> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 04.02.- 12.02.1829 (37)

2014-11-24

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 04.02.- 12.02.1829 (37)




1829


Mittwoch, den 4. Februar 1829


»Ich habe im Schubarth zu lesen fortgefahren,« sagte Goethe;»er ist freilich ein bedeutender Mensch, und er sagt sogar manches sehr Vorzügliche, wenn man es sich in seine eigene Sprache übersetzt. Die Hauptrichtung seines Buches geht darauf hinaus: daß es einen Standpunkt außerhalb der Philosophie gebe, nämlich den des gesunden Menschenverstandes, und daß Kunst und Wissenschaft, unabhängig von der Philosophie, mittels freier Wirkung natürlicher menschlicher Kräfte, immer am besten gediehen sei. Dies ist durchaus Wasser auf unsere Mühle. Von der Philosophie habe ich mich selbst immer freier gehalten, der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes war auch der meinige, und Schubarth bestätiget also, was ich mein ganzes Leben selber gesagt und getan habe.


Das einzige, was ich an ihm nicht durchaus loben kann, ist, daß er gewisse Dinge besser weiß, als er sie sagt, und daß er also nicht immer ganz ehrlich zu Werke geht. So wie Hegel zieht auch er die christliche Religion in die Philosophie herein, die doch nichts darin zu tun hat. Die christliche Religion ist ein mächtiges Wesen für sich, woran die gesunkene und leidende Menschheit von Zeit zu Zeit sich immer wieder empor gearbeitet hat; und indem man ihr diese Wirkung zugesteht, ist sie über aller Philosophie erhaben und bedarf von ihr keiner Stütze. So auch bedarf der Philosoph nicht das Ansehen der Religion, um gewisse Lehren zu beweisen, wie z. B. die einer ewigen Fortdauer. Der Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht, es ist seiner Natur gemäß, und er darf auf religiöse Zusagen bauen; wenn aber der Philosoph den Beweis für die Unsterblichkeit unserer Seele aus einer Legende hernehmen will, so ist das sehr schwach und will nicht viel heißen. Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag.«


Mein Herz schlug bei diesen Worten vor Bewunderung und Liebe. Ist doch, dachte ich, nie eine Lehre ausgesprochen worden, die mehr zu edlen Taten reizt als diese; denn wer will nicht bis an sein Ende unermüdlich wirken und handeln, wenn er darin die Bürgschaft eines ewigen Lebens findet.


Goethe ließ ein Portefeuille mit Handzeichnungen und Kupferstichen vorlegen. Nachdem er einige Blätter stille betrachtet und umgewendet, reichte er mir einen schönen Stich nach einem Gemälde von Ostade. »Hier«, sagte er, »haben Sie die Szene zu unserm "Good man and good wife".« Ich betrachtete das Blatt mit großer Freude. Ich sah das Innere einer Bauernwohnung vorgestellt, wo Küche, Wohn- und Schlafzimmer alles in Einem und nur ein Raum war. Mann und Frau saßen sich nahe gegenüber, die Frau spinnend, der Mann Garn windend, ein Bube zu ihren Füßen. Im Hintergründe sah man ein Bette, so wie überall nur das roheste, allernotwendigste Hausgeräte; die Tür ging unmittelbar ins Freie. Den Begriff beschränkten ehelichen Glückes gab dieses Blatt vollkommen; Zufriedenheit, Behagen und ein gewisses Schwelgen in liebenden ehelichen Empfindungen lag auf den Gesichtern vom Manne und der Frau, wie sie sich einander anblickten. »Es wird einem wohler zumute,« sagte ich, »je länger man dieses Blatt ansieht; es hat einen Reiz ganz eigener Art.« - »Es ist der Reiz der Sinnlichkeit,« sagte Goethe, »den keine Kunst entbehren kann und der in Gegenständen solcher Art in seiner ganzen Fülle herrscht. Bei Darstellungen höherer Richtung dagegen, wo der Künstler ins Ideelle geht, ist es schwer, daß die gehörige Sinnlichkeit mitgehe, und daß er nicht trocken und kalt werde. Da können nun Jugend oder Alter günstig oder hinderlich sein, und der Künstler muß daher seine Jahre bedenken und danach seine Gegenstände wählen. Meine "Iphigenie" und mein "Tasso" sind mir gelungen, weil ich jung genug war, um mit meiner Sinnlichkeit das Ideelle des Stoffes durchdringen und beleben zu können. Jetzt in meinem Alter wären so ideelle Gegenstände nicht für mich geeignet, und ich tue vielmehr wohl, solche zu wählen, wo eine gewisse Sinnlichkeit bereits im Stoffe liegt. Wenn Genasts hier bleiben, so schreibe ich euch zwei Stücke, jedes in einem Akt und in Prosa: das eine von der heitersten Art, mit einer Hochzeit endend, das andere grausam und erschütternd, so daß am Ende zwei Leichname Zurückbleiben. Das erstere rührt noch aus Schillers Zeit her, und er hat auf mein Antreiben schon eine Szene davon geschrieben. Beide Sujets habe ich lange durchdacht, und sie sind mir so vollkommen gegenwärtig, daß ich jedes in acht Tagen diktieren wollte, wie ich es mit meinem "Bürgergeneral" getan habe.«


»Tun Sie es,« sagte ich, »schreiben Sie die beiden Stücke auf jeden Fall; es ist Ihnen nach den "Wanderjahren" eine Erfrischung und wirkt wie eine kleine Reise. Und wie würde die Welt sich freuen, wenn Sie dem Theater noch etwas zuliebe täten, was niemand mehr erwartet!«


»Wie gesagt,« fuhr Goethe fort, »wenn Genasts hier bleiben, so bin ich gar nicht sicher, daß ich euch nicht den Spaß mache. Aber ohne diese Aussicht wäre dazu wenig Reiz, denn ein Stück auf dem Papiere ist gar nichts. Der Dichter muß die Mittel kennen, mit denen er wirken will, und er muß seine Rolle denen Figuren auf den Leib schreiben, die sie spielen sollen. Habe ich also auf Genast und seine Frau zu rechnen, und nehme ich dazu La Roche, Herrn Winterberger und Madame Seidel, so weiß ich, was ich zu tun habe, und kann der Ausführung meiner Intentionen gewiß sein.


«Für das Theater zu schreiben,« fuhr Goethe fort, »ist ein eigenes Ding, und wer es nicht durch und durch kennet, der mag es unterlassen. Ein interessantes Faktum, denkt jeder, werde auch interessant auf den Brettern erscheinen; aber mitnichten!- Es können Dinge ganz hübsch zu lesen und hübsch zu denken sein, aber auf die Bretter gebracht, sieht das ganz anders aus, und was uns im Buche entzückte, wird uns von der Bühne herunter vielleicht kalt lassen. Wenn man meinen "Hermann und Dorothea" lieset, so denkt man, das wäre auch auf dem Theater zu sehen. Töpfer hat sich verführen lassen, es hinaufzubringen; allein was ist es, was wirkt es, zumal wenn es nicht ganz vorzüglich gespielt wird, und wer kann sagen, daß es in jeder Hinsicht ein gutes Stück sei? - Für das Theater zu schreiben ist ein Metier, das man kennen soll, und will ein Talent, das man besitzen muß. Beides ist selten, und wo es sich nicht vereinigt findet, wird schwerlich etwas Gutes an den Tag kommen.«
Montag, den 9. [8.] Februar 1829


Goethe sprach viel über die "Wahlverwandtschaften", besonders daß jemand sich in der Person des Mittler getroffen gefunden, den er früher im Leben nie gekannt und gesehen.»Der Charakter«, sagte er, »muß also wohl einige Wahrheit haben und in der Welt mehr als einmal existieren. Es ist in den "Wahlverwandtschaften" überhaupt keine Zeile, die ich nicht selber erlebt hätte, und es steckt darin mehr, als irgendjemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen imstande wäre.«
Dienstag, den 10. [?] Februar 1829


Ich fand Goethe umringt von Karten und Plänen in bezug auf den Bremer Hafenbau, für welches großartige Unternehmen er ein besonderes Interesse zeigte.


Sodann viel über Merck gesprochen, von welchem er mir eine poetische Epistel an Wieland vom Jahre 1776 vorlieset, in höchst geistreichen aber etwas derben Knittelversen. Der sehr heitere Inhalt geht besonders gegen Jacobi, den Wieland in einer zu günstigen Rezension im "Merkur" überschätzt zuhaben scheint, welches Merck ihm nicht verzeihen kann. Über den Zustand damaliger Kultur, und wie schwer es gehalten, aus der sogenannten Sturm- und Drangperiode sich zu einer höheren Bildung zu retten.


Über seine ersten Jahre in Weimar. Das poetische Talent im Konflikt mit der Realität, die er durch seine Stellung zum Hof und verschiedenartige Zweige des Staatsdienstes zu höherem Vorteil in sich aufzunehmen genötigt ist. Deshalb in den ersten zehn Jahren nichts Poetisches von Bedeutung hervorgebracht. Fragmente vorgelesen. Durch Liebschaften verdüstert. Der Vater fortwährend ungeduldig gegen das Hofleben.


Vorteile, daß er den Ort nicht verändert, und daß er dieselbigen Erfahrungen nicht nötig gehabt, zweimal zu machen.


Flucht nach Italien, um sich zu poetischer Produktivität wiederherzustellen. Aberglaube, daß er nicht hinkomme, wenn jemand darum wisse. Deshalb tiefes Geheimnis. Von Rom aus an den Herzog geschrieben.


Aus Italien zurück mit großen Anforderungen an sich selbst. Herzogin Amalie. Vollkommene Fürstin mit vollkommen menschlichem Sinne und Neigung zum Lebensgenuß. Sie hat große Liebe zu seiner Mutter und wünscht, daß sie für immer nach Weimar komme. Er ist dagegen.


Über die ersten Anfänge des "Faust":


 Der "Faust" entstand mit meinem "Werther"; ich brachte ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich hatte ihn auf Postpapier geschrieben und nichts daran gestrichen; denn ich hütete mich, eine Zeile niederzuschreiben, die nicht gut war und die nicht bestehen konnte.« 
Mittwoch, den 11. Februar 1829


Mit Oberbaudirektor Coudray bei Goethe zu Tisch. Coudray erzählt viel von der weiblichen Industrieschule und dem Waiseninstitut als den besten Einrichtungen dieser Art des Landes; erstere von der Großfürstin, letzteres vom Großherzog Carl August gegründet. Mancherlei über Theaterdekoration und Wegebau. Coudray legt Goethen den Riß zu einer fürstlichen Kapelle vor. Über den Ort, wo der herrschaftliche Stuhl anzubringen; wogegen Goethe Einwendungen macht, die Coudray annimmt. Nach Tisch Soret. Goethe zeigt uns abermals die Bilder von Herrn von Reutern.
Donnerstag, den 12. Februar 1829


Goethe lieset mir das frisch entstandene, überaus herrliche Gedicht: "Kein Wesen kann zu nichts zerfallen" »Ich habe«, sagte er, »dieses Gedicht als Widerspruch der Verse: "Denn alles muß zu nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will -", geschrieben, welche dumm sind und welche meine Berliner Freunde bei Gelegenheit der Naturforschenden Versammlung zu meinem Ärger in goldenen Buchstaben ausgestellt haben.« Über den großen Mathematiker Lagrange, an welchem Goethe vorzüglich den trefflichen Charakter hervorhebt. »Er war ein guter Mensch,« sagte er, »und eben deswegen groß. Denn wenn ein guter Mensch mit Talent begabt ist, so wird er immer zum Heil der Welt sittlich wirken, sei es als Künstler, Naturforscher, Dichter oder was alles sonst. 


Es ist mir lieb,« fuhr Goethe fort, »daß Sie Coudray gestern näher kennengelernt haben. Er spricht sich in Gesellschaft selten aus, aber so unter uns haben Sie gesehen, welch ein trefflicher Geist und Charakter in dem Manne wohnt. Er hat anfänglich vielen Widerspruch erlitten, aber jetzt hat er sich durchgekämpft und genießt vollkommene Gunst und Vertrauen des Hofes. Coudray ist einer der geschicktesten Architekten unserer Zeit. Er hat sich zu mir gehalten und ich mich zu ihm, und es ist uns beiden von Nutzen gewesen. Hätte ich den vor fünfzig Jahren gehabt!«


Über Goethes eigene architektonische Kenntnisse. Ich bemerke, er müsse viel in Italien gewonnen haben. »Es gab mir einen Begriff vom Ernsten und Großen,« antwortete er, »aber keine Gewandtheit. Der weimarische Schloßbau hat mich vor allem gefördert. Ich mußte mit einwirken und war sogar in dem Fall, Gesimse zeichnen zu müssen. Ich tat es den Leuten von Metier gewissermaßen zuvor, weil ich ihnen in der Intention überlegen war.«


Das Gespräch kam auf Zelter. »Ich habe einen Brief von ihm,« sagte Goethe; »er schreibt unter anderm, daß die Aufführung des "Messias" ihm durch eine seiner Schülerinnen verdorben sei, die eine Arie zu weich, zu schwach, zu sentimental gesungen. Das Schwache ist ein Charakterzug unsers Jahrhunderts. Ich habe die Hypothese, daß es in Deutschland eine Folge der Anstrengung ist, die Franzosen loszuwerden. Maler, Naturforscher, Bildhauer, Musiker, Poeten, es ist mit wenigen Ausnahmen alles schwach, und in der Masse steht es nicht besser.«


»Doch«, sagte ich, »gebe ich die Hoffnung nicht auf, zum "Faust" eine passende Musik kommen zu sehen.« 


»Es ist ganz unmöglich«, sagte Goethe. »Das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik müßte im Charakter des "Don Juan" sein; Mozart hätte den "Faust" komponieren müssen. Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig, allein der wird sich auf so etwas nicht einlassen; er ist zu sehr mit italienischen Theatern verflochten.«


Sodann, ich weiß nicht mehr, in welcher Verbindung und welchem Bezug, sagte Goethe folgendes sehr Bedeutende.


»Alles Große und Gescheite«, sagte er, »existiert in der Minorität. Es hat Minister gegeben, die Volk und König gegen sich hatten und die ihre großen Plane einsam durchführten. Es ist nie daran zu denken, daß die Vernunft populär werde. Leidenschaften und Gefühle mögen populär werden, aber die Vernunft wird immer nur im Besitz einzelner Vorzüglicher sein.«

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