> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 16.03.- 21.04.1830 (51)

2014-11-27

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 16.03.- 21.04.1830 (51)




Dienstag, den 16. März 1830


Morgens besucht mich Herr von Goethe und eröffnet mir, daß seine lange beabsichtigte Reise nach Italien entschieden, daß von seinem Vater die nötigen Gelder bewilligt worden, und daß er wünsche, daß ich mitgehe. Wir freuen uns gemeinschaftlich über diese Nachricht und bereden viel wegen der Vorbereitung.


Als ich darauf gegen Mittag bei Goethes Hause vorbeigehe, winkt Goethe mir am Fenster, und ich bin schnell zu ihm hinauf. Er ist in den vorderen Zimmern und sehr heiter und frisch. Er fängt sogleich an, von der Reise seines Sohnes zu reden, daß er sie billige, sie vernünftig finde und sich freue, daß ich mitgehe.»Es wird für euch beide gut sein,« sagte er, »und Ihre Kultur insbesondere wird sich nicht schlecht dabei befinden.«Er zeigt mir sodann einen Christus mit zwölf Aposteln, und wir reden über das Geistlose solcher Figuren als Gegenstände der Darstellung für den Bildhauer. »Der eine Apostel«, sagte Goethe, »ist immer ungefähr wie der andere, und die wenigsten haben Leben und Taten hinter sich, um ihnen Charakter und Bedeutung zu geben. Ich habe mir bei dieser Gelegenheit den Spaß gemacht, einen Zyklus von zwölf biblischen Figuren zu erfinden, wo jede bedeutend, jede anders, und daher jede ein dankbarer Gegenstand für den Künstler ist.


Zuerst Adam, der schönste Mann, so vollkommen, wie man sich ihn nur zu denken fähig ist. Er mag die eine Hand auf einen Spaten legen, als ein Symbol, daß der Mensch berufen sei, die Erde zu bauen.


Nach ihm Noah, womit wieder eine neue Schöpfung angeht. Er kultiviert den Weinstock, und man kann dieser Figur etwas von einem indischen Bacchus geben.


Nächst diesem Moses, als ersten Gesetzgeber.


Sodann David, als Krieger und König.


Auf diesen Jesaias, ein Fürst und Prophet.


Daniel sodann, der auf Christus, den künftigen, hindeutet, Christus.


Ihm zunächst Johannes, der den gegenwärtigen liebt. Und so wäre denn Christus von zwei jugendlichen Figuren eingeschlossen,von denen der eine (Daniel) sanft und mit langen Haaren zu bilden wäre, der andere (Johannes) leidenschaftlich, mit kurzem Lockenhaar. Nun, auf den Johannes, wer kommt?


Der Hauptmann von Kapernaum, als Repräsentant der Gläubigen, eine unmittelbare Hülfe Erwartenden.


Auf diesen die Magdalena, als Symbol der reuigen, der Vergebung bedürfenden, der Besserung sich zuwendenden Menschheit. In welchen beiden Figuren der Inbegriff des Christentums enthalten wäre.


Dann mag Paulus folgen, welcher die Lehre am kräftigsten verbreitet hat.


Auf diesen Jakobus, der zu den entferntesten Völkern ging und die Missionäre repräsentiert.


Petrus machte den Schluß. Der Künstler müßte ihn in die Nähe der Tür stellen und ihm einen Ausdruck geben, als ober die Herein tretenden forschend betrachte, ob sie denn auch wert seien, das Heiligtum zu betreten.


Was sagen Sie zu diesem Zyklus ? Ich dächte, er wäre reicher als die zwölf Apostel, wo jeder aussieht wie der andere. Den Moses und die Magdalene würde ich sitzend bilden.«


Ich war sehr glücklich, dieses alles zu hören, und bat Goethe, daß er es zu Papier bringen möge, welches er mir versprach.»Ich will es noch alles durchdenken«, sagte er, »und es dann nebst andern neuesten Dingen Ihnen zum neununddreißigsten Band geben.«
Mittwoch, den 17. März 1830


Mit Goethe zu Tisch. Ich sprach mit ihm über eine Stelle in seinen Gedichten, ob es heißen müsse: »Wie es dein Priester Horaz in der Entzückung verhieß«, wie in allen älteren Ausgaben steht; oder: »Wie es dein Priester Properz etc.« welches die neue Ausgabe hat.


»Zu dieser letzteren Lesart«, sagte Goethe, »habe ich mich durch Göttling verleiten lassen. Priester Properz klingt zudem schlecht, und ich bin daher für die frühere Lesart.«


»So«, sagte ich, »stand auch in dem Manuskript Ihrer "Helena", daß Theseus sie entführet als ein zehenjährig schlankes Reh. Auf Göttlings Einwendungen dagegen haben Sie nun drucken lassen: ein siebenjährig schlankes Reh, welches gar zu jung ist, sowohl für das schöne Mädchen als für die Zwillingsbrüder Kastor und Pollux, die sie befreien. Das Ganze liegt ja so in der Fabelzeit, daß niemand sagen kann, wie alt sie eigentlich war, und zudem ist die ganze Mythologie so versatil, daß man die Dinge brauchen kann, wie es am bequemsten und hübschesten ist.«



»Sie haben recht,« sagte Goethe; »ich bin auch dafür, daß sie zehn Jahr alt gewesen sei, als Theseus sie entführet, und ich habe daher auch später geschrieben: vom ¦zehnten Jahr an hat sie nichts getaugt. In der künftigen Ausgabe mögt Ihr daher aus dem siebenjährigen Reh immer wieder ein zehnjähriges machen.«


Zum Nachtisch zeigte Goethe mir zwei frische Hefte von Neureuther, nach seinen Balladen, und wir bewunderten vor allem den freien heitern Geist des liebenswürdigen Künstlers.
Sonntag, den 21. März 1830


Mit Goethe zu Tisch. Er spricht zunächst über die Reise seines Sohnes, und daß wir uns über den Erfolg keine zu große Illusion machen sollen. »Man kommt gewöhnlich zurück, wie man gegangen ist,« sagte er, »ja man muß sich hüten, nicht mit Gedanken zurückzukommen, die später für unsere Zustände nicht passen. So brachte ich aus Italien den Begriff der schönen Treppen zurück, und ich habe dadurch offenbar mein Haus verdorben, indem dadurch die Zimmer alle kleiner ausgefallen sind, als sie hätten sollen. Die Hauptsache ist, daß man lerne, sich selbst zu beherrschen. Wollte ich mich ungehindert gehenlassen, so läge es wohl in mir, mich selbst und meine Umgebung zugrunde zu richten.«


Wir sprachen sodann über krankhafte körperliche Zustände und über die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist.»Es ist unglaublich,« sagte Goethe, »wieviel der Geist zur Erhaltung des Körpers vermag. Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibes, allein der geistige Wille und die Kräfte des oberen Teiles halten mich im Gange. Der Geist muß nur dem Körper nicht nachgeben! So arbeite ich bei hohem Barometerstande leichter als bei tiefem; da ich nun dieses weiß, so suche ich bei tiefem Barometer durch größere Anstrengung die nachteilige Einwirkung aufzuheben, und es gelingt mir.


In der Poesie jedoch lassen sich gewisse Dinge nicht zwingen, und man muß von guten Stunden erwarten, was durch geistigen Willen nicht zu erreichen ist. So lasse ich mir jetzt in meiner "Walpurgisnacht" Zeit, damit alles die gehörige Kraft und Anmut erhalten möge. Ich bin gut vorgerückt und hoffe es zu vollenden, bevor Sie gehen.


Was darin von Piken vorkommt, habe ich so von den besonderen Gegenständen abgelöst und ins Allgemeine gespielt, daß es zwar dem Leser nicht an Beziehungen fehlen, aber niemand wissen wird, worauf es eigentlich gemeint ist. Ich habe jedoch gestrebt, daß alles, im antiken Sinne, in bestimmten Umrissen dastehe, und daß nichts Vages, Ungewisses vorkomme, welches dem romantischen Verfahren gemäß sein mag.


Der Begriff von klassischer und romantischer Poesie, der jetzt über die ganze Welt geht und so viel Streit und Spaltungen verursacht,« fuhr Goethe fort, »ist ursprünglich von mir und Schiller ausgegangen. Ich hatte in der Poesie die Maxime des objektiven Verfahrens und wollte nur dieses gelten lassen. Schiller aber, der ganz subjektiv wirkte, hielt seine Art für die rechte, und um sich gegen mich zu wehren, schrieb er den Aufsatz über naive und sentimentale Dichtung. Er bewies mir, daß ich selber wider Willen romantisch sei und meine "Iphigenie", durch das Vorwalten der Empfindung, keineswegs so klassisch und im antiken Sinne sei, als man vielleicht glauben möchte. Die Schlegel ergriffen die Idee und trieben sie weiter, so daß sie sich denn jetzt über die ganze Welt ausgedehnt hat und nun jedermann von Klassizismus und Romantizismus redet, woran vor fünfzig Jahren niemand dachte.«


Ich lenkte das Gespräch wieder auf den Zyklus der zwölf Figuren, und Goethe sagte mir noch einiges zur Ergänzung.


»Den Adam müßte man bilden, wie ich gesagt, jedoch nicht ganz nackt, indem ich ihn mir am besten nach dem Sündenfall denke; man müßte ihn mit einem dünnen Rehfellchen bekleiden. Und zugleich, um auszudrücken, daß er der Vater der Menschheit, so würde man wohl tun, ihm seinen ältesten Sohn beizugeben, einen trotzigen, kühn um sich blickenden Knaben, einen kleinen Herkules, in der Hand eine Schlange erdrückend.


Auch wegen Noah habe ich einen anderen Gedanken gehabt, der mir besser gefällt; ich würde ihn nicht dem indischen Bacchus anähneln, sondern ich würde ihn als Winzer darstellen, wobei man sich eine Art von Erlöser denken könnte, der, als Pfleger des Weinstocks, die Menschheit von der Qual der Sorgen und Bedrängnisse freimachte.«


Ich war beglückt über diese guten Gedanken und nahm mir vor, sie zu notieren.


Goethe zeigte mir sodann das Blatt von Neureuther zu seiner Legende vom Hufeisen. »Der Künstler«, sagte ich, »hat dem Heiland nur acht Jünger beigegeben.«


»Und schon diese acht«, fiel Goethe ein, »waren ihm zu viel, und er hat sehr klug getrachtet, sie durch zwei Gruppen zutrennen und die Monotonie eines geistlosen Zuges zu vermeiden.«
Mittwoch, den 24. März 1830


Bei Goethe zu Tisch in den heitersten Gesprächen. Er erzählt mir von einem französischen Gedicht, das als Manuskript in der Sammlung von David mitgekommen, unter dem Titel "Lerire de Mirabeau". »Das Gedicht ist voller Geist und Verwegenheit,« sagte Goethe, »und Sie müssen es sehen. Es ist, als hätte der Mephistopheles dem Poeten dazu die Tinte präpariert. Es ist groß, wenn er es geschrieben, ohne den "Faust" gelesen zuhaben, und ebenso groß, wenn er ihn gelesen.«
Mittwoch, den 21. April 1830


Ich nahm heute Abschied von Goethe, indem die Abreise nach Italien mit seinem Sohn, dem Kammerherrn, auf morgen früh bestimmt war. Wir sprachen manches auf die Reise Bezügliche durch, besonders empfahl er mir, gut zu beobachten und ihm dann und wann zu schreiben. Ich fühlte eine gewisse Rührung, Goethe zu verlassen, doch tröstete mich der Anblick seiner festen Gesundheit und die Zuversicht, ihn glücklich wiederzusehen. Als ich ging, schenkte er mir ein Stammbuch, worin er sich mitfolgenden Worten eingeschrieben:

Es geht vorüber, eh’ ichs gewahr werde,
Und verwandelt sich, eh’ ichs merke.

Den Reisenden

Weimar,

den 21. April 

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