Eckermann: Gespräche mit Goethe: 1.Teil- Einleitung (4)
Der Mangel an freier Luft und Bewegung, sowie die fehlende Zeit und Ruhe zum Essen, Trinken und Schlaf, erzeugten nach und nach einen krankhaften Zustand; ich fühlte mich abgestumpft an Leib und Seele und sah mich zuletzt in der dringenden Notwendigkeit, entweder die Schule aufzugeben oder meine Stelle. Da aber das letztere meiner Existenz wegen nicht anging, so blieb kein anderer Ausweg, als das erstere zu tun, und ich trat mit dem beginnenden Frühling 1817 wieder aus. Es schien zu dem besonderen Geschick meines Lebens zu gehören, mancherlei zu probieren, und so gereute es mich denn keineswegs, auch eine gelehrte Schule eine Zeit lang probiert zu haben.
Ich hatte indes einen guten Schritt vorwärts getan, und da ich die Universität nach wie vor im Auge behielt, so blieb nun weiter nichts übrig, als den Privatunterricht fortzusetzen , welches denn auch mit aller Lust und Liebe geschah. Nach der überstandenen Last des Winters verlebte ich einen desto heiteren Frühling und Sommer; ich war viel in der freien Natur, die dieses Jahr mit besonderer Innigkeit zu meinem Herzen sprach, und es entstanden viele Gedichte, wobei besonders die jugendlichen Lieder von Goethe mir als hohe Muster vor Augen schwebten.
Mit eintretendem Winter fing ich an ernstlich darauf zu denken, wie ich es möglich mache, wenigstens binnen Jahresfrist die Universität zu beziehen. In der lateinischen Sprache war ich so weit vorgeschritten, daß es mir gelang, von den Oden des Horaz, von den Hirtengedichten des Virgil, sowie von den Metamorphosen des Ovid einige mich besonders ansprechende Stücke metrisch zu übersetzen, sowie die Reden des Cicero und die Kriegsgeschichten des Julius Cäsar mit einiger Leichtigkeit zu lesen. Hiemit konnte ich mich zwar noch keineswegs als für akademische Studien gehörig vorbereitet betrachten, allein ich dachte innerhalb eines Jahres noch sehr weit zu kommen und so dann das Fehlende auf der Universität selber nachzuholen.
Unter den höheren Personen der Residenz hatte ich mir manchen Gönner erworben; sie versprachen mir ihre Mitwirkung, jedoch unter der Bedingung, daß ich mich entschließen wolle, ein sogenanntes Brotstudium zu wählen. Da aber dergleichen nicht in der Richtung meiner Natur lag, und da ich in der festen Überzeugung lebte, daß der Mensch nur dasjenige kultivieren müsse, wohin ein unausgesetzter Drang seines Innern gehe, so blieb ich bei meinem Sinn, und jene versagten mir ihre Hülfe, indem endlich nichts weiter erfolgen sollte als ein Freitisch.
Es blieb nun nichts übrig, als meinen Plan durch eigene Kräfte durchzusetzen und mich zu einer literarischen Produktion von einiger Bedeutung zusammenzunehmen. Müllners "SchuId" und Grillparzers "Ahnfrau" waren zu dieser Zeit an der Tagesordnung und machten viel Aufsehen. Meinem Naturgefühl waren diese künstlichen Werke zuwider, noch weniger konnte ich mich mit ihren Schicksalsideen befreunden, von denen ich der Meinung war, daß daraus eine unsittliche Wirkung auf das Volk hervorgehe. Ich faßte daher den Entschluß, gegen sie aufzutreten und darzutun, daß das Schicksal in den Charakteren ruhe. Aber ich wollte nicht mit Worten gegen sie streiten, sondern mit der Tat. Ein Stück sollte erscheinen, welches die Wahrheit ausspreche, daß der Mensch in der Gegenwart Samen streue, der in der Zukunft aufgehe und Früchte bringe, gute oder böse, je nachdem er gesäet habe. Mit der Weltgeschichte unbekannt, blieb mir weiter nichts übrig, als die Charaktere und den Gang der Handlung zu erfinden. Ich trug es wohl ein Jahr mit mir herum und bildete mir die einzelnen Szenen und Akte bis ins einzelne aus und schrieb es endlich im Winter 1820 in den Morgenstunden einiger Wochen. Ich genoß dabei das höchste Glück, denn ich sah, daß alles sehr leicht und natürlich zutage kam. Allein im Gegensatz mit jenen genannten Dichtern ließ ich das wirkliche Leben mir zu nahe treten, das Theater kam mir nie vor Augen. Daher ward es auch mehr eine ruhige Zeichnung von Situationen, als eine gespannte rasch fortschreitende Handlung, und auch nur poetisch und rhythmisch, wenn Charaktere und Situationen es erforderten. Nebenpersonen gewannen zu viel Raum, das ganze Stück zu viel Breite.
Ich teilte es den nächsten Freunden und Bekannten mit, ward aber nicht verstanden, wie ich es wünschte; man warf mir vor, einige Szenen gehören ins Lustspiel; man warf mir ferner vor, ich habe zu wenig gelesen. Ich, eine bessere Aufnahme erwartend, war anfänglich im stillen beleidigt; doch nach und nach kam ich zu der Überzeugung, daß meine Freunde nicht so ganz unrecht hätten und daß mein Stück, wenn auch die Charaktere richtig gezeichnet und das Ganze wohl durchdacht und mit einer gewissen Besonnenheit und Fazilität so zur Erscheinung gekommen, wie es mir gelegen, doch dem darin entwickelten Leben nach auf einer viel zu niedern Stufe stehe, als daß es sich geeignet hätte, damit öffentlich aufzutreten.
Und dieses war in Erwägung meines Herkommens und meiner wenigen Studien nicht zu verwundern. Ich nahm mir vor, das Stück umzuarbeiten und für das Theater einzurichten, vorher aber in meiner Bildung vorzuschreiten, damit ich fähig sei, alles höher zu stellen. Der Drang nach der Universität, wo ich alles zu erlangen hoffte, was mir fehlte, und wodurch ich auch in höhere Lebensverhältnisse zu kommen gedachte, ward nun zur Leidenschaft. Ich faßte den Entschluß, meine Gedichte herauszugeben, um es dadurch vielleicht zu bewirken. Und da es mir nun an Namen fehlte, um von einem Verleger ein ansehnliches Honorar erwarten zu können, so wählte ich den für meine Lage vorteilhafteren Weg der Subskription.
Diese ward von Freunden eingeleitet und nahm den erwünschtesten Fortgang. Ich trat jetzt bei meinen Obern mit meiner Absicht auf Göttingen wieder hervor und bat um meine Entlassung; und da diese nun die Überzeugung gewannen, daß es mein tiefer Ernst sei und daß ich nicht nachgebe, so begünstigten sie meine Zwecke. Auf Vorstellung meines Chefs, des damaligen Obristen von Berger, gewährte die Kriegskanzlei mir den erbetenen Abschied und ließ mir jährlich 150 Taler von meinem Gehalt zum Behuf meiner Studien auf zwei Jahre.
Ich war nun glücklich in dem Gelingen der jahrelang gehegten Pläne. Die Gedichte ließ ich auf das schnellste drucken und versenden, aus deren Ertrag ich nach Abzug aller Kosten einen reinen Gewinn von 150 Taler behielt. Ich ging darauf im Mai 1821 nach Göttingen, eine teure Geliebte zurücklassend.
Mein erster Versuch, nach der Universität zu gelangen, war daran gescheitert, daß ich hartnäckig jedes sogenannte Brotstudium abgelehnt hatte. Jetzt aber, durch die Erfahrung gewitzigt und der unsäglichen Kämpfe mir noch zu gut bewußt, die ich damals sowohl gegen meine nächste Umgebung als gegen einflußreiche höhere Personen zu bestehen hatte, war ich klug genug gewesen, mich den Ansichten einer übermächtigen Welt zu bequemen und sogleich zu erklären, daß ich ein Brotstudium wählen und mich der Rechtswissenschaft widmen wolle.
Dieses hatten sowohl meine mächtigen Gönner als alle anderen, denen mein irdisches Fortkommen am Herzen lag und die sich von der Gewalt meiner geistigen Bedürfnisse keine Vorstellung machten, sehr vernünftig gefunden. Aller Widerspruch war mit einem Mal abgetan, ich fand überall ein freundliches Entgegenkommen und ein bereitwilliges Befördern meiner Zwecke. Zugleich unterließ man nicht, zu meiner Bestätigung in so guten Vorsätzen anzuführen, daß das juristische Studium keineswegs der Art sei, daß es nicht dem Geiste einen höheren Gewinn gebe. Ich würde, sagte man, dadurch Blicke in bürgerlicheund weltliche Verhältnisse tun, wie ich auf keine andere Weise erreichen könne. Auch wäre dieses Studium keineswegs von solchem Umfang, daß sich nicht sehr viele sogenannte höhere Dinge nebenbei treiben lassen. Man nannte mir verschiedene Namen berühmter Personen, die alle Jura studiert hätten und doch zugleich zu den höchsten Kenntnissen anderer Art gelangt wären.
Hiebei jedoch wurde sowohl von meinen Freunden als von mir übersehen, daß jene Männer nicht allein mit tüchtigen Schulkenntnissen ausgestattet zur Universität kamen, sondern auch eine ungleich längere Zeit, als die gebieterische Not meiner besonderen Umstände es mir erlauben wollte, auf ihre Studien verwenden konnten.
Genug aber, so wie ich andere getäuscht hatte, täuschte ich mich nach und nach selber und bildete mir zuletzt wirklich ein, ich könne in allem Ernst Jura studieren und doch zugleich meine eigentlichen Zwecke erreichen.
In diesem Wahn, etwas zu suchen, was ich gar nicht zu besitzen und anzuwenden wünschte, fing ich sogleich nach meiner Ankunft auf der Universität mit dem Juristischen an. Auch fand ich diese Wissenschaft keineswegs der Art, daß sie mir widerstanden hätte, vielmehr hätte ich, wenn mein Kopf nicht von anderen Vorsätzen und Bestrebungen wäre zu voll gewesen, mich ihr recht gerne ergeben mögen. So aber erging es mir wie einem Mädchen, das gegen eine vorgeschlagene Heiratspartie bloß deswegen allerlei zu erinnern findet, weil ihr unglückIicherweise ein heimlich Geliebter im Herzen liegt. In den Vorlesungen der Institutionen und Pandekten sitzend, vergaß ich mich oft im Ausbilden dramatischer Szenen und Akte. Ich gab mir alle Mühe, meinen Sinn auf das Vorgetragene zu wenden, allein er lenkte gewaltsam immer abwärts. Es lag mir fortwährend nichts in Gedanken als Poesie und Kunst und meine höhere menschliche Entwickelung, warum ich ja überall seit Jahren mit Leidenschaft nach der Universität gestrebt hatte.
Wer mich nun das erste Jahr in meinen nächsten Zwecken bedeutend förderte, war Heeren. Seine Ethnographie und Geschichte legte in mir für fernere Studien dieser Art den besten Grund, sowie die Klarheit und Gediegenheit seines Vortrages auch in anderer Hinsicht für mich von bedeutendem Nutzen war. Ich besuchte jede Stunde mit Liebe und verließ keine, ohne von größerer Hochachtung und Neigung für den vorzüglichen Mann durchdrungen zu sein.
Das zweite akademische Jahr begann ich vernünftigerweise mit gänzlicher Beseitigung des juristischen Studiums, das in der Tat viel zu bedeutend war, als daß ich es als Nebensache hätte mitgewinnen können, und das mir in der Hauptsache als ein zu großes Hindernis an hing. Ich schloß mich an die Philologie. Und wie ich im ersten Jahre Heeren sehr viel schuldig geworden, so ward ich es nun Dissen. Denn nicht allein, daß seine Vorlesungen meinen Studien die eigentlich gesuchte und ersehnte Nahrung gaben, ich mich täglich mehr gefördert und aufgeklärt sah, und nach seinen Andeutungen sichere Richtungen für künftige Produktionen nahm, sondern ich hatte auch das Glück, dem werten Manne persönlich bekannt zu werden und mich von ihm in meinen Studien geleitet, bestärkt und ermuntert zu sehen.
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