> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 03.03.- 11.03.1831 (59)

2014-11-28

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 03.03.- 11.03.1831 (59)




Donnerstag, den 3. März 1831



Mittags mit Goethe. Er sah einige architektonische Hefte durch und meinte, es gehöre einiger Übermut dazu, Paläste zu bauen, indem man nie sicher sei, wie lange ein Stein auf dem andern bleiben würde. »Wer in Zelten leben kann,« sagte er,»steht sich am besten. Oder wie gewisse Engländer tun, die von einer Stadt und einem Wirtshaus ins andere ziehen und überall eine hübsche Tafel gedeckt finden.«

Sonntag, den 6. März 1831



Mit Goethe zu Tisch in mancherlei Unterhaltungen. Wir reden auch von Kindern und deren Unarten, und er vergleicht sie den Stengelblättern einer Pflanze, die nach und nach von selber abfallen, und wobei man es nicht so genau und so strenge zunehmen brauche.



»Der Mensch«, sagte er, »hat verschiedene Stufen, die er durchlaufen muß, und jede Stufe führt ihre besonderen Tugenden und Fehler mit sich, die in der Epoche, wo sie kommen, durchaus als naturgemäß zu betrachten und gewissermaßen recht sind. Auf der folgenden Stufe ist er wieder ein anderer, von den früheren Tugenden und Fehlern ist keine Spur mehr, aber andere Arten und Unarten sind an deren Stelle getreten. Und so geht es fort, bis zu der letzten Verwandlung, von der wir noch nicht wissen, wie wir sein werden.«



Zum Nachtisch las Goethe mir sodann einige seit 1775 sich erhaltene Fragmente von "Hanswursts Hochzeit". Kilian Brustfleck eröffnet das Stück mit einem Monolog, worin er sich beklagt, daß ihm Hanswursts Erziehung trotz aller Mühe so schlecht geglückt sei. Die Szene sowie alles übrige war ganz im Tone des "Faust" geschrieben. Eine gewaltige produktive Kraft bis zum Übermut sprach sich in jeder Zeile aus, und ich bedauerte bloß, daß es so über alle Grenzen hinausgehe, daß selbst die Fragmente sich nicht mitteilen lassen. Goethe las mir darauf den Zettel der im Stück spielenden Personen, die fast drei Seiten füllten und sich gegen hundert belaufen mochten. Es waren alle erdenklichen Schimpfnamen, mitunter von der derbsten lustigsten Sorte, so daß man nicht aus dem Lachen kam. Manche gingen auf körperliche Fehler und zeichneten eine Figur dermaßen, daß sie lebendig vor die Augen trat; andere deuteten auf die mannigfaltigsten Unarten und Laster und ließen einen tiefen Blick in die Breite der unsittlichen Welt voraussetzen. Wäre das Stück zustande gekommen, so hätte man die Erfindung bewundern müssen, der es geglückt, so mannigfaltige symbolische Figuren in eine einzige lebendige Handlung zu verknüpfen.



»Es war nicht zu denken, daß ich das Stück hätte fertigmachen können,« sagte Goethe, »indem es einen Gipfel von Mutwillen voraussetzte, der mich wohl augenblicklich anwandelte, aber im Grunde nicht in dem Ernst meiner Natur lag, und auf dem ich mich also nicht halten konnte. Und dann sind in Deutschland unsere Kreise zu beschränkt, als daß man mit so etwas hätte hervortreten können. Auf einem breiten Terrain wie Paris mag dergleichen sich herumtummeln, so wie man auch dort wohl ein Beranger sein kann, welches in Frankfurt oder Weimar gleichfalls nicht zu denken wäre.«

Dienstag, den 8. März 1831



Heute mit Goethe zu Tisch erzählte er mir zunächst, daß er den "Ivanhoe" lese. »Walter Scott ist ein großes Talent,« sagte er,»das nicht seinesgleichen hat, und man darf sich billig nicht verwundern, daß er auf die ganze Lesewelt so außerordentliche Wirkungen hervorbringt. Er gibt mir viel zu denken, und ich entdecke in ihm eine ganze neue Kunst, die ihre eigenen Gesetze hat.«



Wir sprachen sodann über den vierten Band der Biographie und waren im Hin- und Widerreden über das Dämonische begriffen, ehe wir es uns versahen.



»In der Poesie«, sagte Goethe, »ist durchaus etwas Dämonisches, und zwar vorzüglich in der unbewußten, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Begriffe wirkt.



Desgleichen ist es in der Musik im höchsten Grade, denn sie steht so hoch, daß kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande ist, sich Rechenschaft zu geben. Der religiöse Kultus kann sie daher auch nicht entbehren; sie ist eins der ersten Mittel, um auf die Menschen wunderbar zu wirken. So wirft sich auch das Dämonische gern in bedeutende Individuen, vorzüglich wenn sie eine hohe Stellung haben, wie Friedrich und Peter der Große.



Beim verstorbenen Großherzog war es in dem Grade, daß niemand ihm widerstehen konnte. Er übte auf die Menschen eine Anziehung durch seine ruhige Gegenwart, ohne daß er sich eben gütig und freundlich zu erweisen brauchte. Alles, was ich auf seinen Rat unternahm, glückte mir, so daß ich in Fällen, wo mein Verstand und meine Vernunft nicht hinreichte, ihn nur zu fragen brauchte, was zu tun sei, wo er es denn instinktmäßig aussprach und ich immer im voraus eines guten Erfolgs gewiß sein konnte.



Ihm wäre zu gönnen gewesen, daß er sich meiner Ideen und höheren Bestrebungen hätte bemächtigen können; denn wenn ihn der dämonische Geist verließ und nur das Menschliche zurückblieb, so wußte er mit sich nichts anzufangen, und er war übel daran.



Auch in Byron mag das Dämonische in hohem Grade wirksam gewesen sein, weshalb er auch die Attrattiva in großer Masse besessen, so daß ihm denn besonders die Frauen nicht haben widerstehen können.«



»In die Idee vom Göttlichen«, sagte ich versuchend, »scheint die wirkende Kraft, die wir das Dämonische nennen, nicht einzugehen.«



»Liebes Kind,« sagte Goethe, »was wissen wir denn von der Idee des Göttlichen, und was wollen denn unsere engen Begriffe vom höchsten Wesen sagen! Wollte ich es, gleich einem Türken, mit hundert Namen nennen, so würde ich doch noch zu kurz kommen und im Vergleich so grenzenloser Eigenschaften noch nichts gesagt haben.

«Mittwoch, den 9. März 1831



Goethe fuhr heute fort, mit der höchsten Anerkennung über Walter Scott zu reden.



»Man liest viel zu viel geringe Sachen«, sagte er, »womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter nichts hat. Man sollte eigentlich immer nur das lesen, was man bewundert, wie ich in meiner Jugend tat und wie ich es nun an Walter Scott erfahre. Ich habe jetzt den "Rob Roy" angefangen und will so seine besten Romane hintereinander durchlesen. Da ist freilich alles groß, Stoff, Gehalt, Charaktere, Behandlung, und dann der unendliche Fleiß in den Vorstudien, so wie in der Ausführung die große Wahrheit des Details! Man sieht aber, was die englische Geschichte ist, und was es sagen will, wenn einem tüchtigen Poeten eine solche Erbschaft zuteil wird. Unsere deutsche Geschichte in fünf Bänden ist dagegen eine wahre Armut, so daß man auch nach dem "Götz von Berlichingen" sogleich ins Privatleben ging und eine "Agnes Bernauerin" und einen "Otto von Wittelsbach" schrieb, womit freilich nicht viel getan war.«



Ich erzählte, daß ich "Daphnis und Chloe" lese, und zwar in der Übersetzung von Courier. »Das ist auch ein Meisterstück,«sagte Goethe, »das ich oft gelesen und bewundert habe, worin Verstand, Kunst und Geschmack auf ihrem höchsten Gipfel erscheinen, und wogegen der gute Virgil freilich ein wenig zurücktritt. Das landschaftliche Lokal ist ganz im Poussinischen Stil und erscheint hinter den Personen mit sehr wenigen Zügen vollendet.



Sie wissen, Courier hat in der Bibliothek zu Florenz eine neue Handschrift gefunden mit der Hauptstelle des Gedichts, welche die bisherigen Ausgaben nicht hatten. Nun muß ich bekennen, daß ich immer das Gedicht in seiner mangelhaften Gestalt gelesen und bewundert habe, ohne zu fühlen und zu bemerken ,daß der eigentliche Gipfel fehlte. Es mag aber dieses für die Vortrefflichkeit des Gedichts zeugen, indem das Gegenwärtige uns so befriedigte, daß man an ein Abwesendes gar nicht dachte.«



Nach Tisch zeigte Goethe mir eine von Coudray gezeichnete höchst geschmackvolle Tür des Dornburger Schlosses, mit einer lateinischen Inschrift, ungefähr dahin lautend, daß der Einkehrende freundlich empfangen und bewirtet werden solle und man dem Vorbeiziehenden die glücklichsten Pfade wünsche.



Goethe hatte diese Inschrift in ein deutsches Distichon verwandelt und als Motto über einen Brief gesetzt, den er im Sommer 1828, nach dem Tode des Großherzogs, bei seinem Aufenthalt ein Dornburg an den Obersten von Beulwitz geschrieben. Ich hatte von diesem Brief damals viel im Publikum reden hören, und es war mir nun sehr lieb, daß Goethe mir ihn heute mit jener gezeichneten Tür vorlegte.



Ich las den Brief mit großem Interesse und hatte daran zu bewundern, wie er die Lokalität des Dornburger Schlosses sowohl als das untere Terrain im Tale benutzt, um daran die größten Ansichten zu knüpfen, und zwar Ansichten solcher Art, um den Menschen nach einem erlittenen großen Verlust durchaus wieder aufzurichten und auf die frischesten Füße zu stellen. Ich war über diesen Brief sehr glücklich, indem ich für mich bemerkte, daß man nach einem guten Stoff nicht weit zu reisen brauche, sondern daß alles auf einen tüchtigen Gehalt im Innern des Dichters ankomme, um aus den geringsten Anlässen etwas Bedeutendes zu machen.



Goethe legte den Brief und die Zeichnung in eine besondere Mappe zusammen, um beides für die Zukunft zu erhalten.

Donnerstag, den 10. März 1831



Ich las heute mit dem Prinzen Goethes Novelle vom Tiger und Löwen, worüber der Prinz sehr glücklich war, indem er den Effekt einer großen Kunst empfand, und ich nicht weniger glücklich, indem ich in das geheime Gewebe einer vollendeten Komposition deutlich hineinsah. Ich empfand daran eine gewisse Allgegenwart des Gedankens, welches daher entstanden sein mag, daß der Dichter den Gegenstand so viele Jahre in seinem Innern hegte und dadurch so sehr Herr seines Stoffes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in höchster Klarheit zugleich übersehen und jede einzelne Partie geschickt dahinstellen konnte, wo sie für sich notwendig war und zugleich das Kommende vorbereitete und darauf hinwirkte. Nun bezieht sich alles vorwärts und rückwärts und ist zugleich an seiner Stelle recht, so daß man als Komposition sich nicht leicht etwas Vollkommeneres denken kann. Indem wir weiter lasen, empfand ich den lebhaften Wunsch, daß Goethe selbst dieses Juwel einer Novelle als ein fremdes Werk möchte betrachten können. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des Gegenstandes grade ein sehr günstiges Maß habe, sowohl für den Poeten, um alles klug durcheinander zu verarbeiten, als für den Leser, um dem Ganzen wie dem Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beizukommen.

Freitag, den 11. März 1831



Mit Goethe zu Tisch in mannigfaltigen Gesprächen. »Bei Walter Scott«, sagte er, »ist es eigen, daß eben sein großes Verdienst in Darstellung des Details ihn oft zu Fehlern verleitet. So kommt im "Ivanhoe" eine Szene vor, wo man nachts in der Halle eines Schlosses zu Tische sitzt und ein Fremder hereintritt. Nun ist es zwar recht, daß er den Fremden von oben herab beschrieben hat, wie er aussieht und wie er gekleidet ist, allein es ist ein Fehler, daß er auch seine Füße, seine Schuhe und Strümpfe beschreibt. Wenn man abends am Tisch sitzt und jemand hereintritt, so sieht man nur seinen obern Körper. Beschreibe ich aber die Füße, so tritt sogleich das Licht des Tages herein, und die Szene verliert ihren nächtlichen Charakter.«Ich fühlte das Überzeugende solcher Worte und merkte sie mir für künftige Fälle.



Goethe fuhr sodann fort, mit großer Bewunderung über Walter Scott zu reden. Ich ersuchte ihn, seine Ansichten zu Papiere zubringen, welches er jedoch mit dem Bemerken ablehnte, daß die Kunst in jenem Schriftsteller so hoch stehe, daß es schwer sei, sich darüber öffentlich mitzuteilen.


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