Freitag, den 13. Februar 1829
Mit Goethe allein zu Tisch. »Ich werde nach Beendigung der "Wanderjahre", sagte er, »mich wieder zur Botanik wenden, um mit Soret die Übersetzung weiterzubringen. Nur fürchte ich, daß es mich wieder ins Weite führt und daß es zuletzt abermals ein Alp wird. Große Geheimnisse liegen noch verborgen; manches weiß ich, von vielem habe ich eine Ahndung. Etwas will ich Ihnen vertrauen und mich wunderlich ausdrücken:
Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und schließt zuletzt ab mit der Blüte und dem Samen. In der Tierwelt ist es nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten zu Knoten und bildet zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden Tieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die sich anfugen und anfügen und mit dem Kopf abschließen, in welchem sich die Kräfte konzentrieren.
Was so bei einzelnen geschieht, geschieht auch bei ganzen Korporationen. Die Bienen, auch eine Reihe von Einzelnheiten, die sich aneinanderschließen, bringen als Gesamtheit etwas hervor, das auch den Schluß macht und als Kopf des Ganzen anzusehen ist, den Bienen-König. Wie dieses geschieht, ist geheimnisvoll, schwer auszusprechen, aber ich könnte sagen, daß ich darüber meine Gedanken habe.
So bringt ein Volk seine Helden hervor, die gleich Halbgöttern zu Schutz und Heil an der Spitze stehen; und so vereinigten sich die poetischen Kräfte der Franzosen in Voltaire. Solche Häuptlinge eines Volkes sind groß in der Generation, in der sie wirken; manche dauren später hinaus, die meisten werden durch andere ersetzt und von der Folgezeit vergessen.«
Ich freute mich dieser bedeutenden Gedanken. Goethe sprach sodann über Naturforscher, denen es vor allem nur daran liege, ihre Meinung zu beweisen. »Herr von Buch«, sagte er,»hat ein neues Werk heraus gegeben, das gleich im Titel eine Hypothese enthält. Seine Schrift soll von Granitblöcken handeln, die hier und dort umherliegen, man weiß nicht wie und woher. Da aber Herr von Buch die Hypothese im Schilde führt, daß solche Granitblöcke durch etwas Gewaltsames von innen hervorgeworfen und zersprengt worden, so deutet er dieses gleich im Titel an, indem er schon dort von verstreutem Granitblöcken redet, wo denn der Schritt zur Zerstreuung sehr nahe liegt und dem arglosen Leser die Schlinge des Irrtums über den Kopf gezogen wird, er weiß nicht wie.
Man muß alt werden, um dieses alles zu übersehen, und Geld genug haben, seine Erfahrungen bezahlen zu können. Jedes Bonmot, das ich sage, kostet mir eine Börse voll Gold; eine halbe Million meines Privatvermögens ist durch meine Hände gegangen, um das zu lernen, was ich jetzt weiß, nicht allein das ganze Vermögen meines Vaters, sondern auch mein Gehalt und mein bedeutendes literarisches Einkommen seit mehr als funfzig Jahren. Außerdem habe ich anderthalb Millionen zu großen Zwecken von fürstlichen Personen ausgeben sehen, denen ich nahe verbunden war und an deren Schritten, Gelingen und Mißlingen ich teilnahm.
Es ist nicht genug, daß man Talent habe, es gehört mehr dazu, um gescheit zu werden; man muß auch in großen Verhältnissen leben und Gelegenheit haben, den spielenden Figuren der Zeit in die Karten zu sehen und selber zu Gewinn und Verlust mitzuspielen.
Ohne meine Bemühungen in den Naturwissenschaften hätte ich jedoch die Menschen nie kennengelernt, wie sie sind. In allen anderen Dingen kann man dem reinen Anschauen und Denken, den Irrtümern der Sinne wie des Verstandes, den Charakterschwächen und -stärken nicht so nachkommen; es ist alles mehr oder weniger biegsam und schwankend und läßt alles mehr oder weniger mit sich handeln; aber die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen. Den Unzulänglichen verschmäht sie, und nur dem Zulänglichen, Wahren und Reinen ergibt sie sich und offenbart ihm ihre Geheimnisse.
Der Verstand reicht zu ihr nicht hinauf, der Mensch muß fähig sein, sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu rühren, die sich in Urphänomenen, physischen wie sittlichen, offenbaret, hinter denen sie sich hält und die von ihr ausgehen.
Die Gottheit aber ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze.
Die Mineralogie ist daher eine Wissenschaft für den Verstand, für das praktische Leben, denn ihre Gegenstände sind etwas Totes, das nicht mehr entsteht, und an eine Synthese ist dabei nicht zu denken. Die Gegenstände der Meteorologie sind zwar etwas Lebendiges, das wir täglich wirken und schaffen sehen; sie setzen eine Synthese voraus; allein der Mitwirkungen sind so mannigfaltige, daß der Mensch dieser Synthese nicht gewachsen ist und er sich daher in seinen Beobachtungen und Forschungen unnütz abmühet. Wir steuern dabei auf Hypothesen los, auf imaginäre Inseln, aber die eigentliche Synthese wird wahrscheinlich ein unentdecktes Land bleiben. Und mich wundert es nicht, wenn ich bedenke, wie schwer es gehalten, selbst in so einfachen Dingen wie die Pflanze und die Farbe zu einiger Synthese zu gelangen.«
Sonntag, den 15. Februar 1829
Goethe empfing mich mit großem Lobe wegen meiner Redaktion der naturhistorischen Aphorismen für die "Wanderjahre".»Werfen Sie sich auf die Natur,« sagte er, »Sie sind dafür geboren, und schreiben Sie zunächst ein Kompendium der Farbenlehre.« Wir sprachen viel über diesen Gegenstand.
Eine Kiste vom Niederrhein langte an, mit ausgegrabenen antiken Gefäßen, Mineralien, kleinen Dombildern und Gedichten des Karnevals, welches alles nach Tisch ausgepackt wurde.
Dienstag, den 17. Februar 1829
Viel über den "Groß-Cophta" gesprochen. »Lavater«, sagte Goethe, »glaubte an Cagliostro und dessen Wunder. Als man ihn als einen Betrüger entlarvt hatte, behauptete Lavater, dies sei ein anderer Cagliostro, der Wundertäter Cagliostro sei eine heilige Person.
Lavater war ein herzlich guter Mann, allein er war gewaltigen Täuschungen unterworfen, und die ganz strenge Wahrheit war nicht seine Sache, er belog sich und andere. Es kam zwischen mir und ihm deshalb zum völligen Bruch. Zuletzt habe ich ihn noch in Zürich gesehen, ohne von ihm gesehen zu werden. Verkleidet ging ich in einer Allee, ich sah ihn auf mich zukommen, ich bog außerhalb, er ging an mir vorüber und kannte mich nicht. Sein Gang war wie der eines Kranichs, weswegen er auf dem Blocksberg als Kranich vorkommt.«Ich fragte Goethe, ob Lavater eine Tendenz zur Natur gehabt, wie man fast wegen seiner "Physiognomik" schließen sollte.»Durchaus nicht,« antwortete Goethe, »seine Richtung ging bloß auf das Sittliche, Religiöse. Was in Lavaters "Physiognomik" über Tierschädel vorkommt, ist von mir.«
Das Gespräch lenkte sich auf die Franzosen, auf die Vorlesungen von Guizot, Villemain und Cousin, und Goethe sprach mit hoher Achtung über den Standpunkt dieser Männer, und wie sie alles von einer freien und neuen Seite betrachteten und überall gerade aufs Ziel losgingen. »Es ist,« sagte Goethe, »als wäre man bis jetzt in einen Garten auf Umwegen und durch Krümmungen gelangt; diese Männer aber sind kühn und frei genug, die Mauer dort einzureißen und eine Tür an derjenigen Stelle zu machen, wo man sogleich auf den breitesten Weg des Gartens tritt.«
Von Cousin kamen wir auf indische Philosophie. »Diese Philosophie«, sagte Goethe, »hat, wenn die Nachrichten des Engländers wahr sind, durchaus nichts Fremdes, vielmehr wiederholen sich in ihr die Epochen, die wir alle selber durchmachen. Wir sind Sensualisten, solange wir Kinder sind; Idealisten, wenn wir lieben und in den geliebten Gegenstand Eigenschaften legen, die nicht eigentlich darin sind; die Liebe wankt, wir zweifeln an der Treue und sind Skeptiker, ehe wires glaubten. Der Rest des Lebens ist gleichgültig, wir lasse nes gehen, wie es will, und endigen mit dem Quietismus, wie die indischen Philosophen auch.
In der deutschen Philosophie wären noch zwei große Dinge zu tun. Kant hat die "Kritik der reinen Vernunft" geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt müßte ein Fähiger, ein Bedeutender die Kritik der Sinne und des Menschenverstandes schreiben, und wir würden, wenn dieses gleich vortrefflich geschehen, in der deutschen Philosophie nicht viel mehr zu wünschen haben. Hegel«, fuhr Goethe fort, »hat in den "Berliner Jahrbücher" meine Rezension über Hamann geschrieben, die ich in diesen Tagen lese und wieder lese und die ich sehr loben muß. Hegels Urteile als Kritiker sind immer gut gewesen.
Villemain steht in der Kritik gleichfalls sehr hoch. Die Franzosen werden zwar nie ein Talent wieder sehen, das dem von Voltaire gewachsen wäre. Von Villemain aber kann man sagen, daß er in seinem geistigen Standpunkt über Voltairen erhaben ist, so daß er ihn in seinen Tugenden und Fehlern beurteilen kann.«
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