Sonntag, den 20. März 1831
Goethe erzählte mir bei Tisch, daß er in diesen Tagen "Daphnis und Chloe" gelesen.
»Das Gedicht ist so schön,« sagte er, »daß man den Eindruck davon, bei den schlechten Zuständen, in denen man lebt, nicht in sich behalten kann und daß man immer von neuem erstaunt, wenn man es wieder liest. Es ist darin der helleste Tag, und man glaubt lauter herkulanische Bilder zu sehen, so wie auch diese Gemälde auf das Buch zurückwirken und unserer Phantasie beim Lesen zu Hülfe kommen.«
»Mir hat«, sagte ich, »eine gewisse Abgeschlossenheit sehr wohlgetan, worin alles gehalten ist. Es kommt kaum eine fremde Anspielung vor, die uns aus dem glücklichen Kreis eher ausführte. Von Gottheiten sind bloß Pan und Nymphen wirksam, eine andere wird kaum genannt, und man sieht auch, daß das Bedürfnis der Hirten an diesen Gottheiten genug hat.«»Und doch, bei aller mäßigen Abgeschlossenheit«, sagte Goethe, »ist darin eine vollständige Welt entwickelt. Wir sehen Hirten aller Art, Feldbau treibende, Gärtner, Winzer, Schiffer, Räuber, Krieger und vornehme Städter, große Herren und Leibeigene.«
»Auch erblicken wir darin«, sagte ich, »den Menschen auf allen seinen Lebensstufen, von der Geburt herauf bis ins Alter; auch alle häuslichen Zustände, wie die wechselnden Jahreszeiten sie mit sich führen, gehen an unseren Augen vorüber.«
»Und nun die Landschaft!« sagte Goethe, »die mit wenigen Strichen so entschieden gezeichnet ist, daß wir in der Höhe hinter den Personen Weinberge, Äcker und Obstgärten sehen, unten die Weideplätze mit dem Fluß und ein wenig Waldung, sowie das ausgedehnte Meer in der Ferne. Und keine Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, sondern immer der blaueste reinste Himmel, die anmutigste Luft und ein beständig trockener Boden, so daß man sich überall nackend hinlegen möchte.
Das ganze Gedicht«, fuhr Goethe fort, »verrät die höchste Kunst und Kultur. Es ist so durchdacht, daß darin kein Motiv fehlt und alle von der gründlichsten besten Art sind, wie z.B. das von dem Schatz bei dem stinkenden Delphin am Meeresufer. Und ein Geschmack und eine Vollkommenheit und Delikatesse der Empfindung, die sich dem Besten gleichstellt, das je gemacht worden! Alles Widerwärtige, was von außen in die glücklichen Zustände des Gedichts störend hereintritt, wie Überfall, Raub und Krieg, ist immer auf das schnellste abgetan und hinterläßt kaum eine Spur. Sodann das Laster erscheint im Gefolg der Städter, und zwar auch dort nicht in den Hauptpersonen, sondern in einer Nebenfigur, in einem Untergebenen. Das ist alles von der ersten Schönheit.«
»Und dann«, sagte ich, »hat mir so wohl gefallen, wie das Verhältnis der Herren und Diener sich ausspricht. In ersteren die humanste Behandlung, und in letzteren, bei aller naiven Freiheit, doch der große Respekt und das Bestreben, sich bei dem Herrn auf alle Weise in Gunst zu setzen. So sucht denn auch der junge Städter, der sich dem Daphnis durch das Ansinnen einer unnatürlichen Liebe verhaßt gemacht hat, sich bei diesem, da er als Sohn des Herrn erkannt ist, wieder in Gnade zu bringen, indem er den Ochsenhirten die geraubte Chloe auf eine kühne Weise wieder abjagt und zu Daphnis zurückführt.«
»ln allen diesen Dingen«, sagte Goethe, »ist ein großer Verstand; so auch, daß Chloe gegen den beiderseitigen Willen der Liebenden, die nichts Besseres kennen, als nackt nebeneinander zu ruhen, durch den ganzen Roman bis ans Ende ihre Jungfrauschaft behält, ist gleichfalls vortrefflich und so schön motiviert, daß dabei die größten menschlichen Dinge zur Sprache kommen.
Man müßte ein ganzes Buch schreiben, um alle großen Verdienste dieses Gedichts nach Würden zu schätzen. Man tut wohl, es alle Jahr einmal zu lesen, um immer wieder daran zulernen und den Eindruck seiner großen Schönheit aufs neue zu empfinden.«
Montag, den 21. März 1831
Wir sprachen über politische Dinge, über die noch immer fortwährenden Unruhen in Paris und den Wahn der jungen Leute, in die höchsten Angelegenheiten des Staates mit einwirken zu wollen.»
Auch in England«, sagte ich, »haben die Studenten vor einigen Jahren bei Entscheidung der katholischen Frage durch Einreichung von Bittschriften einen Einfluß zu erlangen versucht, allein man hat sie ausgelacht und nicht weiter davon Notiz genommen.«
»Das Beispiel von Napoleon«, sagte Goethe, »hat besonders in den jungen Leuten von Frankreich, die unter jenem Helden heraufwuchsen, den Egoismus aufgeregt, und sie werden nicht eher ruhen, als bis wieder ein großer Despot unter ihnen aufsteht, in welchem sie das auf der höchsten Stufe sehen, was sie selber zu sein wünschen. Es ist nur das Schlimme, daß ein Mann wie Napoleon nicht so bald wieder geboren wird, und ich fürchte fast, daß noch einige hunderttausend Menschen darauf gehen, ehe die Welt wieder zur Ruhe kommt.
An literarische Wirkung ist auf einige Jahre gar nicht zu denken, und man kann jetzt weiter nichts tun, als für eine friedlichere Zukunft im stillen manches Gute vorzubereiten.«Nach diesem wenigen Politischen waren wir bald wieder in Gesprächen über "Daphnis und Chloe". Goethe lobte die Übersetzung von Courier als ganz vollkommen. »Courier hat wohlgetan,« sagte er, »die alte Übersetzung von Amyot zu respektieren und beizubehalten und sie nur an einigen Stellen zu verbessern und zu reinigen und näher an das Original hinanzutreiben. Dieses alte Französisch ist so naiv und paßt so durchaus für diesen Gegenstand, daß man nicht leicht eine vollkommnere Übersetzung in irgendeiner anderen Sprache von diesem Buche machen wird.«
Wir redeten sodann von Couriers eigenen Werken, von seinen kleinen Flugschriften und der Verteidigung des berüchtigten Tintenflecks auf dem Manuskript zu Florenz.»
Courier ist ein großes Naturtalent,« sagte Goethe, »das Züge von Byron hat, sowie von Beaumarchais und Diderot. Er hat von Byron die große Gegenwart aller Dinge, die ihm als Argument dienen; von Beaumarchais die große advokatische Gewandtheit,von Diderot das Dialektische; und zudem ist er so geistreich, daß man es nicht in höherem Grade sein kann. Von der Beschuldigung des Tintenflecks scheint er sich indes nicht ganz zu reinigen; auch ist er in seiner ganzen Richtung nicht positiv genug, als daß man ihn durchaus loben könnte. Er liegt mit der ganzen Welt im Streit, und es ist nicht wohl anzunehmen, daß nicht auch etwas Schuld und etwas Unrecht an ihm selber sein sollte.«
Wir redeten sodann über den Unterschied des deutschen Begriffes von Geist und des französischen esprit. »Das französische esprit«, sagte Goethe, »kommt dem nahe, was wir Deutschen Witz nennen. Unser Geist würden die Franzosen vielleicht durch esprit und äme ausdrücken; es liegt darin zugleich der Begriff von Produktivität, welchen das französische esprit nicht hat.«
»Voltaire«, sagte ich, »hat doch nach deutschen Begriffen dasjenige, was wir Geist nennen. Und da nun das französische esprit nicht hinreicht, was sagen nun die Franzosen ?«»In diesem hohen Falle«, sagte Goethe, »drücken sie es durch genie aus.«
»Ich lese jetzt einen Band von Diderot«, sagte ich, »und bin erstaunt über das außerordentliche Talent dieses Mannes. Und welche Kenntnisse, und welche Gewalt der Rede! Man sieht in eine große bewegte Welt, wo einer dem andern zu schaffen machte und Geist und Charakter so in beständiger Übung erhalten wurden, daß beide gewandt und stark werden mußten. Was aber die Franzosen im vorigen Jahrhundert in der Literatur für Männer hatten, erscheint ganz außerordentlich. Ich muß schon erstaunen, wie ich nur eben hineinblicke.«
»Es war die Metamorphose einer hundertjährigen Literatur,«sagte Goethe, »die seit Ludwig dem Vierzehnten heranwuchs und zuletzt in voller Blüte stand. Voltaire hetzte aber eigentlich Geister wie Diderot, d’Alembert, Beaumarchais und andere herauf, denn um neben ihm nur etwas zu sein, mußte man viel sein, und es galt kein Feiern.«
Goethe erzählte mir sodann von einem jungen Professor der orientalischen Sprache und Literatur in Jena, der eine Zeitlang in Paris gelebt und eine so schöne Bildung habe, daß er wünsche, ich möchte ihn kennenlernen. Als ich ging, gab er mir einen Aufsatz von Schrön über den zunächst kommenden Kometen, damit ich in solchen Dingen nicht ganz fremd sein möchte.
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