den Helden der Blitz von unten hinauf trifft. »Das ist schön! Denn das Bild ist wahr, welches man in Gebirgen finden wird, wo man oft die Gewitter unter sich hat und wo die Blitze von unten nach oben schlagen.«


»Ich lobe an den Franzosen,« sagte ich, »daß ihre Poesie nie den festen Boden der Realität verläßt. Man kann die Gedicht ein Prosa übersetzen und ihr Wesentliches wird bleiben.«»Das kommt daher,« sagte Goethe, »die französischen Dichter haben Kenntnisse; dagegen denken die deutschen Narren, sie verlören ihr Talent, wenn sie sich um Kenntnisse bemühten, obgleich jedes Talent sich durch Kenntnisse nähren muß und nur dadurch erst zum Gebrauch seiner Kräfte gelangt. Doch wir wollen sie gehen lassen, man hilft ihnen doch nicht, und das wahrhafte Talent findet schon seinen Weg. Die vielen jungen Dichter, die jetzt ihr Wesen treiben, sind gar keine rechten Talente; sie beurkunden weiter nichts als ein Unvermögen, das durch die Höhe der deutschen Literatur zur Produktivität angereizt worden.


Daß die Franzosen«, fuhr Goethe fort, »aus der Pedanterie zu einer freieren Art in der Poesie hervorgehen, ist nicht zu verwundern. Diderot und ihm ähnliche Geister haben schon vor der Revolution diese Bahn zu brechen gesucht. Die Revolution selbst sodann sowie die Zeit unter Napoleon sind der Sache günstig gewesen. Denn wenn auch die kriegerischen Jahre kein eigentlich poetisches Interesse aufkommen ließen und also für den Augenblick den Musen zuwider waren, so haben sich doch in dieser Zeit eine Menge freier Geister gebildet, die nun im Frieden zur Besinnung kommen und als bedeutende Talente hervortreten.«


Ich fragte Goethe, ob die Partei der Klassiker auch dem trefflichen Beranger entgegen gewesen. »Das Genre, worin Beranger dichtet,« sagte Goethe, »ist ein älteres, herkömmliches, woran man gewöhnt war; doch hat auch er sich in manchen Dingen freier bewegt als seine Vorgänger und ist deshalb von der pedantischen Partei angefeindet worden.«


Das Gespräch lenkte sich auf die Malerei und auf den Schaden der altertümelnden Schule. »Sie prätendieren, kein Kenner zu sein,« sagte Goethe, »und doch will ich Ihnen ein Bild vorlegen, an welchem Ihnen, obgleich es von einem unserer besten jetzt lebenden deutschen Maler gemacht worden, den noch die bedeutendsten Verstöße gegen die ersten Gesetze der Kunst sogleich in die Augen fallen sollen. Sie werden sehen,«Das Einzelne ist hübsch gemacht, aber es wird Ihnen bei dem Ganzen nicht wohl werden, und Sie werden nicht wissen, was Sie daraus machen sollen. Und zwar dieses nicht, weil der Meister des Bildes kein hinreichendes Talent ist, sondern weil sein Geist, der das Talent leiten soll, ebenso verfinstert ist wie die Köpfe der übrigen altertümelnden Maler, so daß er die vollkommenen Meister ignoriert und zu den unvollkommenen Vorgängern zurückgeht und diese zum Muster nimmt.


Raffael und seine Zeitgenossen waren aus einer beschränkten Manier zur Natur und Freiheit durchgebrochen. Und statt daß jetzige Künstler Gott danken und diese Avantagen benutzen und auf dem trefflichen Wege fortgehen sollten, kehren sie wieder zur Beschränktheit zurück. Es ist zu arg, und man kann diese Verfinsterung der Köpfe kaum begreifen. Und weil sie nun auf diesem Wege in der Kunst selbst keine Stütze haben, so suchen sie solche in der Religion und Partei; denn ohne beides würden sie in ihrer Schwäche gar nicht bestehen können.


Es geht«, fuhr Goethe fort, »durch die ganze Kunst eine Filialion. Sieht man einen großen Meister, so findet man immer, daß er das Gute seiner Vorgänger benutzte und daß eben dieses ihn groß machte. Männer wie Raffael wachsen nicht aus dem Boden. Sie fußten auf der Antike und dem Besten, was vor ihnen gemacht worden. Hätten sie die Avantagen ihrer Zeit nicht benutzt, so würde wenig von ihnen zu sagen sein.«


Das Gespräch lenkte sich auf die altdeutsche Poesie; ich erinnerte an Fleming. »Fleming«, sagte Goethe, »ist ein recht hübsches Talent, ein wenig prosaisch, bürgerlich; er kann jetzt nichts mehr helfen. Es ist eigen,« fuhr er fort, »ich habe doch so mancherlei gemacht, und doch ist keins von allen meinen Gedichten, das im lutherischen Gesangbuch stehen könnte.« Ich lachte und gab ihm recht, indem ich mir sagte, daß in dieser wunderlichen Äußerung mehr liege, als es den Anschein habe.

Sonntag abend, den 12. [14.] Januar 1827


Ich fand eine musikalische Abendunterhaltung bei Goethe, die ihm von der Familie Eberwein nebst einigen Mitgliedern des Orchesters gewährt wurde. Unter den wenigen Zuhörern waren: der Generalsuperintendent Röhr, Hofrat Vogel und einige Damen. Goethe hatte gewünscht, das Quartett eines berühmten jungen Komponisten zu hören, welches man zunächst ausführte. Der zwölfjährige Karl Eberwein spielte den Flügel zu Goethes großer Zufriedenheit, und in der Tat trefflich, so daß denn das Quartett in jeder Hinsicht gut exekutiert vorüberging.


»Es ist wunderlich,« sagte Goethe, »wohin die aufs höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Komponisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen. Wie ist es Ihnen? Mir bleibt alles in den Ohren hängen.« Ich sagte, daß es mir in diesem Falle nicht besser gehe. »Doch das Allegro«, fuhr Goethe fort, »hatte Charakter. Dieses ewige Wirbeln und Drehen führte mir die Hexentänze des Blockbergs vor Augen, und ich fand also doch eine Anschauung, die ich der wunderlichen Musik supponieren konnte.«


Nach einer Pause, während welcher man sich unterhielt und einige Erfrischungen nahm, ersuchte Goethe Madame Eberwein um den Vortrag einiger Lieder. Sie sang zunächst nach Zelters Komposition das schöne Lied "Um Mitternacht", welches den tiefsten Eindruck machte. »Das Lied bleibt schön,« sagte Goethe, »sooft man es auch hört. Es hat in der Melodie etwas Ewiges, Unverwüstliches.« Hierauf folgten einige Lieder aus der "Fischerin" von Max Eberwein komponiert. Der "Erlkönig" erhielt entschiedenen Beifall; so dann die Arie "Ich hab’s gesagt der guten Mutter" erregte die allgemeine Äußerung: diese Komposition erscheine so gut getroffen, daß niemand sie sich anders denken könne. Goethe selbst war im hohen Grade befriedigt.


Zum Schluß des schönen Abends sang Madame Eberwein auf Goethes Wunsch einige Lieder des "Divans" nach den bekannten Kompositionen ihres Gatten. Die Stelle: "Jussufs Reize möcht ich borgen" gefiel Goethen ganz besonders. »Eberwein«, sagte er zu mir, »übertrifft sich mitunter selber.« Er bat sodann noch um das Lied "Ach, um deine feuchten Schwingern", welches gleichfalls die tiefsten Empfindungen anzuregen geeignet war.


Nachdem die Gesellschaft gegangen, blieb ich noch einige Augenblicke mit Goethe allein. »Ich habe«, sagte er, »diesen Abend die Bemerkung gemacht, daß diese Lieder des "Divans" gar kein Verhältnis mehr zu mir haben. Sowohl was darin orientalisch als was darin leidenschaftlich ist, hat aufgehört in mir fortzuleben; es ist wie eine abgestreifte Schlangenhaut am Wege liegengeblieben. Dagegen das Lied "Um Mitternacht" hat sein Verhältnis zu mir nicht verloren, es ist von mir noch ein lebendiger Teil und lebt mit mir fort.


Es geht mir übrigens öfter mit meinen Sachen so, daß sie mir gänzlich fremd werden. Ich las dieser Tage etwas Französisches und dachte im Lesen: der Mann spricht gescheit genug, du würdest es selbst nicht anders sagen. Und als ich es genau besehe, ist es eine übersetzte Stelle aus meinen eigenen Schriften.«

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