Freitag, den 3. April 1829
Mit Oberbaudirektor Coudray bei Goethe zu Tisch. Coudray erzählte von einer Treppe im großherzoglichen Schloß zu Belvedere, die man seit Jahren höchst unbequem gefunden, an deren Verbesserung der alte Herrscher immer gezweifelt habe und die nun unter der Regierung des jungen Fürsten vollkommen gelinge.
Auch von dem Fortgange verschiedener Chausseebauten gab Coudray Nachricht, und daß man den Weg über die Berge nach Blankenhain, wegen zwei Fuß Steigung auf die Rute, ein wenig umleiten müssen, wo man doch an einigen Stellen noch achtzehn Zoll auf die Rute habe.
Ich fragte Coudray, wieviel Zoll die eigentliche Norm sei, welche man beim Chausseebau in hügeligen Gegenden zu erreichen trachte.
»Zehn Zoll auf die Rute,« antwortete er, »das ist bequem.«»Aber,« sagte ich, »wenn man von Weimar aus irgendeine Straße nach Osten, Süden, Westen oder Norden fährt, so findet man sehr bald Stellen, wo die Chaussee weit mehr als zehn Zoll Steigung auf die Rute haben möchte.«
»Das sind kurze unbedeutende Strecken,« antwortete Coudray,»und dann geht man oft beim Chausseebau über solche Stellen in der Nähe eines Ortes absichtlich hin, um demselben ein kleines Einkommen für Vorspann nicht zu nehmen.« Wir lachten über diese redliche Schelmerei. »Und im Grunde«,fuhr Coudray fort, »ists auch eine Kleinigkeit; die Reisewagen gehen über solche Stellen leicht hinaus, und die Frachtfahrer sind einmal an einige Plackerei gewöhnt. Zudem, da solcher Vorspann gewöhnlich bei Gastwirten genommen wird, so haben die Fuhrleute zugleich Gelegenheit, einmal zu trinken, und sie würden es einem nicht danken, wenn man ihnen den Spaß verdürbe.«
»Ich möchte wissen,« sagte Goethe, »ob es in ganz ebenen flachen Gegenden nicht sogar besser wäre, die gerade Straßenlinie dann und wann zu unterbrechen und die Chaussee künstlich hier und dort ein wenig steigen und fallen zu lassen; es würde das bequeme Fahren nicht hindern, und man gewönne, daß die Straße wegen besserem Abfluß des Regenwassers immer trocken wäre.«
»Das ließe sich wohl machen«, antwortete Coudray, »und würde sich höchstwahrscheinlich sehr nützlich erweisen.«
Coudray brachte darauf eine Schrift hervor, den Entwurf einer Instruktion für einen jungen Architekten, den die Oberbaubehörde zu seiner weiteren Ausbildung nach Paris zuschicken im Begriff stand. Er las die Instruktion, sie ward von Goethe gut befunden und gebilligt. Goethe hatte beim Ministerium die nötige Unterstützung ausgewirkt, man freute sich, daß die Sache gelungen, und sprach über die Vorsichtsmaßregeln, die man nehmen wolle, damit dem jungen Manne das Geld gehörig zugute komme und er auch ein Jahr damit ausreiche. Bei seiner Zurückkunft hatte man die Absicht, ihn an der neu zu errichtenden Gewerkschule als Lehrer anzustellen, wodurch denn einem talentreichen jungen Mann alsobald ein angemessener Wirkungskreis eröffnet sei. Es war alles gut, und ich gab dazu meinen Segen im stillen.
Baurisse, Vorlegeblätter für Zimmerleute von Schinkel wurden darauf vorgezeigt und betrachtet. Coudray fand die Blätter bedeutend und zum Gebrauch für die künftige Gewerkschule vollkommen geeignet.
Man sprach von Bauten, vom Schall und wie er zu vermeiden, und von großer Festigkeit der Gebäude der Jesuiten. »In Messina«, sagte Goethe, »waren alle Gebäude vom Erdbeben zusammengerüttelt, aber die Kirche und das Kloster der Jesuiten standen ungerührt, als wären sie gestern gebaut. Es war nicht die Spur an ihnen zu bemerken, daß die Erderschütterung den geringsten Effekt auf sie gehabt.«
Von Jesuiten und deren Reichtümern lenkte sich das Gespräch auf Katholiken und die Emanzipation der Irländer. »Man sieht,« sagte Coudray, »die Emanzipation wird zugestanden werden, aber das Parlament wird die Sache so verklausulieren, daß dieser Schritt auf keine Weise für England gefährlich werden kann.«
»Bei den Katholiken«, sagte Goethe, »sind alle Vorsichtsmaßregeln unnütz. Der päpstliche Stuhl hat Interessen, woran wir nicht denken, und Mittel, sie im stillen durchzuführen, wovon wir keinen Begriff haben. Säße ich jetzt im Parlament, ich würde auch die Emanzipation nicht hindern, aber ich würde zu Protokoll nehmen lassen, daß, wenn der erste Kopf eines bedeutenden Protestanten durch die Stimme eines Katholiken falle, man an mich denken möge.«
Das Gespräch lenkte sich auf die neueste Literatur der Franzosen, und Goethe sprach abermals mit Bewunderung von den Vorlesungen der Herren Cousin, Villemain und Guizot.»Statt des Voltairischen leichten oberflächlichen Wesens«,sagte er, »ist bei ihnen eine Gelehrsamkeit, wie man sie früher nur bei Deutschen fand. Und nun ein Geist, ein Durchdringen und Auspressen des Gegenstandes, herrlich! Es ist, als ob sie die Kelter träten. Sie sind alle drei vortrefflich, aber dem Herrn Guizot möchte ich den Vorzug geben, er ist mir der liebste.«
Wir sprachen darauf über Gegenstände der Weltgeschichte, und Goethe äußerte folgendes über Regenten.
»Um populär zu sein,« sagte er, »braucht ein großer Regent weiter keine Mittel als seine Größe. Hat er so gestrebt und gewirkt, daß sein Staat im Innern glücklich und nach außen geachtet ist, so mag er mit allen seinen Orden im Staatswagen, oder er mag im Bärenfelle und die Zigarre im Munde auf einer schlechten Droschke fahren, es ist alles gleich, er hat einmal die Liebe seines Volkes und genießt immer dieselbige Achtung. Fehlt aber einem Fürsten die persönliche Größe und weiß er nicht durch gute Taten bei den Seinen sich in Liebe zu setzen, so muß er auf andere Vereinigungsmittel denken, und da gibt es kein besseres und wirksameres als die Religion und den Mitgenuß und die Mitübung derselbigen Gebräuche. Sonntäglich in der Kirche erscheinen, auf die Gemeinde herabsehen und von ihr ein Stündchen sich anblicken lassen ist das trefflichste Mittel zur Popularität, das man jedem jungen Regenten anraten möchte und das, bei aller Größe, selbst Napoleon nicht verschmähet hat.«
Das Gespräch wendete sich nochmals zu den Katholiken, und wie groß der Geistlichen Einfluß und Wirken im stillen sei. Man erzählte von einem jungen Schriftsteller in Hanau, der vor kurzem in einer Zeitschrift, die er herausgegeben, ein wenig heiter über den Rosenkranz gesprochen. Diese Zeitschrift sei sogleich eingegangen, und zwar durch den Einfluß der Geistlichen in ihren verschiedenen Gemeinden. "Von meinem "Werther"«, sagte Goethe, »erschien sehr bald eine italienische Übersetzung in Mailand. Aber von der ganzen Auflage war in kurzem auch nicht ein einziges Exemplar mehr zu sehen. Der Bischof war dahintergekommen und hatte die ganze Edition von den Geistlichen in den Gemeinden aufkaufen lassen. Es verdroß mich nicht, ich freute mich vielmehr über den klugen Herrn, der sogleich einsah, daß der "Werther" für die Katholiken ein schlechtes Buch sei, und ich mußte ihn loben, daß er auf der Stelle die wirksamsten Mittel ergriffen, es ganz im stillen wieder aus der Welt zu schaffen.«
Sonntag, den 5. April 1829
Goethe erzählte mir, daß er vor Tisch nach Belvedere gefahren sei, um Coudrays neue Treppe im Schloß in Augenschein zu nehmen, die er vortrefflich gefunden. Auch sagte er mir, daß ein großer versteinerter Klotz angekommen, den er mir zeigen wolle.
»Solche versteinerte Stämme«, sagte er, »finden sich unter dem einundfunfzigsten Grade ganz herum bis nach Amerika, wie ein Erdgürtel. Man muß immer mehr erstaunen. Von der früheren Organisation der Erde hat man gar keinen Begriff, und ich kann es Herrn von Buch nicht verdenken, wenn er die Menschen endoktriniert, um seine Hypothesen zu verbreiten. Er weiß nichts, aber niemand weiß mehr, und da ist es denn am Ende einerlei, was gelehrt wird, wenn es nur einigermaßen einen Anschein von Vernunft hat.«
Von Zelter grüßte mich Goethe, welches mir Freude machte. Dann sprachen wir von seiner italienischen Reise, und er sagte mir, daß er in einem seiner Briefe aus Italien ein Lied gefunden, das er mir zeigen wolle. Er bat mich, ihm ein Paket Schriften zu reichen, das mir gegenüber auf dem Pulte lag. Ich gab es ihm, es waren seine Briefe aus Italien; ersuchte das Gedicht und las:
Cupido, loser, eigensinniger Knabe!
Du batst mich um Quartier auf einige Stunden.
Wie viele Tag und Nächte bist du geblieben!
Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden.
Von meinem breiten Lager bin ich vertrieben;
Nun sitz ich an der Erde, Nächte gequälet.
Dein Mutwill schüret Flamm’ auf Flamme des Herdes,
Verbrennet den Vorrat des Winters und senget mich Armen.
Du hast mir mein Gerät verstellt und verschoben.
Ich such und bin wie blind und irre geworden;
Du lärmst so ungeschickt; ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehn, und räumet die Hütte.
Ich freute mich sehr über dies Gedicht, das mir vollkommen neu erschien. »Es kann Ihnen nicht fremd sein,« sagte Goethe, »denn es steht in der "Claudina von Villa-Bella", wo es der Rugantinö singt. Ich habe es jedoch dort zerstückelt, so daß man darüber hinauslieset und niemand merkt, was es heißen will. Ich dächte aber, es wäre gut. Es drückt den Zustand artig aus und bleibt hübsch im Gleichnis; es ist in Art der Anakreontischen. Eigentlich hätten wir dieses Lied und ähnliche andere aus meinen Opern unter den "Gedichten" wieder sollen abdrucken lassen, damit der Komponist doch die Lieder beisammen hätte.« Ich fand dieses gut und vernünftig und merkte es mir für die Folge.
Goethe hatte das Gedicht sehr schön gelesen; ich brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm schien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Verse:
Du lärmst so ungeschickt; ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehn, und räumet die Hütte -
sprach er noch mitunter wie im Traume vor sich hin. Er erzählte mir sodann von einem neu erschienenen Buch über Napoleon, das von einem Jugendbekannten des Helden verfaßt sei und worin man die merkwürdigsten Aufschlüsse erhalte. »Das Buch«, sagte er, »ist ganz nüchtern, ohne Enthusiasmus geschrieben, aber man sieht dabei, welchen großartigen Charakter das Wahre hat, wenn es einer zusagen wagt.«
Auch von einem Trauerspiele eines jungen Dichters erzählte mir Goethe. »Es ist ein pathologisches Produkt,« sagte er;»die Säfte sind Teilen überflüssig zugeleitet, die sie nicht haben wollen, und andern, die sie bedurft hätten; sind sie entzogen. Das Sujet war gut, sehr gut, aber die Szenen, die ich erwartete, waren nicht da, und andere, die ich nicht erwartete, waren mit Fleiß und Liebe behandelt. Ich dächte, das wäre pathologisch oder auch romantisch, wenn Sie nach unserer neuen Theorie lieber wollen.«
Wir waren darauf noch eine Weile heiter beisammen, und Goethe bewirtete mich zuletzt noch mit vielem Honig, auch mit einigen Datteln, die ich mitnahm.
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