Montag, den 2 1. Februar 1831
Goethe lobte sehr die neueste Rede von Schelling, womit dieser die Münchener Studenten beruhigt. »Die Rede«, sagte er, »ist durch und durch gut, und man freuet sich einmal wieder über das vorzügliche Talent, das wir lange kannten und verehrten. Es war in diesem Falle ein trefflicher Gegenstand und ein redlicher Zweck, wo ihm denn das Vorzüglichste gelungen ist. Könnte man von dem Gegenstande und Zweck seiner Kabirenschrift dasselbige sagen, so würden wir ihn auch da rühmen müssen, denn seine rhetorischen Talente und Künste hat er auch da bewiesen.«
Schellings "Kabiren" brachten das Gespräch auf die "Klassische Walpurgisnacht" und wie sich diese von den Brockenszenen des ersten Teiles unterscheide.
»Die alte Walpurgisnacht«, sagte Goethe, »ist monarchisch, indem der Teufel dort überall als entschiedenes Oberhaupt respektiert wird; die klassische aber ist durchaus republikanisch, indem alles in der Breite nebeneinander steht, so daß der eine soviel gilt wie der andere, und niemand sich subordiniert und sich um den andern bekümmert.«
»Auch«, sagte ich, »sondert sich in der klassischen alles in scharf umrissene Individualitäten, während auf dem deutschen Blocksberg jedes einzelne sich in eine allgemeine Hexenmasse auflöset.«
»Deshalb«, sagte Goethe, »weiß auch der Mephistopheles, was es zu bedeuten hat, wenn der Homunkulus ihm von thessalischen Hexen redet. Ein guter Kenner des Altertums wird bei dem Wort thessalische Hexen sich auch einiges zudenken vermögen, während es dem Ungelehrten ein bloßer Name bleibt.«»Das Altertum«, sagte ich, »mußte Ihnen doch sehr lebendig sein, um alle jene Figuren wieder so frisch ins Leben treten zulassen und sie mit solcher Freiheit zu gebrauchen und zu behandeln, wie Sie es getan haben.«
»Ohne eine lebenslängliche Beschäftigung mit der bildenden Kunst«, sagte Goethe, »wäre es mir nicht möglich gewesen. Das Schwierige indessen war, sich bei so großer Fülle mäßig zu halten und alle solche Figuren abzulehnen, die nicht durchaus zu meiner Intention paßten. So habe ich z.B. von dem Minotaurus, den Harpyien und einigen andern Ungeheuern keinen Gebrauch gemacht.«
»Aber was Sie in jener Nacht erscheinen lassen,« sagte ich, »ist alles so zusammengehörig und so gruppiert, daß man es sich in der Einbildungskraft leicht und gerne zurückruft und alles willig ein Bild macht. Die Maler werden sich so gute Anlässe auch gewiß nicht entgehen lassen; besonders freue ich mich, den Mephistopheles bei den Phorkyaden zu sehen, wo er im Profil die famöse Maske probiert.«
»Es stecken darin einige gute Späße,« sagte Goethe, »welche die Welt über kurz oder lang auf manche Weise benutzen wird. Wenn die Franzosen nur erst die "Helena" gewahr werden und sehen, was daraus für ihr Theater zu machen ist! Sie werden das Stück, wie es ist, verderben; aber sie werden es zu ihren Zwekken klug gebrauchen, und das ist alles, was man erwarten und wünschen kann. Der Phorkyas werden sie sicher einen Chor von Ungeheuern beigeben, wie es an einer Stelle auch bereits angedeutet ist.«
»Es käme darauf an,« sagte ich, »daß ein tüchtiger Poet von der romantischen Schule das Stück durchweg als Oper behandelte, und Rossini sein großes Talent zu einer bedeutenden Komposition zusammennähme, um mit der "Helena" Wirkung zu tun. Denn es sind darin Anlässe zu prächtigen Dekorationen, überraschenden Verwandlungen, glänzenden Kostümen und reizenden Balletten, wie nicht leicht in einem anderen Stück, ohne zu erwähnen, daß eine solche Fülle von Sinnlichkeit sich auf dem Fundament einer geistreichen Fabel bewegt, wie sie nicht leicht besser erfunden werden dürfte.«
»Wir wollen erwarten,« sagte Goethe, »was uns die Götter Weiteres bringen. Es läßt sich in solchen Dingen nichts beschleunigen. Es kommt darauf an, daß es den Menschen aufgehe, und daß Theaterdirektoren, Poeten und Komponisten darin ihren Vorteil gewahr werden.«
Dienstag, den 22. Februar 1831
Oberkonsistorialrat Schwabe begegnet mir in den Straßen; ich begleite ihn eine Strecke, wo er mir von seinen mannigfaltigen Geschäften erzählt und ich in den bedeutenden Wirkungskreis dieses vorzüglichen Mannes hineinblicke. Er sagt, daß er in den Nebenstunden sich mit Herausgabe eines Bändchens neuer Predigten beschäftige, daß eins seiner Schulbücher kürzlich ins Dänische übersetzt, daß davon vierzigtausend Exemplare verkauft worden und man es in Preußen in den vorzüglichsten Schulen eingeführt habe. Er bittet mich, ihn zu besuchen, welches ich mit Freuden verspreche.
Darauf mit Goethe zu Tisch rede ich über Schwabe, und Goethe stimmt in dessen Lob vollkommen ein. »Die Großherzogin«, sagte er, »schätzet ihn auch im hohen Grade, wie denn diese Dame überhaupt recht gut weiß, was sie an den Leuten hat. Ich werde ihn zu meiner Porträtsammlung zeichnen lassen, und Sie tun sehr wohl, ihn zu besuchen und ihn vorläufig um diese Erlaubnis zu bitten. Besuchen Sie ihn ja, zeigen Sie ihm Teilnahme an dem, was er tut und vorhat. Es wird für Sie von Interesse sein, in einen Wirkungskreis eigener Art hineinzublicken, wovon man doch, ohne einen näheren Verkehr mit einem solchen Mann, keinen rechten Begriff hat.«
Ich verspreche, dieses zu tun, indem die Kenntnis praktisch tätiger, das Nützliche befördernder Menschen meine wahre Neigung ist.
Vor Tisch, bei einem Spaziergange auf der Erfurter Chaussee, begegnet mir Goethe, welcher halten läßt und mich in seinen Wagen nimmt. Wir fahren eine gute Strecke hinaus bis auf die Höhe neben das Tannenhölzchen und reden über naturhistorische Dinge.
Die Hügel und Berge waren mit Schnee bedeckt, und ich erwähne die große Zartheit des Gelben, und daß in der Entfernung von einigen Meilen, mittelst zwischenliegender Trübe, ein Dunkeles eher blau erscheine, als ein Weißes gelb. Goethe stimmet mir zu, und wir sprechen sodann von der hohen Bedeutung der Urphänomene, hinter welchen man unmittelbar die Gottheit zu gewahren glaube.
»Ich frage nicht,« sagte Goethe, »ob dieses höchste Wesen Verstand und Vernunft habe, sondern ich fühle: es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschöpfe sind davon durchdrungen, und der Mensch hat davon soviel, daß er Teile des Höchsten erkennen mag.«
Bei Tisch kam das Bestreben gewisser Naturforscher zur Erwähnung, die, um die organische Welt zu durchschreiten, von der Mineralogie aufwärts gehen wollen. »Dieses ist ein großer Irrtum«, sagte Goethe. »In der mineralogischen Welt ist das Einfachste das Herrlichste, und in der organischen ist es das Komplizierteste. Man sieht also, daß beide Welten ganz verschiedene Tendenzen haben, und daß von der einen zur andern keineswegs ein stufenartiges Fortschreiten stattfindet.«Ich merkte mir dieses als von großer Bedeutung.
Donnerstag, den 24. Februar 1831
Ich lese Goethes Aufsatz über Zahn in den "Wiener Jahrbüchern" den ich bewundere, indem ich die Prämissen bedenke, die es voraussetzte, um ihn zu schreiben.
Bei Tisch erzählet mir Goethe, daß Soret bei ihm gewesen, und daß sie in der Übersetzung der "Metamorphose" einen hübschen Fortschritt gemacht.
»Das Schwierige bei der Natur«, sagte Goethe, »ist: das Gesetz auch da zu sehen, wo es sich uns verbirgt, und sich nicht durch Erscheinungen irre machen zu lassen, die unsern Sinnen widersprechen. Denn es widerspricht in der Natur manches den Sinnen und ist doch wahr. Daß die Sonne still stehe, daß sie nicht auf- und untergehe, sondern daß die Erde sich täglich in undenkbarer Geschwindigkeit herumwälze, widerspricht den Sinnen, so stark wie etwas, aber doch zweifelt kein Unterrichteter, daß es so sei. Und so kommen auch widersprechende Erscheinungen im Pflanzenreiche vor, wobei man sehr auf seiner Hut sein muß, sich dadurch nicht auf falsche Wege leiten zu lassen.
«Sonnabend, den 26. Februar 1831
Ich las heute viel in Goethes "Farbenlehre" und freute mich, zu bemerken, daß ich diese Jahre her, durch vielfache Übung mit den Phänomenen, in das Werk so hineingewachsen, um jetzt seine großen Verdienste mit einiger Klarheit empfinden zu können. Ich bewundere, was es gekostet hat, ein solches Werk zusammenzubringen, indem mir nicht bloß die letzten Resultate erscheinen, sondern indem ich tiefer blicke, was alles durchgemacht worden, um zu festen Resultaten zu gelangen.
Nur ein Mensch von großer moralischer Kraft konnte das durchführen, und wer es ihm nachtun wollte, müßte sich daran sehr hoch hinaufbringen. Alles Unzarte, Unwahre, Egoistische würde aus der Seele verschwinden müssen, oder die reine wahre Natur würde ihn verschmähen. Bedächten dieses die Menschen, so würden sie gern einige Jahre ihres Lebens daran wenden und den Kreis einer solchen Wissenschaft auf solche Weise durchmachen, um daran Sinne, Geist und Charakter zuprüfen und zu erbauen. Sie würden Respekt vor dem Gesetzlichen gewinnen und dem Göttlichen so nahe treten, als es einem irdischen Geiste überall nur möglich.
Dagegen beschäftiget man sich viel zu viel mit Poesie und übersinnlichen Mysterien, welche subjektive nachgiebige Dinge sind, die an den Menschen weiter keine Anforderungen machen, sondern ihm schmeicheln und im günstigen Fall ihn lassen, wie er ist.
In der Poesie ist nur das wahrhaft Große und Reine förderlich, was, wiederum wie eine zweite Natur dasteht und uns entweder zu sich heraufhebt oder uns verschmäht. Eine mangelhafte Poesie hingegen entwickelt unsere Fehler, indem wir die ansteckenden Schwächen des Poeten in uns aufnehmen. Und zwar in uns aufnehmen, ohne es zu wissen, weil wir das unserer Natur Zusagende nicht für mangelhaft erkennen.
Um aber in der Poesie aus Gutem wie aus Schlechtem einigen Vorteil zu ziehen, müßte man bereits auf einer sehr hohen Stufe stehen und ein solches Fundament besitzen, um dergleichen Dinge als außer uns liegende Gegenstände zu betrachten. Deshalb lobe ich mir den Verkehr mit der Natur, die unsere Schwächen auf keine Weise begünstigt, und die entweder etwas aus uns macht, oder überall nichts mit uns zu tun hat.
Montag, den 28. Februar 1831
Ich beschäftige mich den ganzen Tag mit dem Manuskript des vierten Bandes von Goethes "Leben, das er mir gestern zusandte, um zu prüfen, was daran etwa noch zu tun sein möchte. Ich bin glücklich über dieses Werk, indem ich bedenke, was es schon ist und was es noch werden kann. Einige Bücher erscheinen ganz vollendet und lassen nichts Weiteres wünschen. An andern dagegen ist noch ein gewisser Mangel an Kongruenz wahrzunehmen, welches daher entstanden sein mag, daß zu sehr verschiedenen Epochen daran ist gearbeitet worden.
Dieser ganze vierte Band ist sehr verschieden von den drei früheren. Jene sind durchaus fortschreitend in einer gewissen gegebenen Richtung, so daß denn auch der Weg durch viele Jahre geht. Bei diesem dagegen scheint die Zeit kaum zu rükken, auch sieht man kein entschiedenes Bestreben der Hauptperson. Manches wird unternommen, aber nicht vollendet, manches gewollt, aber anders geleitet, und so empfindet man überall eine heimlich einwirkende Gewalt, eine Art von Schicksal, das mannigfaltige Fäden zu einem Gewebe aufzieht, das erst künftige Jahre vollenden sollen.
Es war daher in diesem Bande am Ort, von jener geheimen problematischen Gewalt zu reden, die alle empfinden, die kein Philosoph erklärt, und über die der Religiöse sich mit einem tröstlichen Worte hinaushilft.
Goethe nennet dieses unaussprechliche Welt- und Lebensrätsel das Dämonische, und indem er sein Wesen bezeichnet, fühlen wir, daß es so ist, und es kommt uns vor, als würden vor gewissen Hintergründen unsers Lebens die Vorhänge weggezogen. Wir glauben weiter und deutlicher zu sehen, werden aber bald gewahr, daß der Gegenstand zu groß und mannigfaltig ist, und daß unsere Augen nur bis zu einer gewissen Grenze reichen.
Der Mensch ist überall nur für das Kleine geboren, und er begreift nur und hat nur Freude an dem, was ihm bekannt ist .Ein großer Kenner begreift ein Gemälde, er weiß das verschiedene Einzelne dem ihm bekannten Allgemeinen zu verknüpfen, und das Ganze wie das Einzelne ist ihm lebendig. Er hat auch keine Vorliebe für gewisse einzelne Teile, er fragt nicht, ob ein Gesicht garstig oder schön, ob eine Stelle hell oder dunkel, sondern er fragt, ob alles an seinem Ort stehe und gesetzlich und recht sei. Führen wir aber einen Unkundigen vor ein Gemälde von einigem Umfang, so werden wir sehen, wie ihn das Ganze unberührt lässet oder verwirret, wie einzelne Teile ihn anziehen, andere ihn abstoßen, und wie er am Ende bei ihm bekannten oder kleinen Dingen stehen bleibt, indem er etwa lobt, wie doch dieser Helm und diese Feder so gut gemacht sei.
Im Grunde aber spielen wir Menschen vor dem großen Schicksalsgemälde der Welt mehr oder weniger alle die Rolle dieses Unkundigen. Die Lichtpartien, das Anmutige zieht uns an, die schattigen und widerwärtigen Stellen stoßen uns zurück, das Ganze verwirrt uns, und wir suchen vergebens nach der Idee eines einzigen Wesens, dem wir so Widersprechendes zuschreiben.
Nun kann wohl einer in menschlichen Dingen ein großer Kenner werden, indem es denkbar ist, daß er sich die Kunst und das Wissen eines Meisters vollkommen aneigne, allein in göttlichen Dingen könnte es nur ein Wesen, das dem Höchsten selber gleich wäre. Ja und wenn nun dieses uns solche Geheimnisse überliefern und offenbaren wollte, so würden wir sie nicht zu fassen und nichts damit anzufangen wissen, und wir würden wiederum jenem Unkundigen vor dem Gemälde gleichen, dem der Kenner seine Prämissen, nach denen er urteilt, durch alles Einreden nicht mitzuteilen imstande wäre.
In dieser Hinsicht ist es denn schon ganz recht, daß alle Religionen nicht unmittelbar von Gott selber gegeben worden, sondern daß sie, als das Werk vorzüglicher Menschen, für das Bedürfnis und die Faßlichkeit einer großen Masse ihresgleichen berechnet sind.
Wären sie ein Werk Gottes, so würde sie niemand begreifen; da sie aber ein Werk der Menschen sind, so sprechen sie das Unerforschliche nicht aus.
Die Religion der hochgebildeten alten Griechen kam nicht weiter, als daß sie einzelne Äußerungen des Unerforschlichen durch besondere Gottheiten versinnlichte. Da aber solche Einzelheiten beschränkte Wesen waren und im Ganzen des Zusammenhang seine Lücke blieb, so erfanden sie die Idee des Fatums, das sie über alle setzten, wodurch denn, da dieses wiederum ein vielseitig Unerforschliches blieb, die Angelegenheit mehr abgetan als abgeschlossen wurde.
Christus dachte einen alleinigen Gott, dem er alle die Eigenschaften beilegte, die er in sich selbst als Vollkommenheiten empfand. Er ward das Wesen seines eigenen schönen Innern, voll Güte und Liebe wie er selber, und ganz geeignet, daß gute Menschen sich ihm vertrauensvoll hingeben und diese Idee, als die süßeste Verknüpfung nach oben, in sich aufnehmen.
Da nun aber das große Wesen, welches wir die Gottheit nennen, sich nicht bloß im Menschen, sondern auch in einer reichen gewaltigen Natur und in mächtigen Weltbegebenheiten ausspricht, so kann auch natürlich eine nach menschlichen Eigenschaften von ihm gebildete Vorstellung nicht ausreichen, und der Aufmerkende wird bald auf Unzulänglichkeiten und Widersprüche stoßen, die ihn in Zweifel, ja in Verzweiflung bringen, wenn er nicht entweder klein genug ist, sich durch eine künstliche Ausrede beschwichtigen zu lassen, oder groß genug, sich auf den Standpunkt einer höheren Ansicht zu erheben.
Einen solchen Standpunkt fand Goethe früh in Spinoza, und er erkennet mit Freuden, wie sehr die Ansichten dieses großen Denkers den Bedürfnissen seiner Jugend gemäß gewesen. Er fand in ihm sich selber, und so konnte er sich auch an ihm auf das schönste befestigen.
Und da nun solche Ansichten nicht subjektiver Art waren, sondern in den Werken und Äußerungen Gottes durch die Welt ein Fundament hatten, so waren es nicht Schalen, die er bei seiner eigenen spätem tiefen Welt- und Naturforschung als unbrauchbar abzuwerfen in den Fall kam, sondern es war das anfängliche Keimen und Wurzeln einer Pflanze, die durch viele Jahre in gleich gesunder Richtung fortwuchs und sich zuletzt zu der Blüte einer reichen Erkenntnis entfaltete.
Widersacher haben ihn oft beschuldigt, er habe keinen Glauben. Er hatte aber bloß den ihrigen nicht, weil er ihm zu klein war. Wollte er den seinigen aussprechen, so würden sie erstaunen, aber sie würden nicht fähig sein, ihn zu fassen.
Goethe selbst aber ist weit entfernt zu glauben, daß er das höchste Wesen erkenne, wie es ist. Alle seine schriftlichen und mündlichen Äußerungen gehen darauf hin, daß es ein Unerforschliches sei, wovon der Mensch nur annähernde Spuren und Ahndungen habe.
Übrigens ist die Natur und sind wir Menschen alle vom Göttlichen so durchdrungen, daß es uns hält, daß wir darin leben, weben und sind, daß wir nach ewigen Gesetzen leiden und uns erfreuen, daß wir sie ausüben und daß sie an uns ausgeübt werden, gleichviel ob wir sie erkennen oder nicht.
Schmeckt doch dem Kinde der Kuchen, ohne daß es vom Bäcker weiß, und dem Sperling die Kirsche, ohne daß er daran denkt, wie sie gewachsen ist.
Mittwoch, den 2. März 1831
Heute bei Goethe zu Tisch kam das Gespräch bald wieder aufdas Dämonische, und er fügte zu dessen näheren Bezeichnungnoch folgendes hinzu.
»Das Dämonische«, sagte er, »ist dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist. In meiner Natur liegt es nicht, aber ich bin ihm unterworfen.«
»Napoleon«, sagte ich, »scheint dämonischer Art gewesen zu sein.
«Er war es durchaus«, sagte Goethe, »im höchsten Grade, so daß kaum ein anderer ihm zu vergleichen ist. Auch der verstorbene Großherzog war eine dämonische Natur, voll unbegrenzter Tatkraft und Unruhe, so daß sein eigenes Reich ihm zu klein war, und das größte ihm zu klein gewiesen wäre. Dämonische Wesen solcher Art rechneten die Griechen unter die Halbgötter.«
»Erscheint nicht auch«, sagte ich, »das Dämonische in den Begebenheiten?«
»Ganz besonders,« sagte Goethe, »und zwar in allen, die wir durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen vermögen. Überhaupt manifestiert es sich auf die verschiedenste Weise in der ganzen Natur, in der unsichtbaren wie in der sichtbaren. Manche Geschöpfe sind ganz dämonischer Art, in manchen sind Teile von ihm wirksam.«
»Hat nicht auch«, sagte ich, »der Mephistopheles dämonische Züge?«
»Nein,« sagte Goethe, »der Mephistopheles ist ein viel zu negatives Wesen, das Dämonische aber äußert sich in einer durchaus positiven Tatkraft.
»Unter den Künstlern«, fuhr Goethe fort, »findet es sich mehr bei Musikern, weniger bei Malern. Bei Paganini zeigt es sich im hohen Grade, wodurch er denn auch so große Wirkungen hervorbringt.«
Ich war sehr erfreut über alle diese Bezeichnungen, wodurch es mir nun deutlicher wurde, was Goethe sich unter dem Begriff des Dämonischen dachte.
Wir reden sodann viel über den vierten Band, und Goethe bittet mich aufzuzeichnen, was noch daran möchte zu tun sein.
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