Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 14.09.- 30.11.1830 (54)
Genf, den 14. September 1830
Zu meiner großen Freude habe ich aus einem Ihrer letzten Briefe in Genua ersehen, daß die Lücken und das Ende der "Klassischen Walpurgisnacht" glücklich erobert worden. Die drei ersten Akte wären also vollkommen fertig, die "Helena" verbunden, und demnach das Schwierigste getan. Das Ende ist, wie Sie mir sagten, schon da, und so wird, wie ich hoffe, der vierte Akt sich Ihnen bald überwunden ergeben, und etwas Großes wäre zustande gebracht, woran künftige Jahrhunderte sicher bauen und üben möchten. Ich freue mich dazu ganz außerordentlich und werde jede Nachricht, die mir das Vorrückender poetischen Mächte vermeldet, mit Jubel empfangen. Ich habe auf meiner Reise häufige Gelegenheit gehabt, des "Faust" zu gedenken und daraus einige klassische Stellen anzuwenden. Wenn ich in Italien die schönen Menschen und das Gedeihen der frischen Kinder sah, waren mir die Verse zugegen:
Hier ist das Wohlbehagen erblich!
Die Wange heitert wie der Mund;
Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich,
Sie sind zufrieden und gesund.
Und so entwickelt sich am reinen Tage
Zu Vaterkraft das holde Kind.
Wir staunen drob; noch immer bleibt die Frage:
Obs Götter, ob es Menschen sind.
Dagegen wenn ich, von dem Anblick der schönen Natur hingerissen, Herz und Augen an Seen, Bergen und Tälern weidete, schien irgendein unsichtbarer kleiner Teufel sein Spiel mit mir zu treiben, indem er mir jedesmal die Verse zuflüsterte:
Und hätt ich nicht gerüttelt und geschüttelt,
Wie wäre diese Welt so schön ?
Alle vernünftige Anschauung war sodann mit einem Mal verschwunden, die Absurdität fing an zu herrschen, ich fühlte eine Art Umwälzung in meinem Innern, und es war keine Hülfe, als jedesmal mit Lachen zu endigen.
Bei solchen Gelegenheiten habe ich recht empfunden, daß der Poet eigentlich immer positiv sein sollte. Der Mensch gebraucht den Dichter, um das auszusprechen, was er selbst nicht auszudrücken vermag. Von einer Erscheinung, von einer Empfindung wird er ergriffen, er sucht nach Worten, seinen eigenen Vorrat findet er unzulänglich, und so muß ihm der Dichter zur Hülfe kommen, der ihn frei macht, indem er ihn befriedigt. In diesem Gefühl habe ich denn jene ersteren Verse wiederholt gesegnet und die letzteren täglich lachend verwünscht. Wer aber möchte sie an der Stelle entbehren, für die sie gemacht sind und wo sie im schönsten Sinne wirken!
Ein eigentliches Tagebuch habe ich in Italien nicht geführt; die Erscheinungen waren zu groß, zu viel, zu schnell wechselnd, als daß man sich ihrer im nächsten Augenblick hätte bemächtigen mögen und können. Ich habe jedoch meine Augen und Ohren immer offen gehabt und mir vieles gemerkt. Solche Erinnerungen will ich nun zueinander gruppieren und unter einzelnen Rubriken behandeln. Besonders habe ich hübsche Bemerkungen zur Farbenlehre gemacht, auf deren nächste Darstellung ich mich freue. Es ist natürlich nichts Neues, allein immer ist es erwünscht, neue Manifestationen des alten Gesetzes zu finden.
In Genua hat Sterling für die Lehre ein großes Interesse gezeigt. Was ihm von Newtons Theorie überliefert worden, hat ihm nicht genügt, und so hatte er denn offene Ohren für die Grundzüge, die ich ihm von Ihrer Lehre in wiederholten Gesprächen habe geben können. Wenn man Gelegenheit hätte, ein Exemplar des Werks nach Genua zu spedieren, so könnte ich wohl sagen, daß ihm ein solches Geschenk nicht unwillkommen sein würde. Hier in Genf habe ich seit drei Wochen eine wißbegierige Schülerin an Freundin Sylvestre gefunden. Ich habe dabei die Bemerkung gemacht, daß das Einfache schwerer zu fassen ist, als man denkt, und daß es eine große Übung erfordert, in den mannigfaltigsten Einzelnheiten der Erscheinung immer das Grundgesetz zu finden. Dem Geist aber gibt es eine große Gewandtheit, indem die Natur sehr delikat ist und man immer auf der Hut sein muß, durch einen zu raschen Ausspruch ihr nicht Gewalt zu tun.
Übrigens findet man hier in Genf an einer so großen Sache auch nicht die Spur einer Teilnahme. Nicht allein, daß man auf hiesiger Bibliothek Ihre "Farbenlehre" nicht hat, ja man weiß nicht einmal, daß so etwas in der Welt ist. Hieran mögen nun die Deutschen mehr schuld sein als die Genfer, allein es verdrießt mich doch und reizt mich zu schalkhaften Bemerkungen.
Bekanntlich hat Lord Byron einige Zeit sich hier aufgehalten, und da er die Gesellschaft nicht liebte, so hat er sein Wesen bei Tag und Nacht in der Natur und auf dem See getrieben, wovon man hier noch zu erzählen hat und wovon in seinem "Childe Harold" ein schönes Denkmal geblieben. Auch die Farbe der Rhone hat er bemerkt, und wenn er auch die Ursache nicht ahnen konnte, so hat er doch ein empfängliches Auge gezeigt. Er sagt in seiner Bemerkung zum dritten Gesänge:
»The colour of the Rhone at Geneva is blue, to a depth of tint which I have never seen equalled in water, salt or fresh, except in the Mediterranean and Archipelago.«
Die Rhone, wie sie sich zusammendrängt, um durch Genf zugehen, teilt sich in zwei Arme, über welche vier Brücken führen, auf denen hin und her gehend man die Farbe des Wassers recht gut beobachten kann.
Nun ist merkwürdig, daß das Wasser des einen Armes blau ist, wie Byron es gesehen hat, das des andern aber grün. Der Arm, wo das Wasser blau erscheint, ist reißender und hat den Grund so tief gehöhlt, daß kein Licht hinabdringen kann und also unten vollkommene Finsternis herrschet. Das sehr klare Wasser wirkt als ein trübes Mittel, und es entsteht aus den bekannten Gesetzen das schönste Blau. Das Wasser des anderen Armes geht nicht so tief, das Licht erreicht noch den Grund, so daß man Steine sieht, und da es unten nicht finster genug ist, um blau zu werden, aber nicht flach und der Boden nicht rein, weiß und glänzend genug, um gelb zu sein, so bleibt die Farbe in der Mitte und manifestiert sich als grün.
Wäre ich nun, wie Byron, zu tollen Streichen aufgelegt und hätte ich die Mittel, sie auszuführen, so würde ich folgendes Experiment machen.
Ich würde in dem grünen Arm der Rhone, in der Nähe der Brücke, wo täglich Tausende von Menschen passieren, ein großes schwarzes Brett, oder so etwas, so tief befestigen lassen, daß ein reines Blau entstände, und nicht weit davon ein sehr großes Stück weißes glänzendes Blech in solcher Tiefe des Wassers, daß im Schein der Sonne ein entschiedenes Gelb erglänzte. Wenn nun die Menschen vorbeigingen und in dem grünen Wasser den gelben und blauen Fleck erblickten, so würde ihnen das ein Rätsel sein, das sie neckte und das sie nicht lösen könnten. Man kommt auf Reisen zu allerlei Späßen; dieser aber scheint mir zu den guten zu gehören, worin einiger Sinn vorhanden ist und einiger Nutzen sein könnte.
Vor einiger Zeit war ich in einem Buchladen, wo in dem ersten kleinen Duodezbändchen, das ich zur Hand nahm, mir eine Stelle vor Augen trat, die in meiner Übersetzung also lautet:»Aber jetzt saget mir: wenn man eine Wahrheit entdeckt hat, muß man sie den anderen Menschen mitteilen? Wenn ihr sie bekannt macht, so werdet ihr von einer Unzahl von Leuten verfolgt, die von dem entgegengesetzten Irrtum leben, indem sie versichern, daß eben dieser Irrtum die Wahrheit, und alles, was dahin geht, ihn zu zerstören, der größte Irrtum selber sei.«
Diese Stelle schien mir auf die Art, wie die Männer vom Fache Ihre "Farbenlehre" aufgenommen, eine Anwendung zu finden, als wäre sie dafür geschrieben worden, und sie gefiel mir dermaßen, daß ich ihr zuliebe das ganze Buch kaufte. Es enthielt "Paul und Virginia" und "La Chaumiere indienne", von Bernardinde Saint-Pierre, und ich hatte also auch übrigens meinen Kauf nicht zu bereuen. Ich las das Buch mit Freuden; der reine herrliche Sinn des Verfassers erquickte mich, und seine zarte Kunst, besonders wie er bekannte Gleichnisse schicklich anwendet, wußte ich zu erkennen und zu schätzen.
Auch die erste Bekanntschaft mit Rousseau und Montesquieu habe ich hier gemacht; damit aber mein Brief nicht selbst zum Buche werde, so will ich über diese sowie über vieles andere, das ich noch sagen möchte, für heute hinweggehen.
Seitdem ich den langen Brief von vorgestern von der Seele habe, fühle ich mich heiter und frei wie nicht seit Jahren, und ich möchte immer schreiben und reden. Es ist mir wirklich das höchste Bedürfnis, mich wenigstens vorderhand von Weimar entfernt zu halten; ich hoffe, daß Sie es billigen, und sehe schon die Zeit, wo Sie sagen werden, daß ich recht getan.
Morgen wird das hiesige Theater mit dem "Barbier von Sevilla" eröffnet, welches ich noch sehen will; dann aber gedenke ich ernstlich abzureisen. Das Wetter scheint sich auch aufzuklären und mich begünstigen zu wollen. Es hat hier geregnet seit Ihrem Geburtstage, wo es schon morgens früh mit Gewittern anfing, die den ganzen Tag , in der Richtung von Lyon her, die Rhone herauf über den See zogen nach Lausanne zu, so daß es fast den ganzen Tag donnerte. Ich habe ein Zimmer für sechzehn Sous täglich, das mir die schönste Aussicht auf den See und das Gebirge gewährt. Gestern regnete es unten, es war kalt, und die höchsten Spitzen des Jura zeigten sich nach vorbei gezogenem Schauer zum ersten Mal weiß mit Schnee, der aber heute schon wieder verschwunden ist. Die Vorgebirge des Montblanc fangen schon an, sich mit bleibendem Weiß zu umhüllen; an der Küste des Sees hinauf, in dem Grün der reichen Vegetation, stehen schon einige Bäume gelb und braun; die Nächte werden kalt, und man sieht, daß der Herbst vor der Tür ist.
Ich grüße Frau von Goethe, Fräulein Ulrike und Walter Wolf und die Alma herzlich. Ich habe an Frau von Goethe vieles über Sterling zu schreiben, welches morgen geschehen soll. Ich freue mich, von Euer Exzellenz einen Brief in Frankfurt zu erhalten, und bin glücklich in dieser Hoffnung.
Mit den besten Wünschen und treuesten Gesinnungen verharrend.
E.
Ich reiste am 21. September von Genf ab, und nachdem ich mich in Bern ein paar Tage aufgehalten, kam ich am 27. nach Straßburg, wo ich abermals einige Tage verweilte.
Hier, an dem Fenster eines Friseurs vorbeigehend, sah ich eine kleine Büste Napoleons, die, von der Straße zu gegen das Dunkel des Zimmers betrachtet, alle Abstufungen von Blau zeigte, vom milchigen Hellblau bis zum tiefen Violett. Ich hatte eine Ahndung, daß, vom Innern des Zimmers gegen das Licht angesehen, die Büste mir alle Abstufungen des Gelben gewähren würde, und so konnte ich einem augenblicklichen lebhaften Trieb nicht widerstehen, zu den mir ganz unbekannten Personen geradezu hineinzutreten.
Mein erster Blick war nach der Büste, wo mir denn die herrlichsten Farben der aktiven Seite, vom blässesten Gelb bis zum dunkelen Rubinrot, zu großer Freude entgegen glänzten. Ich fragte lebhaft, ob man nicht geneigt sein wolle, mir dieses Brustbild des großen Helden zu überlassen. Der Wirt erwiderte mir, daß er, aus gleicher Anhänglichkeit für den Kaiser, sich vor kurzem die Büste aus Paris mitgebracht habe; da jedoch meine Liebe die seinige noch um ein gutes Teil zu übertreffen scheine, wie er aus meiner enthusiastischen Freude schließe, so gebühre mir auch der Vorzug des Besitzes, und er wolle sie mir gerne überlassen.
In meinen Augen hatte dies gläserne Bild einen unschätzbaren Wert, und ich konnte daher nicht umhin, den guten Eigentümer mit einiger Verwunderung anzusehen, als er es für wenige Franken in meine Hände gab.
Ich schickte es, nebst einer in Mailand gekauften gleichfalls merkwürdigen Medaille, als ein kleines Reisegeschenk an Goethe, der es denn nach Verdienst zu schätzen wußte. In Frankfurt und später erhielt ich von ihm folgende Briefe.
Erster Brief
»Nur mit dem Wenigsten vermelde, daß Ihre beiden Schreiben von Genf glücklich angekommen sind, freilich erst am 26. September. Ich eile daher nur, so viel zu sagen: bleiben Sie ja in Frankfurt, bis wir wohl überlegt haben, wo Sie Ihren künftigen Winter zubringen wollen.
Ich lege für diesmal nur ein Blättchen an Herrn und Frau Geh. Rat von Willemer bei, welches ich baldigst abzugeben bitte. Sie werden ein paar Freunde finden, die im edelsten Sinne mit mir verbunden sind und Ihnen den Aufenthalt in Frankfurt nützlich und angenehm machen können.
Soviel also für diesmal. Schreiben Sie mir alsobald, wenn Sie diesen Brief erhalten haben.
Weimar, Unwandelbar
den 26. Septbr. 1830
Goethe.«
Zweiter Brief
»Zum allerschönsten begrüße ich Sie, mein Teuerster, in meiner Vaterstadt und hoffe, Sie werden die wenigen Tage in vertraulichem Vergnügen mit meinen vortrefflichen Freunden zugebracht haben.
Wenn Sie nach Nordheim abzugehen und daselbst einige Zeit zu verweilen wünschen, so wüßt ich nichts entgegenzusetzen. Wollen Sie sich in stiller Zeit mit dem Manuskripte beschäftigen, das in Sorets Händen ist, so soll es mir um desto angenehmer sein, weil ich zwar keine baldige Publikation desselben wünsche, es aber gern mit Ihnen durchgehen und rektifizieren möchte. Es wird seinen Wert erhöhen, wenn ich bezeugen kann, daß es ganz in meinem Sinne aufgefaßt sei.
Mehr sage ich nicht, überlasse Ihnen und erwarte das Weitere. Man grüßt Sie freundlich aus meinem Hause; von den übrigen Teilnehmern habe seit dem Empfang Ihres Briefes niemand gesprochen.
Alles Gute wünschend
Weimar, treulichst den 12. Oktbr. 1830
J.W.v. Goethe.«
Dritter Brief
»Der lebhafte Eindruck, den Sie beim Anblick des merkwürdigen, Farbe vermittelnden Brustbildes erfuhren, die Begierde, sich solches anzueignen, das artige Abenteuer, welches Sie deshalb bestanden, und der gute Gedanke, mir solches als Reise gabe zu verehren, das alles deutet darauf: wie durchdrungen Sie sind von dem herrlichen Urphänomen, welches hierin allen seinen Äußerungen hervortritt. Dieser Begriff, dieses Gefühl wird Sie mit seiner Fruchtbarkeit durch Ihr ganzes Leben begleiten und sich noch auf manche produktive Weise bei Ihnen legitimieren. Der Irrtum gehört den Bibliotheken an, das Wahre dem menschlichen Geiste; Bücher mögen sich durch Bücher vermehren, indessen der Verkehr mit lebendigen Urgesetzen dem Geiste gefällt, der das Einfache zu erfassen weiß, das Verwickelte sich entwirrt und das Dunkle sich aufklärt.
Wenn Ihr Dämon Sie wieder nach Weimar führt, sollen Sie jenes Bild in der heftigen klaren Sonne stehen sehen, wo, unter dem ruhigen Blau des durchscheinenden Angesichts, die derbe Masse der Brust und der Epauletten von dem mächtigsten Rubinrot in allen Schattierungen auf- und abwärts leuchtet, und wie das Granitbild Memnons in Tönen, so sich hier das trübe Glasbild in Farbenpracht manifestiert. Man sieht hier wirklich den Helden auch für die Farbenlehre sieghaft. Haben Sie den schönsten Dank für diese unerwartete Bekräftigung der mir so werten Lehre.
Auch mit der Medaille haben Sie mein Kabinett doppelt und dreifach bereichert; ich bin auf einen Mann aufmerksam worden mit Namen Dupre. Ein vortrefflicher Bildhauer, Erzgießer, Medailleur; er war es, der das Bildnis Heinrichs des Vierten auf dem Pontneuf modellierte und goß. Durch die gesendete Medaille angeregt, sah ich meine übrigen durch, fand noch sehr vorzügliche mit demselben Namen, andere vermutlich von ihm, und so hat Ihre Gabe auch hier eine schöne Anregung veranlaßt.
Mit meiner "Metamorphose", die Soretsche Übersetzung an der Seite, sind wir erst am fünften Bogen; ich wußte lange nicht, ob ich diesem Unternehmen mit Fluch oder Segen gedenken sollte. Nun aber, da es mich wieder in die Betrachtung der organischen Natur hineindrängt, freu ich mich daran und folge dem Berufe willig. Die für mich nun über vierzig Jahr alte Maxime gilt noch immer fort; man wird durch sie in dem ganzen labyrinthischen Kreise des Begreiflichen glücklich umhergeleitet und bis an die Grenze des Unbegreiflichen geführt, wo man sich denn, nach großem Gewinn, gar wohl bescheiden kann. Alle Philosophen der alten und neuen Welt vermochten auch nicht weiter zu gelangen. Mehr darf man sich in Schriften auszusprechen kaum an maßen.
J.W.v.Goethe.«
Bei meinem Aufenthalte zu Nordheim, wo ich, nach einigem Verweilen zu Frankfurt und Kassel, erst gegen Ende Oktobers angekommen war, vereinigten sich alle Umstände dahin, um meine Rückkehr nach Weimar erwünscht zu machen.
Die baldige Herausgabe meiner Konversationen hatte Goethe nicht gebilligt, und somit war denn an eine erfolgreiche Eröffnung einer rein literarischen Laufbahn nicht mehr zu denken. Sodann das Wiedersehen meiner seit Jahren innigst Geliebten und das täglich erneute Gefühl ihrer großen Tugenden erregten den Wunsch ihres baldigen Besitzes und das Verlangen nach einer sichern Existenz auf das lebhafteste.
Unter solchen Umständen erreichte mich eine Botschaft aus Weimar, von der Frau Großherzogin befohlen, die ich mit Freuden ergriff, wie aus folgendem Brief an Goethe näher hervorgeht.
Nordheim, den 6. November 1830
Der Mensch denkt - und Gott lenkt, und ehe man eine Hand umwendet, sind unsere Zustände und Wünsche anders, als wir es voraus dachten.
Vor einigen Wochen hatte ich eine gewisse Furcht, nach Weimar zurückzukehren, und jetzt stehen die Sachen so, daß ich nicht allein bald und gerne zurückkomme, sondern auch mit Gedanken umgehe, mich dort häuslich einzurichten und für immer zu befestigen.
Ich habe vor einigen Tagen ein Schreiben von Soret erhalten, mit dem Anerbieten eines fixen Gehaltes von seiten der Frau Großherzogin, wenn ich zurückkommen und in meinem bisherigen Unterricht mit dem Prinzen fortfahren wolle. Noch anderes Gute will Soret mir mündlich mitteilen, und so sehe ich denn aus allem, daß man gnädige Gesinnungen gegen mich hegen mag.
Ich schriebe nun gerne eine zustimmende Antwort an Soret; allein ich höre, er ist zu den Seinigen nach Genf gereiset, und so bleibt mit weiter nichts übrig, als mich an Eure Exzellenz mit der Bitte zu wenden: der Kaiserlichen Hoheit den Entschluß meiner baldigen Zurückkunft geneigtest mitzuteilen.
Ihnen selbst hoffe ich zugleich durch diese Nachricht einige Freude zu machen, indem doch mein Glück und meine Beruhigung Ihnen seit lange am Herzen liegt.
Ich sende die schönsten Grüße allen lieben Ihrigen und hoffe ein baldiges frohes Wiedersehen.
E.
Am 20. November nachmittags reiste ich von Nordheim ab, auf dem Wege nach Göttingen, das ich in der Dunkelheit erreichte.
Abends an Table d’hote, als der Wirt hörte, daß ich aus Weimar sei und dahin zurück wolle, äußerte er in gemütlicher Ruhe, daß doch der große Dichter Goethe in seinem hohen Alter noch ein schweres Leid habe erfahren müssen, indem, wie er heut in den Zeitungen gelesen, sein einziger Sohn in Italien am Schlage gestorben sei.
Man mag denken, was ich bei diesen Worten empfand. Ich nahm ein Licht und ging auf mein Zimmer, um nicht die anwesenden Fremden zu Zeugen meiner inneren Bewegung zumachen.
Ich verbrachte die Nacht schlaflos. Das mich so nahe berührende Ereignis war mir beständig vor der Seele. Die folgenden Tage und Nächte unterwegs und in Mühlhausen und Gotha vergingen mir nicht besser. Einsam im Wagen, bei den trüben Novembertagen und in den öden Feldern, wo nichts Äußeres mich zu zerstreuen und aufzuheitern geeignet war, bemühte ich mich vergebens, andere Gedanken zu fassen, und in den Gasthöfen unter Menschen hörte ich, als von einer Neuigkeit des Tages, immer von dem mich so nahe betreffenden traurigen Fall. Meine größte Besorgnis war, daß Goethe in seinem hohen Alter den heftigen Sturm väterlicher Empfindungen nicht überstehen möchte. Und welchen Eindruck - sagte ich mir -wird deine Ankunft machen, da du mit seinem Sohn gegangen bist und nun alleine zurückkommst! Er wird ihn erst zu verlieren glauben, wenn er dich wiedersieht.
Unter solchen Gedanken und Empfindungen erreichte ich Dienstag, den 23. November, abends sechs Uhr, das letzte Chausseehaus vor Weimar. Ich fühlte abermals in meinem Leben, daß das menschliche Dasein schwere Momente habe, durch die man hindurch müsse. Meine Gedanken verkehrten mit höheren Wesen über mir, als mich ein Blick des Mondes traf, der auf einige Sekunden aus dichtem Gewölk glänzend hervortrat und sich dann wieder finster verhüllte wie zuvor. War dieses nun Zufall, oder war es etwas mehr, genug, ich nahm es als ein günstiges Zeichen von oben und gewann daraus eine unerwartete Stärkung.
Kaum daß ich meine Wirtsleute begrüßt hatte, so war mein erster Weg in das Goethesche Haus. Ich ging zuerst zu Frau von Goethe. Ich fand sie bereits in tiefer Trauerkleidung, jedoch ruhig und gefaßt, und wir hatten viel gegeneinander auszusprechen.
Ich ging sodann zu Goethe hinunter. Er stand aufrecht und fest und schloß mich in seine Arme. Ich fand ihn vollkommen heiter und ruhig. Wir setzten uns und sprachen sogleich von gescheiten Dingen, und ich war höchst beglückt, wieder bei ihm zu sein. Er zeigte mir zwei angefangene Briefe, die er nach Nordheim an mich geschrieben, aber nicht hatte abgehen lassen. Wir sprachen sodann über die Frau Großherzogin, über den Prinzen und manches andere; seines Sohnes jedoch ward mit keiner Silbe gedacht.
Donnerstag, den 25. November 1830
Goethe sendete mir am Morgen einige Bücher, die als Geschenk englischer und deutscher Autoren für mich angekommen waren. Mittags ging ich zu ihm zu Tisch. Ich fand ihn eine Mappe mit Kupferstichen und Handzeichnungen betrachtend, die ihm zum Verkauf zugesendet waren. Er erzählte mir, daß die Frau Großherzogin ihn am Morgen mit einem Besuche erfreut, und daß er ihr meine Ankunft verkündiget habe.
Frau von Goethe gesellte sich zu uns, und wir setzten uns zu Tisch. Ich mußte von meiner Reise erzählen. Ich sprach über Venedig, über Mailand, über Genua, und es schien ihm besonders interessant, nähere Nachrichten über die Familie des dortigen englischen Konsuls zu vernehmen. Ich erzählte sodann von Genf, und er erkundigte sich teilnehmend nach der Familie Soret und Herrn von Bonstetten. Von letzterem wünschte er eine nähere Schilderung, die ich ihm gab, so gut es gelingen wollte.
Nach Tisch war es mir lieb, daß Goethe von meinen Konversationen zu reden anfing. »Es muß Ihre erste Arbeit sein,« sagte er, »und wir wollen nicht eher nachlassen, als bis alles vollkommen getan und im reinen ist.«
Übrigens erschien Goethe mir heute besonders stille und oft in sich verloren, welches mir kein gutes Zeichen war.
Dienstag, den 30. November 1830
Goethe setzte uns vorigen Freitag in nicht geringe Sorge, indem er in der Nacht von einem heftigen Blutsturz überfallen wurde und den ganzen Tag nicht weit vom Tode war. Er verlor, einen Aderlaß mit eingerechnet, sechs Pfund Blut, welches bei seinem achtzigjährigen Alter viel sagen will. Die große Geschicklichkeit seines Arztes, des Hofrats Vogel, verbunden mit seiner unvergleichlichen Natur, haben jedoch auch diesmal gesiegt, so daß er mit raschen Schritten seiner Genesung entgegengeht, schon wieder den besten Appetit zeigt und auch die ganze Nacht wieder schläft. Es darf niemand zu ihm, das Reden ist ihm verboten, doch sein ewig reger Geist kann nicht ruhen, er denkt schon wieder an seine Arbeiten. Diesen Morgen erhielt ich von ihm folgendes Billett, das er mit der Bleifeder im Bette geschrieben:
»Haben Sie die Güte, mein bester Doktor, beikommende schon bekannte Gedichte nochmals durchzugehen und die voranliegenden neuen einzuordnen, damit es sich zum Ganzen schicke. "Faust" folgt hierauf!
Ein frohes Wiedersehen!
W., d. 30. Nov.
Goethe.«1830
Nach Goethes rasch erfolgender völligen Genesung wendete er sein ganzes Interesse auf den vierten Akt des "Faust", sowie auf die Vollendung des vierten Bandes von "Wahrheit und Dichtung" Mir empfahl er die Redaktion seiner kleinen bis dahin ungedruckten Schriften, desgleichen eine Durchsicht seiner Tagebücher und abgegangenen Briefe, damit es uns klar werden möchte, wie damit bei künftiger Herausgabe zu verfahren. An eine Redaktion meiner Gespräche mit ihm war nicht mehr zu denken; auch hielt ich es für vernünftiger, anstatt mich mit dem bereits Geschriebenen zu befassen, den Vorrat ferner durch Neues zu vermehren, so lange ein gütiges Geschick geneigt sein wolle, es mir zu vergönnen.
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