> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 17.02.- 20.03.1831 (57)

2014-11-28

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 17.02.- 20.03.1831 (57)




Donnerstag, den 17. Februar 1831


Mit Goethe zu Tisch. Ich bringe ihm seinen "Aufenthalt in Karlsbad" vom Jahre 1807, dessen Redaktion ich am Morgen beendigt. Wir reden über kluge Stellen, die darin als flüchtige Tagesbemerkungen Vorkommen. »Man meint immer,« sagte Goethe lachend, »man müsse alt werden, um gescheit zu sein; im Grunde aber hat man bei zunehmenden Jahren zu tun, sich so klug zu erhalten, als man gewesen ist. Der Mensch wird in seinen verschiedenen Lebensstufen wohl ein anderer, aber er kann nicht sagen, daß er ein besserer werde, und er kann in gewissen Dingen so gut in seinem zwanzigsten Jahre recht haben, als in seinem sechzigsten.


Man sieht freilich die Welt anders in der Ebene, anders auf den Höhen des Vorgebirgs, und anders auf den Gletschern des Urgebirgs. Man sieht auf dem einen Standpunkt ein Stück Welt mehr als auf dem andern; aber das ist auch alles, und man kann nicht sagen, daß man auf dem einen mehr recht hätte, als auf dem andern. Wenn daher ein Schriftsteller aus verschiedenen Stufen seines Lebens Denkmale zurückläßt, so kommt es vorzüglich darauf an, daß er ein angeborenes Fundament und Wohlwollen besitze, daß er auf jeder Stufe rein gesehen und empfunden, und daß er ohne Nebenzwecke grade und treu gesagt habe, wie er gedacht. Dann wird sein Geschriebenes, wenn es auf der Stufe recht war, wo es entstanden, auch ferner recht bleiben, der Autor mag sich auch später entwickeln und verändern, wie er wolle.«


Ich gab diesen guten Worten meine vollkommene Beistimmung.»Es kam mir in diesen Tagen ein Blatt Makulatur in die Hände,« fuhr Goethe fort, »das ich las. Hm! sagte ich zu mir selber, was da geschrieben steht, ist gar nicht so unrecht, du denkst auch nicht anders und würdest es auch nicht viel anders gesagt haben. Als ich aber das Blatt recht besehe, war es ein Stück aus meinen eigenen Werken. Denn da ich immer vorwärtsstrebe, so vergesse ich, was ich geschrieben habe, wo ich denn sehr bald in den Fall komme, meine Sachen als etwas durchaus Fremdes anzusehen.«


Ich erkundigte mich nach dem "Faust" und wie er vorrücke.»Der läßt mich nun nicht wieder los,« sagte Goethe, »ich denke und erfinde täglich daran fort. Ich habe nun auch das ganze Manuskript des zweiten Teiles heute heften lassen, damit es mir als eine sinnliche Masse vor Augen sei. Die Stelle des fehlenden vierten Aktes habe ich mit weißem Papier ausgefüllt, und es ist keine Frage, daß das Fertige anlocket und reizet, um das zu vollenden, was noch zu tun ist. Es liegt in solchen sinnlichen Dingen mehr, als man denkt, und man muß dem Geistigen mit allerlei Künsten zu Hülfe kommen.«


Goethe ließ den gehefteten neuen "Faust" hereinbringen, und ich war erstaunt über die Masse des Geschriebenen, das im Manuskript als ein guter Folioband mir vor Augen war.


»Es ist doch alles«, sagte ich, »seit den sechs Jahren gemacht, die ich hier bin, und doch haben Sie bei dem andern Vielen, was seitdem geschehen, nur sehr wenige Zeit darauf verwenden können. Man sieht aber, wie etwas heranwächst, wenn man auch nur hin und wieder etwas hinzutut.«


»Davon überzeugt man sich besonders, wenn man älter wird,«sagte Goethe, »während die Jugend glaubt, es müsse alles an einem Tage geschehen. Wenn aber das Glück mir günstig ist, und ich mich ferner wohl befinde, so hoffe ich in den nächsten Frühlingsmonaten am vierten Akt sehr weit zu kommen. Es war auch dieser Akt, wie Sie wissen, längst erfunden; allein das ich das übrige während der Ausführung so sehr gesteigert hat, so kann ich jetzt von der früheren Erfindung nur das Allgemeinste brauchen, und ich muß nun auch dieses Zwischenstück durch neue Erfindungen so heranheben, daß es dem anderen gleich werde.«


»Es kommt doch in diesem zweiten Teil«, sagte ich, »eine weit reichere Welt zur Erscheinung als im ersten.«


»Ich sollte denken«, sagte Goethe. »Der erste Teil ist fast ganz subjektiv; es ist alles aus einem befangeneren, leidenschaftlicheren Individuum hervorgegangen, welches Halbdunkel den Menschen auch so wohltun mag. Im zweiten Teile aber ist fast gar nichts Subjektives, es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt, und wer sich nicht etwas umgetan und einiges erlebt hat, wird nichts damit anzufangen wissen.«


»Es sind darin einige Denkübungen,« sagte ich, »und es möchte auch mitunter einige Gelehrsamkeit erfordert werden. Es ist mir nur lieb, daß ich Schellings Büchlein über die Kabiren gelesen und daß ich nun weiß, wohin Sie in jener famösen Stelle der "Klassischen Walpurgisnacht" deuten.«


»Ich habe immer gefunden,« sagte Goethe lachend, »daß es gut sei, etwas zu wissen.
«Freitag, den 18. Februar 1831


Mit Goethe zu Tisch. Wir reden über verschiedene Regierungsformen,und es kommt zur Sprache, welche Schwierigkeiten ein zu großer Liberalismus habe, indem er die Anforderungen der einzelnen hervorrufe, und man vor lauter Wünschen zuletzt nicht mehr wisse, welche man befriedigen solle. Man werde finden, daß man von oben herab mit zu großer Güte, Milde und moralischer Delikatesse auf die Länge nicht durchkomme, indem man eine gemischte und mitunter verruchte Welt zu behandeln und in Respekt zu erhalten habe. Es wird zugleich erwähnt, daß das Regierungsgeschäft ein sehr großes Metier sei, das den ganzen Menschen verlange, und daß es daher nicht gut, wenn ein Regent zu große Nebenrichtungen, wie z.B. eine vorwaltende Tendenz zu den Künsten, habe, wodurch nicht allein das Interesse des Fürsten, sondern auch die Kräfte des Staates gewissen nötigeren Dingen entzogen würden. Eine vorwaltende Neigung zu den Künsten sei mehr die Sache reicher Privatleute.


Goethe erzählte mir sodann, daß seine "Metamorphose der Pflanzen" mit Sorets Übersetzung gut vorrücke, und daß ihm bei der jetzigen nachträglichen Bearbeitung dieses Gegenstandes, besonders der Spirale, ganz unerwartet günstige Dinge von außen zu Hülfe kommen. »Wir beschäftigen uns,«sagte er, »wie Sie wissen, mit dieser Übersetzung schon länger als seit einem Jahre, es sind tausend Hindernisse dazwischengetreten, das Unternehmen hat oft ganz widerwärtig gestockt, und ich habe es oft im stillen verwünscht. Nun aber komme ich in den Fall, alle diese Hindernisse zu verehren, indem im Laufe dieser Zögerungen außerhalb, bei andern trefflichen Menschen, Dinge herangereift sind, die jetzt als das schönste Wasser auf meine Mühle mich über alle Begriffe weiter bringen und meine Arbeit einen Abschluß erlangen lassen, wie es vor einem Jahre nicht wäre denkbar gewesen. Dergleichen ist mir in meinem Leben öfter begegnet, und man kommt dahin, in solchen Fällen an eine höhere Einwirkung, an etwas Dämonisches zu glauben, das man anbetet, ohne sich anzumaßen, es weiter erklären zu wollen.«
Sonnabend, den 19. Februar 1831


Bei Goethe zu Tisch mit Hofrat Vogel. Goethen war eine Broschüre über die Insel Helgoland zugekommen, worin er mit großem lnteresse las und uns das Wesentlichste daraus mitteilte. Nach den Gesprächen über eine so eigentümliche Lokalität kamen ärztliche Dinge an die Reihe, und Vogel erzählte als das Neueste des Tages von den natürlichen Blattern, die trotz aller Impfung mit einem Male wieder in Eisenach hervorgebrochen seien und in kurzer Zeit bereits viele Menschen hingerafft hätten.


»Die Natur«, sagte Vogel, »spielt einem doch immer einmal wieder einen Streich, und man muß sehr aufpassen, wenn eine Theorie gegen sie ausreichen soll. Man hielt die Schutzblattern so sicher und so untrüglich, daß man ihre Einimpfung zum Gesetz machte. Nun aber dieser Vorfall in Eisenach, wo die Geimpften von den natürlichen dennoch befallen worden, macht die Unfehlbarkeit der Schutzblattern verdächtig und schwächt die Motive für das Ansehen des Gesetzes.«


»Dennoch aber«, sagte Goethe, »bin ich dafür, daß man von dem strengen Gebot der Impfung auch ferner nicht abgehe, indem solche kleine Ausnahmen gegen die unübersehbaren Wohltaten des Gesetzes gar nicht in Betracht kommen.«


»Ich bin auch der Meinung«, sagte Vogel, »und möchte sogar behaupten, daß in allen solchen Fällen, wo die Schutzblattern vor den natürlichen nicht gesichert, die Impfung mangelhaft gewesen ist. Soll nämlich die Impfung schützen, so muß sie so stark sein, daß Fieber entsteht; ein bloßer Hautreiz ohne Fieber schützt nicht. Ich habe daher heute in der Session den Vorschlag getan, eine verstärkte Impfung der Schutzblattern allen im Lande damit Beauftragten zur Pflicht zu machen.«


»Ich hoffe, daß Ihr Vorschlag durchgegangen ist,« sagte Goethe,»so wie ich immer dafür bin, strenge auf ein Gesetz zu halten, zumal in einer Zeit wie die jetzige, wo man aus Schwäche und übertriebener Liberalität überall mehr nachgibt als billig.«


Es kam sodann zur Sprache, daß man jetzt auch in der Zurechnungsfähigkeit der Verbrecher anfange weich und schlaff zu werden, und daß ärztliche Zeugnisse und Gutachten oft dahin gehen, den Verbrecher an der verwirkten Strafe vorbei zu helfen. Bei dieser Gelegenheit lobte Vogel einen jungen Physikus, der in ähnlichen Fällen immer Charakter zeige und der noch kürzlich, bei dem Zweifel eines Gerichtes, ob eine gewisse Kindesmörderin für zurechnungsfähig zu halten, sein Zeugnis dahin ausgestellt habe, daß sie es allerdings sei.
Sonntag, den 20. Februar 1831


Mit Goethe zu Tisch. Er eröffnete mir, daß er meine Beobachtung über die blauen Schatten im Schnee, daß sie nämlich aus dem Widerschein des blauen Himmels entstehen, geprüft habe und für richtig anerkenne. »Es kann jedoch beides zugleich wirken,« sagte er, »und die durch das gelbliche Licht erregte Forderung kann die blaue Erscheinung verstärken.«Ich gebe dieses vollkommen zu und freue mich, daß Goethe mir endlich beistimmet.


»Es ärgert mich nur,« sagte ich, »daß ich meine Farbenbeobachtungen am Monte Rosa und Montblanc nicht an Ort und Stelle im Detail niedergeschrieben habe. Das Hauptresultat jedoch war, daß in einer Entfernung von achtzehn bis zwanzig Stunden, mittags bei der hellesten Sonne, der Schnee gelb, ja rötlichgelb erschien, während die schneefreien dunkelen Teile des Gebirgs im entschiedensten Blau herübersahen. Das Phänomen überraschte mich nicht, indem ich mir hätte Vorhersagen können, daß die gehörige Masse von zwischen liegender Trübe dem, die Mittagssonne reflektierenden, weißen Schnee einen tiefgelben Ton geben würde; aber das Phänomen freute mich besonders aus dem Grunde, weil es die irrige Ansicht einiger Naturforscher, daß die Luft eine blaufärbende Eigenschaft besitze, so ganz entschieden widerlegt. Denn wäre die Luft in sich bläulich, so hätte eine Masse von zwanzig Stunden, wie sie zwischen mir und dem Monte Rosa lag, den Schnee müssen hellblau oder weißbläulich durchscheinen lassen, aber nicht gelb und gelbrötlich.«


»Die Beobachtung«, sagte Goethe, »ist von Bedeutung und widerlegt jenen Irrtum durchaus.«


»Im Grunde«, sagte ich, »ist die Lehre vom Trüben sehr einfach, so daß man gar zu leicht zu dem Glauben verführt wird, man könnte sie einem andern in wenig Tagen und Stunden überliefern. Das Schwierige aber ist, nun mit dem Gesetz zu operieren und ein Urphänomen in tausendfältig bedingten und verhüllten Erscheinungen immer wieder zu erkennen.«»Ich möchte es dem Whist vergleichen,« sagte Goethe, »dessen Gesetze und Regeln auch gar leicht zu überliefern sind, das man aber sehr lange gespielt haben muß, um darin ein Meister zu sein. Überhaupt lernet niemand etwas durch bloßes Anhören, und wer sich in gewissen Dingen nicht selbst tätig bemühet, weiß die Sachen nur oberflächlich und halb.«


Goethe erzählte mir sodann von dem Buche eines jungen Physikers, das er loben müsse wegen der Klarheit, mit der es geschrieben, und dem er die teleologische Richtung gerne nachsehe.


»Es ist dem Menschen natürlich,« sagte Goethe, »sich als das Ziel der Schöpfung zu betrachten und alle übrigen Dinge nur in bezug auf sich und insofern sie ihm dienen und nützen. Er bemächtiget sich der vegetabilischen und animalischen Welt, und indem er andere Geschöpfe als passende Nahrung verschlingt, erkennet er seinen Gott und preiset dessen Güte, die so väterlich für ihn gesorget. Der Kuh nimmt er die Milch, der Biene den Honig, dem Schaf die Wolle, und indem er den Dingen einen ihm nützlichen Zweck gibt, glaubt er auch, daß sie dazu sind geschaffen worden. Ja er kann sich nicht denken, daß nicht auch das kleinste Kraut für ihn da sei, und wenn er dessen Nutzen noch gegenwärtig nicht erkannt hat, so glaubt er doch, daß solches sich künftig ihm gewiß entdecken werde.


Und wie der Mensch nun im allgemeinen denkt, so denkt er auch im besonderen, und er unterläßt nicht, seine gewohnte Ansicht aus dem Leben auch in die Wissenschaft zu tragen und auch bei den einzelnen Teilen eines organischen Wesens nach deren Zweck und Nutzen zu fragen.


Dies mag auch eine Weile gehen, und er mag auch in der Wissenschaft eine Weile damit durchkommen; allein gar bald wir der auf Erscheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen Ansicht nicht ausreicht und wo er, ohne höheren Halt, sich in lauter Widersprüchen verwickelt.


Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: warum hat das Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen? Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt sie mit seinen Hörnern, weil er sie hat.


Die Frage nach dem Zweck, die Frage Warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas weiter aber kommt man mit die Frage Wie? Denn wenn ich frage: wie hat der Ochse Hörner? so führet mich das auf die Betrachtung seiner Organisation und belehret mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben kann.


So hat der Mensch in seinem Schädel zwei unausgefüllte hohle Stellen. Die Frage Warum? würde hier nicht weit reichen, wogegen aber die Frage Wie? mich belehret, daß diese Höhlen Reste des tierischen Schädels sind, die sich bei solchen geringeren Organisationen in stärkerem Maße befinden und die sich beim Menschen, trotz seiner Höhe, noch nicht ganz verloren haben.


Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollen, der dem Ochsen die Hörner gab, damit er sich verteidige. Mir aber möge man erlauben, daß ich den verehre, der in dem Reichtum seiner Schöpfung so groß war, nach tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen.


Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter gibt und dem Menschen Speise und Trank, so viel er genießen mag; ich aber bete den an, der eine solche Produktionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der millionteste Teil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschöpfen wimmelt, so daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen. Das ist mein Gott!«

Gesamtübersicht                                                             


Keine Kommentare: