> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 23.03.- 02.04.1829 (40)

2014-11-25

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 23.03.- 02.04.1829 (40)




Montag, den 23. März 1829


»Ich habe unter meinen Papieren ein Blatt gefunden,« sagte Goethe heute, »wo ich die Baukunst eine erstarrte Musik nenne. Und wirklich, es hat etwas; die Stimmung, die von der Baukunst ausgeht, kommt dem Effekt der Musik nahe. Prächtige Gebäude und Zimmer sind für Fürsten und Reiche. Wenn man darin lebt, fühlt man sich beruhigt, man ist zufrieden und will nichts weiter.


Meiner Natur ist es ganz zuwider. Ich bin in einer prächtigen Wohnung, wie ich sie in Karlsbad gehabt, sogleich faul und untätig. Geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer, worin wir sind, ein wenig unordentlich ordentlich, ein wenig zigeunerhaft, ist für mich das Rechte; es läßt meiner inneren Natur volle Freiheit, tätig zu sein und aus mir selber zu schaffen.«


Wir sprachen von Schillers Briefen und dem Leben, das sie miteinander geführt, und wie sie sich täglich zu gegenseitigen Arbeiten gehetzt und getrieben. »Auch an dem "Faust"«, sagte ich, »schien Schiller ein großes Interesse zu nehmen; es ist hübsch, wie er Sie treibt, und sehr liebenswürdig, wie er sich durch seine Idee verleiten läßt, selber am "Faust" fortzuerfinden. Ich habe dabei bemerkt, daß etwas Voreilendes in seiner Natur lag.«


»Sie haben recht,« sagte Goethe, »er war so wie alle Menschen, die zu sehr von der Idee ausgehen. Auch hatte er keine Ruhe und konnte nie fertig werden, wie Sie an den Briefen über den "Wilhelm Meister" sehen, den er bald so und bald anders haben will. Ich hatte nur immer zu tun, daß ich feststand und seine wie meine Sachen von solchen Einflüssen freihielt und schützte.«»Ich habe diesen Morgen«, sagte ich, »seine "Nadowessische Totenklage" gelesen und mich gefreut, wie das Gedicht so vortrefflich ist.«


»Sie sehen,« antwortete Goethe, »wie Schiller ein großer Künstler war und wie er auch das Objektive zu fassen wußte, wenn es ihm als Überlieferung vor Augen kam. Gewiß, die "Nadowessische Totenklage" gehört zu seinen allerbesten Gedichten, und ich wollte nur, daß er ein Dutzend in dieser Art gemacht hätte. Aber können Sie denken, daß seine nächsten Freunde ihn dieses Gedichtes wegen tadelten, indem sie meinten, es trage nicht genug von seiner Idealität ? - Ja, mein Guter, man hat von seinen Freunden zu leiden gehabt! -Tadelte doch Humboldt auch an meiner Dorothea, daß sie bei dem Überfall der Krieger zu den Waffen gegriffen und dreingeschlagen habe! Und doch, ohne jenen Zug ist ja der Charakter des außerordentlichen Mädchens, wie sie zu dieser Zeit und zu diesen Zuständen recht war, sogleich vernichtet, und sie sinkt in die Reihe des Gewöhnlichen herab. Aber Sie werden bei weiterem Leben immer mehr finden, wie wenige Menschen fähig sind, sich auf den Fuß dessen zu setzen, was sein muß, und daß vielmehr alle nur immer das loben und das hervorgebracht wissen wollen, was ihnen selber gemäß ist. Und das waren die Ersten und Besten, und Sie mögen nun denken, wie es um die Meinungen der Masse aussah und wie man eigentlich immer allein stand.


Hätte ich in der bildenden Kunst und in den Naturstudien kein Fundament gehabt, so hätte ich mich in der schlechten Zeit und deren täglichen Einwirkungen auch schwerlich oben gehalten; aber das hat mich geschützt, sowie ich auch Schillern von dieser Seite zu Hülfe kam.«
Dienstag, den 24. März 1829


»Je höher ein Mensch,« sagte Goethe, »desto mehr steht er unter dem Einfluß der Dämonen, und er muß nur immer aufpassen, daß sein leitender Wille nicht auf Abwege gerate.


So waltete bei meiner Bekanntschaft mit Schillern durchaus etwas Dämonisches ob; wir konnten früher, wir konnten später zusammen geführt werden, aber daß wir es grade in der Epoche wurden, wo ich die italienische Reise hinter mir hatte und Schiller der philosophischen Spekulationen müde zu werden anfing, war von Bedeutung und für beide von größtem Erfolg.«
Donnerstag, den 2. April 1829


»Ich will Ihnen ein politisches Geheimnis entdecken,« sagte Goethe heute bei Tisch, »das sich über kurz oder lang offenbaren wird. Kapodistrias kann sich an der Spitze der griechischen Angelegenheiten auf die Länge nicht halten, denn ihm fehlet eine Qualität, die zu einer solchen Stelle unentbehrlich ist : er ist kein Soldat. Wir haben aber kein Beispiel, daß ein Kabinettsmann einen revolutionären Staat hätte organisieren und Militär und Feldherrn sich hätte unterwerfen können. Mit dem Säbel in der Faust, an der Spitze einer Armee, mag man befehlen und Gesetze geben, und man kann sicher sein, daß man gehorcht werde; aber ohne dieses ist es ein mißliches Ding. Napoleon, ohne Soldat zu sein, hätte nie zur höchsten Gewalt emporsteigen können, und so wird sich auch Kapodistrias als Erster auf die Dauer nicht behaupten, vielmehr wird er sehr bald eine sekundäre Rolle spielen. Ich sage Ihnen dieses voraus, und Sie werden es kommen sehen; es liegt in der Natur der Dinge und ist nicht anders möglich.«


Goethe sprach darauf viel über die Franzosen, besonders über Cousin, Villemain und Guizot. »Die Einsicht, Umsicht und Durchsicht dieser Männer«, sagte er, »ist groß; sie verbinden vollkommene Kenntnis des Vergangenen mit dem Geist des 
19. Jahrhunderts, welches denn freilich Wunder tut.«


Von diesen kamen wir auf die neuesten französischen Dichter und auf die Bedeutung von klassisch und romantisch. »Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen,« sagte Goethe, »der das Verhältnis nicht übel bezeichnet. Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen klassisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitäten Klassisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald im reinen sein.«


Das Gespräch lenkte sich auf Berangers Gefangenschaft. »Es geschieht ihm ganz recht«, sagte Goethe. »Seine letzten Gedichte sind wirklich ohne Zucht und Ordnung, und er hat gegen König, Staat und friedlichen Bürgersinn seine Strafe vollkommen verwirkt. Seine früheren Gedichte dagegen sind heiter und harmlos und ganz geeignet, einen Zirkel froher glücklicher Menschen zu machen, welches denn wohl das Beste ist, was man von Liedern sagen kann.«


»Ich bin gewiß,« versetzte ich, »daß seine Umgebung nachteilig auf ihn gewirkt hat und daß er, um seinen revolutionären Freunden zu gefallen, manches gesagt hat, was er sonst nicht gesagt haben würde. Euer Exzellenz sollten Ihr Schema ausführen und das Kapitel von den Influenzen schreiben; der Gegenstand ist wichtiger und reicher, je mehr man darüber nachdenkt.«


»Er ist nur zu reich,« sagte Goethe, »denn am Ende ist alles Influenz, insofern wir es nicht selber sind.«


»Man hat nur darauf zu sehen,« sagte ich, »ob eine Influenz hinderlich oder förderlich, ob sie unserer Natur angemessen und begünstigend oder ob sie ihr zuwider ist.«»Das ist es freilich,« sagte Goethe, »worauf es ankommt; aber das ist auch eben das Schwere, daß unsere bessere Natur sich kräftig durchhalte und den Dämonen nicht mehr Gewalt einräume als billig.


«Beim Nachtisch ließ Goethe einen blühenden Lorbeer und eine japanesische Pflanze vor uns auf den Tisch stellen. Ich bemerkte, daß von beiden Pflanzen eine verschiedene Stimmung ausgehe, daß der Anblick des Lorbeers heiter, leicht, milde und ruhig mache, die japanesische Pflanze dagegen barbarisch, melancholisch wirke.


»Sie haben nicht unrecht,« sagte Goethe, »und daher kommt es denn auch, daß man der Pflanzenwelt eines Landes einen Einfluß auf die Gemütsart seiner Bewohner zugestanden hat. Und gewiß, wer sein Leben lang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müßte ein anderer Mensch werden, als wer täglich unter luftigen Birken sich erginge. Nur muß man bedenken, daß die Menschen im allgemeinen nicht so sensibler Natur sind als wir andern, und daß sie im ganzen kräftig vor sich hin leben, ohne den äußeren Eindrücken so viele Gewalt einzuräumen. Aber so viel ist gewiß, daß außer dem Angeborenen der Rasse sowohl Boden und Klima als Nahrung und Beschäftigung einwirkt, um den Charakter eines Volkes zu vollenden. Auch ist zu bedenken, daß die frühesten Stämme meistenteils von einem Boden Besitz nahmen, wo es ihnen gefiel und wo also die Gegend mit dem angeborenen Charakter der Menschen bereits in Harmonie stand.


Sehen Sie sich einmal um,« fuhr Goethe fort, »hinter Ihnen auf dem Pult liegt ein Blatt, welches ich zu beachten bitte.«»Dieses blaue Briefkuvert?« sagte ich.


»Ja«, sagte Goethe. »Nun, was sagen Sie zu der Handschrift? Ist das nicht ein Mensch, dem es groß und frei zu Sinne war, als er die Adresse schrieb? Wem möchten Sie die Hand zutrauen?«


Ich betrachtete das Blatt mit Neigung. Die Züge der Handschrift waren sehr frei und grandios. »Merck könnte so geschrieben haben«, sagte ich.


»Nein,« sagte Goethe, »der war nicht edel und positiv genug. Es ist von Zelter. Papier und Feder hat ihn bei diesem Kuvert begünstigt, so daß die Schrift ganz seinen großen Charakter ausdrückt. Ich will das Blatt in meine Sammlung von Handschriften legen.«

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