Mittwoch, den 1. [?] Oktober 1828
Herr Hoenninghaus aus Krefeld, Chef eines großen Handelshauses, zugleich Liebhaber der Naturwissenschaften, besonders der Mineralogie, ein durch große Reisen und Studien vielseitig unterrichteter Mann, war heute bei Goethe zu Tisch. Er kam von der Versammlung der Naturforscher aus Berlin zurück, und es ward über dahinschlagende Dinge, besonders über mineralogische Gegenstände manches gesprochen.
Auch von den Vulkanisten war die Rede und von der Art und Weise, wie die Menschen über die Natur zu Ansichten und Hypothesen kommen; bei welcher Gelegenheit denn großer Naturforscher und auch des Aristoteles gedacht wurde, über welchen sich Goethe also aussprach.
»Aristoteles«, sagte er, »hat die Natur besser gesehen als irgendein Neuerer, aber er war zu rasch mit seinen Meinungen. Man muß mit der Natur langsam und läßlich verfahren, wenn man ihr etwas abgewinnen will.
Wenn ich bei Erforschung naturwissenschaftlicher Gegenstände zu einer Meinung gekommen war, so verlangte ich nicht, daß die Natur mir sogleich recht geben sollte; vielmehr ging ich ihr in Beobachtungen und Versuchen prüfend nach, und war zufrieden, wenn sie sich so gefällig erweisen wollte, gelegentlich meine Meinung zu bestätigen. Tat sie es nicht, so brachte sie mich wohl auf ein anderes Apercu, welche mich nachging und welches zu bewahrheiten sie sich vielleicht williger fand.«
Freitag, den 3. Oktober 1828
Ich sprach diesen Mittag bei Tisch mit Goethe über Fouques "Sängerkrieg auf der Wartburg", den ich auf seinen Wunsch gelesen. Wir kamen darin überein, daß dieser Dichter sich zeitlebens mit altdeutschen Studien beschäftiget, und daß am Ende keine Kultur für ihn daraus hervorgegangen.
»Es ist in der altdeutschen düsteren Zeit«, sagte Goethe,»eben sowenig für uns zu holen, als wir aus den serbischen Liedern und ähnlichen barbarischen Volkspoesien gewonnen haben. Man liest es und interessiert sich wohl eine Zeitlang dafür, aber bloß um es abzutun und sodann hinter sich liegen zu lassen. Der Mensch wird überhaupt genug durch seine Leidenschaften und Schicksale verdüstert, als daß er nötig hätte, dieses noch durch die Dunkelheiten einer barbarischen Vorzeit zu tun. Er bedarf der Klarheit und der Aufheiterung, und es tut ihm not, daß er sich zu solchen Kunst- und Literaturepochen wende, in denen vorzügliche Menschen zu vollendeter Bildung gelangten, so daß es ihnen selber wohl war und sie die Seligkeit ihrer Kultur wieder auf andere auszugießen imstande sind.
Wollen Sie aber von Fouque eine gute Meinung bekommen, so lesen Sie seine "Undine", die wirklich allerliebst ist. Freilich war es ein guter Stoff, und man kann nicht einmal sagen, daß der Dichter alles daraus gemacht hätte, was darinne lag; aber doch, die "Undine" ist gut und wird Ihnen gefallen.«»Es geht mir ungünstig mit der neuesten deutschen Literatur«, sagte ich. »Zu den Gedichten von Egon Ebert kam ich aus Voltaire, dessen erste Bekanntschaft ich gemacht, und zwar durch die kleinen Gedichte an Personen, die gewiß zu dem Besten gehören, was er je geschrieben. Nun mit Fouque geht es mir nicht besser. Vertieft in Walter Scotts "Fair Maid of Perth", gleichfalls das erste, was ich von diesem großen Schriftsteller lese, bin ich veranlaßt, dieses an die Seite zu legen und mich in den "Sängerkrieg auf der Wartburg" zu begeben.«
»Gegen so große Ausländer«, sagte Goethe, »können freilich die neueren Deutschen keine Probe halten; aber es ist gut, daß Sie sich nach und nach mit allem In- und Ausländischen bekannt machen, um zu sehen, wo denn eigentlich eine höhere Weltbildung, wie sie der Dichter bedarf, zu holen ist.«Frau von Goethe trat herein und setzte sich zu uns an den Tisch.
»Aber nicht wahr,« fuhr Goethe heiter fort, »Walter Scotts "Fair Maid of Perth" ist gut! - Das ist gemacht! Das ist eine Hand! - Im Ganzen die sichere Anlage, und im Einzelnen kein Strich, der nicht zum Ziele führte. Und welch ein Detail, sowohl im Dialog als in der beschreibenden Darstellung, die beide gleich vortrefflich sind. - Seine Szenen und Situationen gleichen Gemälden von Teniers; im Ganzen der Anordnung zeigen sie die Höhe der Kunst, die einzelnen Figuren haben eine sprechende Wahrheit, und die Ausführung erstreckt sich mit künstlerischer Liebe bis aufs Kleinste, so daß uns kein Strich geschenkt wird. - Bis wie weit haben Sie jetzt gelesen ?«»Ich bin bis zu der Stelle gekommen,« sagte ich, »wo Henry Smith das schöne Zithermädchen durch Straßen und Umwege nach Hause führt, und wo ihm zu seinem Ärger der Mützenmacher Proudfute und der Apotheker Dwining begegnen.«»Ja,« sagte Goethe, »die Stelle ist gut. Daß der widerstrebende ehrliche Waffenschmied so weit gebracht wird, neben dem verdächtigen Mädchen zuletzt selbst das Hündchen mit aufzuhocken, ist einer der größten Züge, die irgend in Romanen anzutreffen sind. Es zeugt von einer Kenntnis der menschlichen Natur, der die tiefsten Geheimnisse offenbar liegen.«»Als einen höchst glücklichen Griff«, sagte ich, »muß ich auch bewundern, daß Walter Scott den Vater der Heldin einen Handschuhmacher sein läßt, der durch den Handel mit Fellen und Häuten mit den Hochländern seit lange in Verkehr gestanden und noch steht.«
»Ja,« sagte Goethe, »das ist ein Zug der höchsten Art. Es entspringen daraus für das ganze Buch die günstigsten Verhältnisse und Zustände, die dadurch alle zugleich eine reale Basis erhalten, so daß sie die überzeugendste Wahrheit mit sich führen. Überhaupt finden Sie bei Walter Scott die große Sicherheit und Gründlichkeit der Zeichnung, die aus seiner umfassenden Kenntnis der realen Welt hervorgeht, wozu er durch lebenslängliche Studien und Beobachtungen und ein tägliches Durchsprechen der wichtigsten Verhältnisse gelangt ist. Und nun sein großes Talent und sein umfassendes Wesen! Sie erinnern sich des englischen Kritikers, der die Poeten mitmenschlichen Sängerstimmen vergleicht, wo einigen nur wenig gute Töne zu Gebote ständen, während andere den höchsten Umfang von Tiefe und Höhe in vollkommener Gewalt hätten. Dieser letzteren Art ist Walter Scott. In dem "Fair Maid of Perth" werden Sie nicht eine einzige schwache Stelle finden, wo es Ihnen fühlbar würde, es habe seine Kenntnis und sein Talent nicht ausgereicht. Er ist seinem Stoff nach allen Richtungen hin gewachsen. Der König, der königliche Bruder, der Kronprinz, das Haupt der Geistlichkeit, der Adel, der Magistrat, die Bürger und Handwerker, die Hochländer, sie sind alle mit gleich sicherer Hand gezeichnet und mit gleicher Wahrheit getroffen.«
»Die Engländer«, sagte Frau von Goethe, »lieben besonders den Charakter des Henry Smith, und Walter Scott scheint ihn auch zum Helden des Buchs gemacht zu haben. Mein Favorit ist er nicht; mir könnte der Prinz gefallen.«»Der Prinz«, sagte ich, »bleibt bei aller Wildheit immer noch liebenswürdig genug, und er ist vollkommen so gut gezeichnet wie irgendein anderer.«
»Wie er, zu Pferde sitzend,« sagte Goethe, »das hübsche Zithermädchen auf seinen Fuß treten läßt, um sie zu einem Kuß zu sich heranzuheben, ist ein Zug von der verwegensten englischen Art. Aber ihr Frauen habt unrecht, wenn ihr immer Partei macht; ihr leset gewöhnlich ein Buch, um darin Nahrung für euer Herz zu finden, einen Helden, den ihr lieben könntet! So soll man aber eigentlich nicht lesen, und es kommt gar nicht darauf an, daß euch dieser oder jener Charakter gefalle, sondern daß euch das Buch gefalle.«
»Wir Frauen sind nun einmal so, lieber Vater«, sagte Frau von Goethe, indem sie über den Tisch neigend ihm die Hand drückte. - »Man muß euch schon in eurer Liebenswürdigkeit gewähren lassen«, erwiderte Goethe.
Das neueste Stück des "Globe" lag neben ihm, das er zur Hand nahm. Ich sprach derweile mit Frau von Goethe über junge Engländer, deren Bekanntschaft ich im Theater gemacht.
»Was aber die Herren vom "Globe" für Menschen sind,« begann Goethe wieder mit einigem Feuer, »wie die mit jedem Tage größer, bedeutender werden und alle wie von einem Sinne durchdrungen sind, davon hat man kaum einen Begriff. In Deutschland wäre ein solches Blatt rein unmöglich. Wir sind lauter Partikuliers, an Übereinstimmung ist nicht zudenken; jeder hat die Meinungen seiner Provinz, seiner Stadt, ja seines eigenen Individuums, und wir können noch lange warten, bis wir zu einer Art von allgemeiner Durchbildung kommen.«
Dienstag, den 7. [Montag, den 6.] Oktober 1828
Heute bei Tisch war die heiterste Gesellschaft. Außer den weimarischen Freunden waren auch einige von Berlin zurückkehrende Naturforscher zugegen, unter denen Herr von Martius aus München, der an Goethes Seite saß, mir bekannt war. Über die mannigfaltigsten Dinge wurde hin und her gescherzt und gesprochen. Goethe war von besonders guter Laune und überaus mitteilend. Das Theater kam zur Sprache, die letzte Oper, "Moses" von Rossini, ward viel beredet. Man tadelte das Sujet, man lobte und tadelte die Musik; Goethe äußerte sich folgendermaßen.
»Ich begreife euch nicht, ihr guten Kinder,« sagte er, »wie ihr Sujet und Musik trennen und jedes für sich genießen könnt. Ihr sagt, das Sujet tauge nicht, aber ihr hättet es ignoriert und euch an der trefflichen Musik erfreuet. Ich bewundere wirklich die Einrichtung eurer Natur, und wie eure Ohren imstande sind, anmutigen Tönen zu lauschen, während der gewaltigste Sinn, das Auge, von den absurdesten Gegenständen geplagt wird.
Und daß euer "Moses" doch wirklich gar zu absurd ist, werdet ihr nicht leugnen. Sowie der Vorhang aufgeht, stehen die Leute da und beten! Dies ist sehr unpassend. Wenn du beten willst, steht geschrieben, so gehe in dein Kämmerlein und schleuß die Tür hinter dir zu. Aber auf dem Theater soll man nicht beten.
Ich hätte euch einen ganz anderen "Moses" machen wollen und das Stück ganz anders anfangen lassen. Ich hätte euch zuerst gezeigt, wie die Kinder Israel bei schwerem Frondienst von der Tyrannei der ägyptischen Vögte zu leiden haben, damit es nachher desto anschaulicher würde, welche Verdienste sich Moses um sein Volk erworben, das er aus so schändlichem Druck zu befreien gewußt.«
Goethe fuhr fort, mit großer Heiterkeit die ganze Oper Schritt vor Schritt durch alle Szenen und Akte aufzubauen, immer geistreich und voller Leben im historischen Sinne des Sujets und zum freudigen Erstaunen der ganzen Gesellschaft, die den unaufhaltsamen Fluß seiner Gedanken und den heiteren Reichtum seiner Erfindungen zu bewundern hatte. Es ging alles zu rasch vorüber, um es aufzufassen, doch ist mir der Tanz der Agyptier im Gedächtnis geblieben, den Goethe nach der überstandenen Finsternis als Freude über das wiedergegebene Licht eintreten ließ.
Das Gespräch lenkte sich von Moses zurück auf die Sündflut, und so nahm es bald, durch den geistreichen Naturforscher angeregt, eine naturhistorische Wendung.
»Man will«, sagte Herr von Martius, »auf dem Ararat ein Stück von der Arche Noahs versteinert gefunden haben, und es sollte mich wundern, wenn man nicht auch die versteinerten Schädel der ersten Menschen finden sollte.«
Diese Äußerung gab zu ähnlichen Anlaß, und so kam die Unterhaltung auf die verschiedenen Menschenrassen, wie sie als Schwarze, Braune, Gelbe und Weiße die Länder der Erde bewohnen; so daß man mit der Frage schloß, ob denn wirklich anzunehmen, daß alle Menschen von dem einzigen Paare Adam und Eva abstammen.
Herr von Martius war für die Sage der Heiligen Schrift, die er als Naturforscher durch den Satz zu bestätigen suchte, daß die Natur in ihren Produktionen höchst ökonomisch zu Werke gehe.
»Dieser Meinung«, sagte Goethe, »muß ich widersprechen. Ich behaupte vielmehr, daß die Natur sich immer reichlich, ja verschwenderisch erweise, und daß es weit mehr in ihrem Sinne sei, anzunehmen, sie habe statt eines einzigen armseligen Paares die Menschen gleich zu Dutzenden, ja zu Hunderten hervorgehen lassen.
Als nämlich die Erde bis zu einem gewissen Punkt der Reife gediehen war, die Wasser sich verlaufen hatten und das Trockene genugsam grünete, trat die Epoche der Menschwerdung ein, und es entstanden die Menschen durch die Allmacht Gottes überall, wo der Boden es zuließ, und vielleicht auf den Höhen zuerst. Anzunehmen, daß dieses geschehen, halte ich für vernünftig; allein darüber nachzusinnen, wie es geschehen, halte ich für ein unnützes Geschäft, das wir denen überlassen wollen, die sich gerne mit unauflösbaren Problemen beschäftigen und die nichts Besseres zu tun haben.«
»Wenn ich auch«, sagte Herr von Martius mit einiger Schalkheit,»mich als Naturforscher von der Ansicht Eurer Exzellenz gerne überzeugen ließ, so fühle ich mich doch als guter Christ in einiger Verlegenheit, zu einer Meinung überzutreten, die mit den Aussagen der Bibel nicht wohl zu vereinigen sein möchte.«
»Die Heilige Schrift«, erwiderte Goethe, »redet allerdings nur von Einem Menschenpaare, das Gott am sechsten Tage erschaffen. Allein die begabten Männer, welche das Wort Gottes aufzeichneten, das uns die Bibel überliefert, hatten es zunächst mit ihrem auserwählten Volke zu tun, und so wollen wir auch diesem die Ehre seiner Abstammung von Adam keineswegs streitig machen. Wir andern aber, sowie auch die Neger und Lappländer, und schlanke Menschen, die schöner sind als wir alle, hatten gewiß auch andere Urväter; wie denn die werte Gesellschaft gewiß zugeben wird, daß wir uns von den echten Abkömmlingen Adams auf eine gar mannigfaltige Weise unterscheiden, und daß sie, besonders was das Geld betrifft, es uns allen zuvortun.«
Wir lachten. Das Gespräch mischte sich allgemein; Goethe, durch Herrn von Martius zu Widersprüchen angeregt, sagte noch manches bedeutende Wort, das, den Schein des Scherzes tragend, dennoch aus dem Grund eines tieferen Hinterhaltes hervorging. Nach aufgehobener Tafel ließ sich der preußische Minister, Herr von Jordan, melden, und wir zogen uns in das angrenzende Zimmer.
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