> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 12.02.- 15.02.1831 (56)

2014-11-28

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 2.Teil: 12.02.- 15.02.1831 (56)




Sonnabend, den 12. Februar 1831


Ich lese im Neuen Testament und gedenke eines Bildes, das Goethe mir in diesen Tagen zeigte, wo Christus auf dem Meere wandelt, und Petrus, ihm auf den Wellen entgegenkommend, in einem Augenblick anwandelnder Mutlosigkeit sogleich einzusinken anfängt.


»Es ist dies eine der schönsten Legenden,« sägte Goethe, »die ich vor allen lieb habe. Es ist darin die hohe Lehre ausgesprochen, daß der Mensch durch Glauben und frischen Mut im schwierigsten Unternehmen siegen werde, dagegen bei anwandeln dem geringsten Zweifel sogleich verloren sei.«
Sonntag, den 13. Februar 1831


Bei Goethe zu Tisch. Er erzählt mir, daß er im vierten Akt des "Faust" fortfahre und daß ihm jetzt der Anfang so gelungen, wie er es gewünscht. »Das, was geschehen sollte,« sagte er,»hatte ich, wie Sie wissen, längst; allein mit dem Wie war ich noch nicht ganz zufrieden, und da ist es mir nun lieb, daß mir gute Gedanken gekommen sind. Ich werde nun diese ganze Lücke, von der Helena bis zum fertigen fünften Akt, durcherfinden und in einem ausführlichen Schema niederschreiben, damit ich sodann mit völligem Behagen und Sicherheit ausführen und an den Stellen arbeiten kann, die mich zunächst anmuten. Dieser Akt bekommt wieder einen ganz eigenen Charakter,so daß er, wie eine für sich bestehende kleine Welt, das übrige nicht berührt und nur durch einen leisen Bezug zu dem Vorhergehenden und Folgenden sich dem Ganzen anschließt.«»Er wird also«, sagte ich, »völlig im Charakter des übrigen sein; denn im Grunde sind doch der Auerbachsche Keller, die Hexenküche, der Blocksberg, der Reichstag, die Maskerade, das Papiergeld, das Laboratorium, die Klassische Walpurgisnacht, die Helena, lauter für sich bestehende kleine Weltenkreise, die, in sich abgeschlossen, wohl aufeinander wirken, aber doch einander wenig angehen. Dem Dichter liegt daran, eine mannigfaltige Welt auszusprechen, und er benutzt die Fabel eines berühmten Helden bloß als eine Art von durchgehender Schnur, um darauf aneinander zu reihen, was er Lust hat. Es ist mit der "Odyssee" und dem "Gil-Blas" auch nicht anders.«


»Sie haben vollkommen recht,« sagte Goethe; »auch kommt es bei einer solchen Komposition bloß darauf an, daß die einzelnen Massen bedeutend und klar seien, während es als ein Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber eben deswegen, gleich einem unaufgelösten Problem, die Menschen zu wiederholter Betrachtung immer wieder anlockt.«


Ich erzählte sodann von dem Brief eines jungen Militärs, dem ich, nebst anderen Freunden, geraten hatte, in ausländische Dienste zu gehen, und der nun, da er die fremden Zustände nicht nach seinem Sinne gefunden, auf alle diejenigen schilt, die ihm geraten.»


Es ist mit dem Ratgeben ein eigenes Ding,« sagte Goethe,»und wenn man eine Weile in der Welt gesehen hat, wie die gescheitesten Dinge mißlingen und das Absurdeste oft zu einem glücklichen Ziele fuhrt, so kommt man wohl davon zurück, jemanden einen Rat erteilen zu wollen. Im Grunde ist es auch von dem, der einen Rat verlangt, eine Beschränktheit, und von dem, der ihn gibt, eine Anmaßung. Man sollte nur Rat geben in Dingen, in denen man selber mitwirken will. Bittet mich ein anderer um guten Rat, so sage ich wohl, daß ich bereit sei, ihn zu geben, jedoch nur mit dem Beding, daß er versprechen wolle, nicht danach zu handeln.«


Das Gespräch lenkte sich auf das Neue Testament, indem ich erzählte, daß ich die Stelle nachgelesen, wo Christus auf dem Meere wandelt und Petrus ihm entgegengeht. »Wenn man die Evangelisten lange nicht gelesen,« sagte ich, »so erstaunt man immer wieder über die sittliche Großheit der Figuren. Man findet in den hohen Anforderungen an unsere moralische Willenskraft auch eine Art von kategorischem Imperativ.«


»Besonders«, sagte Goethe, »finden Sie den kategorischen Imperativ des Glaubens, welches sodann Mahomet noch weiter getrieben hat.«


»Übrigens«, sagte ich, »sind die Evangelisten, wenn man sie näher ansieht, voller Abweichungen und Widersprüche, und die Bücher müssen wunderliche Schicksale gehabt haben, ehe sie so beisammen gebracht sind, wie wir sie nun haben.«»Er ist ein Meer auszutrinken,« sagte Goethe, »wenn man sich in eine historische und kritische Untersuchung dieserhalb einläßt. Man tut immer besser, sich ohne weiteres an das zu halten, was wirklich da ist, und sich davon anzueignen, was man für seine sittliche Kultur und Stärkung gebrauchen kann. Übrigens ist es hübsch, sich die Lokalität deutlich zu machen, und da kann ich Ihnen nichts Besseres empfehlen, als das herrliche Buch von Röhr über Palästina. Der verstorbene Großherzog hatte über dieses Buch eine solche Freude, daß er es zweimal kaufte, indem er das erste Exemplar, nachdem er es gelesen, der Bibliothek schenkte und das andere für sich behielt, um es immer in seiner Nähe zu haben.«


Ich wunderte mich über des Großherzogs Teilnahme an solchen Dingen. »Darin«, sagte Goethe, »war er groß. Er hatte Interesse für alles, wenn es einigermaßen bedeutend war, es mochte nun in ein Fach schlagen, in welches es wollte. Er war immer vorschreitend, und was in der Zeit irgend an guten neuen Erfindungen und Einrichtungen hervortrat, suchte er bei sich einheimisch zu machen. Wenn etwas mißlang, so war davon weiter nicht die Rede. Ich dachte oft, wie ich dies oder jenes Verfehlte bei ihm entschuldigen wollte, allein er ignorierte jedes Mißlingen auf die heiterste Weise und ging immer sogleich wieder auf etwas Neues los. Es war dieses eine eigene Größe seines Wesens, und zwar nicht durch Bildung gewonnen, sondern angeboren.«


Zum Nachtisch betrachteten wir einige Kupfer nach neuesten Meistern, besonders im landschaftlichen Fach, wobei mit Freuden bemerkt wurde, daß daran nichts Falsches wahrzunehmen.»Es ist seit Jahrhunderten so viel Gutes in der Welt,« sagte Goethe, »daß man sich billig nicht wundern sollte, wenn es wirkt und wieder Gutes hervorruft.«


»Es ist nur das Üble,« sagte ich, »daß es so viele falsche Lehren gibt, und daß ein junges Talent nicht weiß, welchem Heiligen es sich widmen soll.«


»Davon haben wir Proben,« sagte Goethe; »wir haben ganze Generationen an falschen Maximen verloren gehen und leiden sehen, und haben selber darunter gelitten. Und nun in unsern Tagen die Leichtigkeit, jeden Irrtum durch den Druck sogleich allgemein predigen zu können! Mag ein solcher Kunstrichter nach einigen Jahren auch besser denken, und mag er auch seine bessere Überzeugung öffentlich verbreiten, seine Irrlehre hat doch unterdes gewirkt und wird auch künftig gleich einem Schlingkraut neben dem Guten immer fortwirken. Mein Trost ist nur, daß ein wirklich großes Talent nicht irrezuleiten und nicht zu verderben ist.«


Wir betrachteten die Kupfer weiter. »Es sind wirklich gute Sachen,« sagte Goethe; »Sie sehen reine hübsche Talente, die was gelernt und die sich Geschmack und Kunst in bedeutendem Grade angeeignet haben. Allein doch fehlet diesen Bildern allen etwas, und zwar: das Männliche. - Merken Sie sich dieses Wort, und unterstreichen Sie es. Es fehlt den Bildern eine gewisse zudringliche Kraft, die in früheren Jahrhunderten sich überall aussprach und die dem jetzigen fehlt, und zwar nicht bloß in Werken der Malerei, sondern auch in allen übrigen Künsten. Es lebt ein schwächeres Geschlecht, von dem sich nicht sagen läßt, ob es so ist durch die Zeugung oder durch eine schwächere Erziehung und Nahrung.«

»Man sieht aber dabei,« sagte ich, »wieviel in den Künsten auf eine große Persönlichkeit ankommt, die freilich in früheren Jahrhunderten besonders zu Hause war. Wenn man in Venedig vor den Werken von Tizian und Paul Veronese steht, so empfindet man den gewaltigen Geist dieser Männer in ihrem ersten Apergu von dem Gegenstande, wie in der letzten Ausführung. Ihr großes energisches Empfinden hat die Glieder des ganzen Bildes durchdrungen, und diese höhere Gewalt der künstlerischen Persönlichkeit dehnet unser eigenes Wesen aus und erhebt uns über uns selbst, wenn wir solche Werke betrachten. Dieser männliche Geist, von dem Sie sagen, findet sich auch ganz besonders in den Rübensschen Landschaften. Es sind freilich auch nur Bäume, Erdboden, Wasser, Felsen und Wolken, allein seine kräftige Gesinnung ist in die Formen gefahren, und so sehen wir zwar immer die bekannte Natur, allein wir sehen sie von der Gewalt des Künstlers durchdrungen und nach seinem Sinne von neuem hervorgebracht.«


»Allerdings«, sagte Goethe, »ist in der Kunst und Poesie die Persönlichkeit alles; allein doch hat es unter den Kritikern und Kunstrichtern der neuesten Zeit schwache Personnagen gegeben, die dieses nicht zugestehen und die eine große Persönlichkeit, bei einem Werke der Poesie oder Kunst, nur als eine Art von geringer Zugabe wollten betrachtet wissen.


Aber freilich, um eine große Persönlichkeit zu empfinden und zu ehren, muß man auch wiederum selber etwas sein. Alle, die dem Euripides das Erhabene abgesprochen, waren arme Heringe und einer solchen Erhebung nicht fähig; oder sie waren unverschämte Scharlatane, die durch Anmaßlichkeit in den Augen einer schwachen Welt mehr aus sich machen wollten und auch wirklich machten, als sie waren.«
Montag, den 14. Februar 1831


Mit Goethe zu Tisch. Er hatte die "Memoiren" des General Rapp gelesen, wodurch das Gespräch auf Napoleon kam, und welch ein Gefühl die Madame Lätitia müsse gehabt haben, sich als Mutter so vieler Helden und einer so gewaltigen Familie zu wissen. »Sie hatte Napoleon, ihren zweiten Sohn, geboren, als sie achtzehn Jahre alt war und ihr Gemahl dreiundzwanzig, so daß also die frischeste Jugendkraft der Eltern seinem physischen Teile zugute kam. Neben ihm gebiert sie drei andere Söhne, alle bedeutend begabt, tüchtig und energisch in weltlichen Dingen und alle mit einem gewissen poetischen Talent. Auf solche vier Söhne folgen drei Töchter, und zuletzt Jerome, der am schwächsten von allen ausgestattet gewesen zu sein scheint.


Das Talent ist freilich nicht erblich, allein es will eine tüchtige physische Unterlage, und da ist es denn keineswegs einerlei, ob jemand der Erst- oder Letztgeborene, und ob er von kräftigen und jungen, oder von schwachen und alten Eltern ist gezeugt worden.«


»Merkwürdig ist,« sagte ich, »daß sich von allen Talenten das musikalische am frühesten zeigt, so daß Mozart in seinem fünften, Beethoven in seinem achten und Hummel in seinem neunten Jahre schon die nächste Umgebung durch Spiel und Kompositionen in Erstaunen setzten.«


»Das musikalische Talent«, sagte Goethe, »kann sich wohl am frühesten zeigen, indem die Musik ganz etwas Angeborenes, Inneres ist, das von außen keiner großen Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen Erfahrung bedarf. Aber freilich, eine Erscheinung wie Mozart bleibt immer ein Wunder, das nicht weiter zu erklären ist. Doch wie wollte die Gottheit überhaupt Wunder zu tun Gelegenheit finden, wenn sie es nicht zuweilen in außerordentlichen Individuen versuchte, die wir anstaunen, und nicht begreifen, woher sie kommen.«
Dienstag, den 15. Februar 1831


Mit Goethe zu Tisch. Ich erzähle ihm vom Theater; er lobt das gestrige Stück, "Heinrich der Dritte" von Dumas, als ganz vortrefflich, findet jedoch natürlich, daß es für das Publikum nicht die rechte Speise gewesen. »Ich hätte es unter meiner Direktion nicht zu bringen gewagt,« sagte er, »denn ich erinnere mich noch gar wohl, was wir mit dem "Standhaften Prinzen" für Not gehabt, um ihn beim Publikum einzuschwärzen, der doch noch weit menschlicher und poetischer ist und im Grunde weit näherliegt als "Heinrich der Dritte".


Ich rede vom "Groß-Cophta", den ich in diesen Tagen abermals gelesen. Ich gehe die einzelnen Szenen gesprächsweise durch und schließe mit dem Wunsch, es einmal auf der Bühne zu sehen.


»Es ist mir lieb,« sagte Goethe, »daß Ihnen das Stück gefällt, und daß Sie herausfinden, was ich hineingearbeitet habe. Es war im Grunde keine geringe Operation, ein ganz reales Faktum erst poetisch und dann theatralisch zu machen. Und doch werden Sie zugeben, daß das Ganze recht eigentlich für die Bühne gedacht ist. Schiller war auch sehr für das Stück, und wir haben es einmal gegeben, wo es sich denn für höhere Menschen wirklich brillant machte. Für das Publikum im allgemeinen jedoch ist es nicht; die behandelten Verbrechen behalten immer etwas Apprehensives, wobei es den Leuten nicht heimlich ist. Es fällt, seinem verwegenen Charakter nach, ganz in den Kreis der "Clara Gazuk", und der französische Dichter könnte mich wirklich beneiden, daß ich ihm ein so gutes Sujet vorweggenommen. Ich sage ein so gutes Sujet, denn im Grunde ist es nicht bloß von sittlicher, sondern auch von großer historischer Bedeutung; das Faktum geht der Französischen Revolution unmittelbar voran und ist davon gewissermaßen das Fundament. Die Königin, der fatalen Halsbandsgeschichte so nahe verflochten, verlor ihre Würde, ja ihre Achtung, und so hatte sie denn in der Meinung des Volkes den Standpunkt verloren, um unantastbar zu sein. Der Haß schadet niemanden, aber die Verachtung ist es, was den Menschen stürzet. Kotzebue wurde lange gehaßt, aber damit der Dolch des Studenten sich an ihn wagen konnte, mußten ihn gewisse Journale erst verächtlich machen.«

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