> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 3.Teil: 29.03.30- 02.08.1830 (88)

2014-12-06

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 3.Teil: 29.03.30- 02.08.1830 (88)





Montag, den 29. März 1830 (Soret)



Abends einige Augenblicke bei Goethe. Er schien sehr ruhig und heiter und in der mildesten Stimmung. Ich fand ihn umgeben von seinem Enkel Wolf und Gräfin Karoline Egloffstein, seiner intimen Freundin. Wolf machte seinem lieben Großvater viel zu schaffen. Er kletterte auf ihm herum und saß bald auf der einen Schulter und bald auf der anderen. Goethe erduldete alles mit der größten Zärtlichkeit, so unbequem das Gewicht des zehnjährigen Knaben seinem Alter auch sein mochte. »Aber lieber Wolf,« sagte die Gräfin, »plage doch deinen guten Großvater nicht so entsetzlich! er muß ja von deiner Last ganz ermüdet werden.« - »Das hat gar nichts zusagen,« erwiderte Wolf; »wir gehen bald zu Bette, und da wird der Großvater Zeit haben, sich von dieser Fatige ganz vollkommen wieder auszuruhen.« - »Sie sehen,« nahm Goethe das Wort, »daß die Liebe immer ein wenig impertinenter Natur ist.«



Das Gespräch wendete sich auf Campe und dessen Kinderschriften.»Ich bin mit Campen«, sagte Goethe, »nur zweimal in meinem Leben zusammengetroffen. Nach einem Zwischenraum von vierzig Jahren sah ich ihn zuletzt in Karlsbad. Ich fand ihn damals sehr alt, dürr, steif und abgemessen. Er hatte sein ganzes Leben lang nur für Kinder geschrieben; ich dagegen gar nichts für Kinder, ja nicht einmal für große Kinder von zwanzig Jahren. Auch konnte er mich nicht ausstehen. Ich war ihm ein Dorn im Auge, ein Stein des Anstoßes, und er tat alles, um mich zu vermeiden. Doch führte das Geschick mich eines Tages ganz unerwartet an seine Seite, so daß er nicht umhin konnte, einige Worte an mich zu wenden. "Ich habe", sagte er, "vor den Fähigkeiten Ihres Geistes allen Respekt! Sie haben in verschiedenen Fächern eine erstaunliche Höhe erreicht. Aber, sehen Sie, das sind alles Dinge, die mich nichts angehen und auf die ich gar nicht den Wert legen kann, den andere Leute darauflegen." Diese etwas ungalante Freimütigkeit verdroß mich keineswegs, und ich sagte ihm dagegen allerlei Verbindliches. Auch halte ich in der Tat ein großes Stück auf Campe. Er hat den Kindern unglaubliche Dienste geleistet; er ist ihr Entzücken und sozusagen ihr Evangelium. Bloß wegen zwei oder drei ganz schrecklicher Geschichten, die er nicht bloß die Ungeschicklichkeit gehabt hat zu schreiben, sondern auch in seine Sammlung für Kinder mit aufzunehmen, möchte ich ihn ein wenig gezüchtiget sehen. Warum soll man die heitere, frische, unschuldige Phantasie der Kinder so ganz unnötigerweise mit den Eindrücken solcher Greuel belasten!«

Montag, den 5. April 1830



Es ist bekannt, daß Goethe kein Freund von Brillen ist.



»Es mag eine Wunderlichkeit von mir sein,« sagte er mir bei wiederholten Anlässen, »aber ich kann es einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der Brille auf der Nase zu mir herein tritt, kommt sogleich eine Verstimmung über mich, der ich nicht Herr werden kann. Es geniert mich so sehr, daß es einen großen Teil meines Wohlwollens sogleich auf der Schwelle hinwegnimmt und meine Gedanken so verdirbt, daß an eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eigenen Innern nicht mehr zu denken ist. Es macht mir immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr so, als wollte ein Fremder mir bei der ersten Begrüßung sogleich eine Grobheit sagen. Ich empfinde dieses noch stärker, nachdem ich seit Jahren es habe drucken lassen, wie fatal mir die Brillen sind. Kommt nun ein Fremder mit der Brille, so denke ich gleich: er hat deine neuesten Gedichte nicht gelesen - und das ist schon ein wenig zu seinem Nachteil; oder er hat sie gelesen, er kennt deine Eigenheit und setzt sich darüber hinaus - und das ist noch schlimmer. Der einzige Mensch, bei dem die Brille mich nicht geniert, ist Zelter; bei allen anderen ist sie mir fatal. Es kommt mir immer vor, als sollte ich den Fremden zum Gegenstand genauer Untersuchung dienen, und als wollten sie durch ihre gewaffneten Blicke in mein geheimstes Innere dringen und jedes Fältchen meines alten Gesichtes erspähen. Während sie aber so meine Bekanntschaft zu machen suchen, stören sie alle billige Gleichheit zwischen uns, indem sie mich hindern, zu meiner Entschädigung auch die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem Menschen, dem ich bei seinen mündlichen Äußerungen nicht ins Auge sehen kann und dessen Seelenspiegel durch ein paar Gläser, die mich blenden, verschleiert ist!«



»Es hat jemand bemerken wollen,« versetzte ich, »daß das Brillentragen die Menschen dünkelhaft mache, indem die Brille sie auf eine Stufe sinnlicher Vollkommenheit hebe, die weit über das Vermögen ihrer eigenen Natur erhaben, wodurch denn zuletzt sich die Täuschung bei ihnen einschleiche, daß diese künstliche Höhe die Kraft ihrer eigenen Natur sei.«



»Die Bemerkung ist sehr artig,« erwiderte Goethe, »sie scheint von einem Naturforscher herzurühren. Doch genau besehen, ist sie nicht haltbar. Denn wäre es wirklich so, so müßten ja alle Blinden sehr bescheidene Menschen sein, dagegen alle mit trefflichen Augen begabten dünkelhaft. Dies ist aber durchaus nicht so; vielmehr finden wir, daß alle geistig wie körperlich durchaus naturkräftig ausgestatteten Menschen in der Regel die bescheidensten sind, dagegen alle besonders geistig verfehlten weit eher einbilderischer Art. Es scheint, daß die gütige Natur allen denen, die bei ihr in höherer Hinsicht zu kurz gekommen sind, die Einbildung und den Dünkel als versöhnendes Ausgleichungs- und Ergänzungsmittel gegeben hat.



Übrigens sind Bescheidenheit und Dünkel sittliche Dinge so geistiger Art, daß sie wenig mit dem Körper zu schaffen haben. Bei Bornierten und geistig Dunkelen findet sich der Dünkel; bei geistig Klaren und Hochbegabten aber findet er sich nie. Bei solchen findet sich höchstens ein freudiges Gefühl ihrer Kraft; da aber diese Kraft    wirklich ist, so ist dieses Gefühl auch alles andere, aber kein Dünkel.«



Wir unterhielten uns noch über verschiedene andere Gegenstände und kamen zuletzt auch auf das "Chaos", dieser von Frau von Goethe geleiteten weimarischen Zeitschrift, woran nicht bloß hiesige deutsche Herren und Damen, sondern vorzüglich auch die hier sich aufhaltenden jungen Engländer ,Franzosen und andere Fremdlinge teilnehmen, so daß denn fast jede Nummer ein Gemisch fast aller bekanntesten europäischen Sprachen darbietet.



»Es ist doch hübsch von meiner Tochter,« sagte Goethe, »und man muß sie loben und es ihr Dank wissen, daß sie das höchst originelle Journal zustande gebracht und die einzelnen Mitglieder unserer Gesellschaft so in Anregung zu erhalten weiß, daß es doch nun bald ein Jahr besteht. Es ist freilich nur ein dilelettantischer Spaß, und ich weiß recht gut, daß nichts Großes und Dauerhaftes dabei herauskommt; allein es ist doch artig und gewissermaßen ein Spiegel der geistigen Höhe unserer jetzigen weimarischen Gesellschaft. Und dann, was die Hauptsache ist, es gibt unseren jungen Herren und Damen, die oft gar nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, etwas zu tun; auch haben sie dadurch einen geistigen Mittelpunkt, der ihnen  Gegenstände der Besprechung und Unterhaltung bietet und, sie also gegen den ganz nichtigen und hohlen Klatsch schützet. Ich lese jedes Blatt, sowie es frisch aus der Presse kommt, und kann sagen, daß mir im ganzen noch nichts Ungeschicktes vorgekommen ist, vielmehr mitunter sogar einiges recht Hübsche. Was wollen Sie z. B. gegen die Elegie der Frau von Bechtolsheim auf den Tod der Frau Großherzogin-Mutter einwenden ? Ist das Gedicht nicht sehr artig? Das einzige, was sich gegen dieses sowie gegen das meiste unserer jungen Damen und Herren sagen ließe, wäre etwa, daß sie, gleich zu saftreichen Bäumen, die eine Menge Schmarotzerschößlinge treiben, einen Überfluß von Gedanken und Empfindungen haben, deren sie nicht Herr sind, so daß sie sich selten zu beschränken und da aufzuhören wissen, wo es gut wäre. Dieses ist auch der Frau von Bechtolsheim passiert. Um einen Reim zu bewahren, hatte sie einen anderen Vers hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachteil gereichte, ja es gewissermaßen verdarb. Ich sah diesen Fehler im Manuskript und konnte ihn noch zeitig genug ausmerzen. Man muß ein alter Praktikus sein,« fügte er lachend hinzu, »um das Streichen zu verstehen. Schiller war hierin besonders groß. Ich sah ihn einmal bei Gelegenheit seines"Musenalmanachs" ein pompöses Gedicht von zweiundzwanzig Strophen auf sieben reduzieren, und zwar hatte das Produkt durch diese furchtbare Operation keineswegs verloren, vielmehr enthielten diese sieben Strophen noch alle guten und wirksamen Gedanken jener zweiundzwanzig.«

Montag, den 19. [12.] April 1830 (Soret)



Goethe erzählte mir von dem Besuch zweier Russen, die heute bei ihm gewesen. »Es waren im ganzen recht hübsche Leute,«sagte er; »aber der eine zeigte sich mir nicht eben liebenswürdig, indem er während der ganzen Visite kein einziges Wort hervorbrachte. Er kam mit einer stummen Verbeugung herein, öffnete während seiner Anwesenheit nicht die Lippen und nahm nach einem halben Stündchen mit einer stummen Verbeugung wieder Abschied. Er schien bloß gekommen zu sein, mich anzusehen und zu beobachten. Er ließ, während ich ihnen gegenüber saß, seine Blicke nicht von mir. Das ennuyierte mich; weshalb ich denn anfing, das tollste Zeug hin und her zuschwatzen, so wie es mir grade in den Kopf fuhr. Ich glaube, ich hatte die Vereinigten Staaten von Nordamerika mir zum Thema genommen, das ich auf die leichtsinnigste Weise behandelte und davon sagte, was ich wußte und was ich nicht wußte, immer grade in den Tag hinein. Das schien aber meinen beiden Fremden eben recht zu sein, denn sie verließen mich dem Anscheine nach durchaus nicht unzufrieden.«

Donnerstag, den 22. [Freitag, den 23.] April 1830 (Soret)



Bei Goethe zu Tisch. Frau von Goethe war gegenwärtig und die Unterhaltung angenehm belebt; doch ist mir davon wenig oder nichts geblieben.



Während der Tafel ließ ein durchreisender Fremder sich melden, mit dem Bemerken, daß er keine Zeit habe sich aufzuhalten und morgen früh wieder abreisen müsse. Goethe ließ ihm sagen, daß er sehr bedaure, heute niemanden sehen zu können; vielleicht aber morgen mittag. »Ich denke,« fügte er lächelnd hinzu, »das wird genug sein.« Zu gleicher Zeit aber versprach er seiner Tochter, daß er den Besuch des von ihr empfohlenen jungen Henning nach Tisch erwarten wolle, und zwar in Rücksicht seiner braunen Augen, die denen seiner Mutter gleichen sollten.

Mittwoch, den 12. Mai 1830 (Soret)



Vor Goethes Fenster stand ein kleiner bronzener Moses, eine Nachbildung des berühmten Originals von Michel Angelo. Die Arme erschienen mir im Verhältnis zum übrigen Körper zu lang und zu stark, welche meine Meinung ich gegen Goethe offen aussprach.



»Aber die beiden schweren Tafeln mit den Zehn Geboten!« rief er lebhaft; »glaubt Ihr denn, daß es eine Kleinigkeit war, die zu tragen ? Und glaubt Ihr denn ferner, daß Moses, der eine Armee Juden zu kommandieren und zu bändigen hatte, sich mit ganz ordinären Armen hätte begnügen können?«Goethe lachte, indem er dieses sagte, so daß ich nicht erfuhr, ob ich wirklich unrecht hatte, oder ob er sich mit der Verteidigung seines Künstlers nur einen Spaß machte.

Montag, den 2. [?] August 1830 (Soret)



Die Nachrichten von der begonnenen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und setzten alles in Aufregung. Ich ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe. »Nun,« rief er mir entgegen,»was denken Sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen; alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Türen!«



»Eine furchtbare Geschichte!« erwiderte ich. »Aber was ließ sich bei den bekannten Zuständen und bei einem solchen Ministerium anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen königlichen Familie endigen würde.«



»Wir scheinen uns nicht zu verstehen, mein Allerbester«, erwiderte Goethe. »Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire!«



Diese Äußerung Goethes war mir so unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte, und daß ich während einiger Minuten einen völligen Stillstand in meinen Gedanken verspürte.» Die Sache ist von der höchsten Bedeutung,« fuhr Goethe fort,»und Sie können sich keinen Begriff machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli empfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint-Hilaire einen mächtigen Alliierten auf die Dauer. Ich sehe aber zugleich daraus, wie groß die           Teilnahme der französischen wissenschaftlichen Welt an dieser Angelegenheit sein muß, indem, trotz der furchtbaren politischen Aufregung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hause stattfand. Das Beste aber ist, daß die von Geoffroy in Frankreich eingeführte synthetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Angelegenheit ist durch die freien Diskussionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Publikums, jetzt öffentlich geworden, sie läßt sich nicht mehr an geheime Ausschüsse verweisen und bei geschlossenen Türen abtun und unterdrücken. Von nun an wird auch in Frankreich bei der Naturforschung der Geist herrschen und über die Materie Herr sein. Man wird Blicke in große Schöpfungsmaximen tun, in die geheimnisvolle Werkstatt Gottes! - Was ist auch im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Teilen uns zu schaffen machen, und wir nicht das Atmen des Geistes empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede Ausschweifung durchein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanktioniert!



Ich habe mich seit fünfzig Jahren in dieser großen Angelegenheit abgemüht; anfänglich einsam,dann unterstützt und zuletzt zu meiner großen Freude überragt durch verwandte Geister. Als ich mein erstes Aperfu vom Zwischenknochen an Peter Camper schickte, ward ich zu meiner innigsten Betrübnis völlig ignoriert. Mit Blumenbach ging es mir nicht besser, obgleich er nach persönlichem Verkehr auf meine Seite trat. Dann aber gewann ich Gleichgesinnte an Sömmerring, Oken, D’Alton, Carus und anderen gleich trefflichen Männern. Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert, und ich jubele mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die ganz vorzüglich auch die meinige ist.«,


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