> Gedichte und Zitate für alle: Eckermann: Gespräche mit Goethe: 3.Teil: 06.05.27- 25.07.1827 (77)

2014-12-03

Eckermann: Gespräche mit Goethe: 3.Teil: 06.05.27- 25.07.1827 (77)




Sonntag, den 6. Mai 1827


Abermalige Tischgesellschaft bei Goethe, wobei dieselbigen Personen zugegen wie vorgestern. Man sprach sehr viel über die "Helena" und den "Tasso". Goethe erzählte uns darauf, wie er im Jahre 1797 den Plan gehabt, die Sage vom "Tell" als episches Gedicht in Hexametern zu behandeln.


»Ich besuchte«, sagte er, »im gedachten Jahre noch einmal die kleinen Kantone und den  Vierwaldstätter See, und diese reizende, herrliche und großartige Natur machte auf mich abermal seinen solchen Eindruck, daß es mich anlockte, die Abwechselung und Fülle einer so unvergleichlichen Landschaft in einem Gedicht darzustellen. Um aber in meine Darstellung mehr Reiz, Interesse und Leben zu bringen, hielt ich es für gut, den höchst bedeutenden Grund und Boden mit ebenso bedeutenden menschlichen Figuren zu staffieren, wo denn die Sage vom "Tell" mir als sehr erwünscht zustatten kam.


Den Teil dachte ich mir als einen urkräftigen, in sich selbst zufriedenen, kindlich-unbewußten Heldenmenschen, der als Lastträger die Kantone durchwandert, überall gekannt und geliebt ist, überall hülfreich, übrigens ruhig sein Gewerbe treibend, für Weib und Kinder sorgend, und sich nicht kümmernd, wer Herr oder Knecht sei.


Den Geßler dachte ich mir dagegen zwar als einen Tyrannen, aber als einen von der behaglichen Sorte, der gelegentlich Gutes tut, wenn es ihm Spaß macht, und gelegentlich Schlechtes tut, wenn es ihm Spaß macht, und dem übrigens das Volk und dessen Wohl und Wehe so völlig gleichgültige Dinge sind, als ob sie gar nicht existierten.


Das Höhere und Bessere der menschlichen Natur dagegen, die Liebe zum heimatlichen Boden, das Gefühl der Freiheit und Sicherheit unter dem Schutze vaterländischer Gesetze, das Gefühl ferner der Schmach, sich von einem fremden Wüstling unterjocht und gelegentlich mißhandelt zu sehen, und endlich die zum Entschluß reifende Willenskraft, ein so verhaßtes Joch abzuwerfen, alles dieses Höhere und Gute hatte ich den bekannten edlen Männern Walther Fürst, Stauffacher, Melchthal und anderen zugeteilt, und dieses waren meine eigentlichen Helden, meine mit Bewußtsein handelnden höheren Kräfte, während der Teil und Geßler zwar auch gelegentlich handelnd auftraten, aber im ganzen mehr Figuren passiver Natur waren. Von diesem schönen Gegenstände war ich ganz voll, und ich summte dazu schon gelegentlich meine Hexameter. Ich sah den See im ruhigen Mondschein, erleuchtete Nebel in den Tiefender Gebirge. Ich sah ihn im Glanz der lieblichsten Morgensonne, ein Jauchzen und Leben in Wald und Wiesen. Dann stellte ich einen Sturm dar, einen Gewittersturm, der sich aus den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es nicht an nächtlicher Stille und an heimlichen Zusammenkünften über Brücken und Stegen.


Von allem diesem erzählte ich Schillern, in dessen Seele sich meine Landschaften und meine handelnden Figuren zu einem Drama bildeten. Und da ich andere Dinge zu tun hatte und die Ausführung meines Vorsatzes sich immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegenstand Schillern völlig ab, der denn darauf sein bewundernswürdiges Gedicht schrieb.«


Wir freuten uns dieser Mitteilung, die allen interessant zu hören war. Ich machte bemerklich, daß es mir vorkomme, als ob die in Terzinen geschriebene prächtige Beschreibung des Sonnenaufgangs in der ersten Szene vom zweiten Teile des "Faust" aus der Erinnerung jener Natureindrücke des Vierwaldstätter Sees entstanden sein möchte.


»Ich will es nicht leugnen,« sagte Goethe, »daß diese Anschauungen dort herrühren; ja ich hätte ohne die frischen Eindrücke jener wundervollen Natur den Inhalt der erwähnten Terzinen gar nicht denken können. Das ist aber auch alles, was ich aus dem Golde meiner Tell-Lokalitäten mir gemünzt habe. Das übrige ließ ich Schillern, der denn auch davon, wie wir wissen, den schönsten Gebrauch gemacht.«


Das Gespräch wendete sich auf den "Tasso", und welche Idee Goethe darin zur Anschauung zu bringen gesucht.


»Idee?« sagte Goethe - »daß ich nicht wüßte! Ich hatte das Leben Tassos, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammen warf, entstand in mir das Bild des Tasso, dem ich als prosaischen Kontrast den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte. Die weiteren Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darstellung sagen: sie ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.


Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! - Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. -Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zulassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre!


Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem "Faust" zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte! - Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im besonderen zugrunde liege. Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im "Faust" zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!


»Es war im ganzen«, fuhr Goethe fort, »nicht meine Art, als Poet nach Verkörperung von etwas Abstraktem zu streben. Ich empfing in meinem Innern Eindrücke, und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu tun, als solche Anschauungen und Eindrück ein mir künstlerisch zu ründen und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, daß andere dieselbigen Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen.


Wollte ich jedoch einmal als Poet irgendeine Idee darstellen, so tat ich es in kleinen Gedichten, wo eine entschiedene Einheit herrschen konnte und welches zu übersehen war, wie z.B. "Die Metamorphose der Tiere", die "der Pflanze", das Gedicht "Vermächtnis" und viele andere. Das einzige Produkt von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine "Wahlverwandtschaften". Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich geworden; aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre. Vielmehr bin ich der Meinung: je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.«.
Dienstag, den 15. Mai 1827


Herr von Holtei, aus Paris kommend, ist seit einiger Zeit hier und wegen seiner Person und Talente überall herzlich empfangen. Auch zwischen ihm und Goethe und dessen Familie hat sich ein sehr freundliches Verhältnis gebildet.


Goethe ist seit einigen Tagen auf seinen Garten gezogen, wo er in stiller Tätigkeit sich sehr beglückt findet. Ich besuchte ihn heute dort mit Herrn von Holtei und Grafen Schulenburg, welcher erstere Abschied nahm, um mit Ampere nach Berlin zu gehen.
Mittwoch, den 25. Juli 1827


Goethe hat in diesen Tagen einen Brief von Walter Scott erhalten, der ihm große Freude machte. Er zeigte ihn mir heute, und da ihm die englische Handschrift etwas sehr unleserlich vorkam, so bat er mich, ihm den Inhalt zu übersetzen. Es scheint, daß Goethe dem berühmten englischen Dichter zuerst geschrieben hatte und daß dieser Brief darauf eine Erwiderung ist.


.»Ich fühle mich sehr geehrt,« schreibt Walter Scott, »daß irgendeine meiner Produktionen so glücklich gewesen ist, die Beachtung Goethes auf sich zu ziehen, zu dessen Bewunderern ich seit dem Jahre 1798 gehöre, wo ich trotz meiner geringen Bekanntschaft mit der deutschen Sprache kühn genug war,den "Götz von Berlichingen" ins Englische zu übertragen. Ich hatte bei diesem jugendlichen Unternehmen ganz vergessen, daß es nicht genug sei, die Schönheit eines genialen Werkes zu fühlen, sondern daß man auch die Sprache, worin es geschrieben, aus dem Grunde verstehen müsse, ehe es uns gelingen könne, solche Schönheit auch anderen fühlbar zu machen. Dennoch lege ich auf jenen jugendlichen Versuch noch jetzt einigen Wert, weil er doch wenigstens zeigt, daß ich einen Gegenstand zu wählen wußte, der der Bewunderung würdig war.


Ich habe oft von Ihnen gehört, und zwar durch meinen Schwiegersohn Lockhart, einen jungen Mann von literarischer Bedeutung, der vor einigen Jahren, ehe er meiner Familie verbunden war, die Ehre hatte, dem Vater der deutschen Literatur vorgestellt zu werden. Es ist unmöglich, daß Sie unter der großen Zahl derer, die sich gedrängt fühlen, Ihnen ihre Ehrfurcht zu bezeigen, sich jedes einzelnen erinnern sollten; aber ich glaube, es ist Ihnen niemand inniger ergeben als eben jenes junge Mitglied meiner Familie.


Mein Freund Sir John Hope von Pinkie hat kürzlich die Ehre gehabt, Sie zu sehen, und ich hoffte Ihnen zu schreiben, und nahm auch später mir wirklich diese Freiheit durch zwei seiner Verwandten, die Deutschland zu bereisen die Absicht hatten; allein sie wurden durch Krankheit behindert, ihr Vorhaben auszuführen, so daß mir denn mein Brief nach zwei bis drei Monaten zurückkam. Ich habe also Goethes Bekanntschaft schon früher zu suchen mich erdreistet, und zwar noch vor jener schmeichelhaften Notiz, die er so freundlich gewesen ist, von mir zu nehmen.


Es gibt allen Bewunderern des Genies ein wohltätiges Gefühl, zu wissen, daß eins der größten europäischen Vorbilder einer glücklichen und ehrenvollen Zurückgezogenheit in einem Alter genießt, in welchem er auf eine so ausgezeichnete Weise sich geehrt sieht. Dem armen Lord Byron ward leider vom Schicksal kein so günstiges Los zuteil, indem es ihn in der Blüte seiner Jahre hinwegnahm und so vieles, was noch von ihm gehofft und erwartet wurde, für immer zerschnitt. Er schätzte sich glücklich in der Ehre, die Sie ihm erzeigten, und fühlte, was er einem Dichter schuldig war, dem alle Schriftsteller der lebenden Generation so viel verdanken, daß sie sich verpflichtet fühlen, mit kindlicher Verehrung zu ihm hinaufzublicken.


Ich habe mir die Freiheit genommen, die Herren Treuttel und Würtz zu ersuchen, Ihnen meinen Versuch einer Lebensgeschichte jenes merkwürdigen Mannes zu senden, der so viele Jahre lang einen so fürchterlichen Einfluß auf die Welt hatte, die er beherrschte. Ich weiß übrigens nicht, ob ich ihm nicht irgend einige Verbindlichkeiten schuldig geworden, da er mich zwölf Jahre lang unter die Waffen brachte, während welcher Zeit ich in einem Korps unserer Landmiliz diente und trotz einer frühen Lahmheit ein guter Reuter, Jäger und Schütze wurde. Diese guten Fähigkeiten haben jedoch in der letzten Zeit mich ein wenig verlassen, indem der Rheumatismus, diese traurige Plage unseres nördlichen Klimas, seinen Einfluß auf meine Glieder gelegt hat. Doch klage ich nicht, da ich meine Söhne jetzt die Jagdvergnügungen treiben sehe, seitdem ich sie habe aufgeben müssen.


Mein ältester Sohn hat eine Schwadron Husaren, welches für einen fünfundzwanzigjährigen jungen Mann immer viel ist. Mein jüngerer Sohn hat neulich zu Oxford den Grad eines Bakkalaureus der schönen Wissenschaften erhalten und wird jetzt einige Monate zu Hause zubringen, ehe er in die Welt geht. Da es Gott gefallen hat, mir ihre Mutter zu nehmen, so führt meine jüngste Tochter mein Hauswesen. Meine älteste ist verheiratet und hat eine Familie für sich.


Dies sind die häuslichen Zustände eines Mannes, nach dem Sie so gütig sich erkundiget haben. Übrigens besitze ich genug, um ganz so zu leben, wie ich wünsche, ungeachtet einiger sehr schwerer Verluste. Ich bewohne ein stattliches altes Schloß, in welchem jeder Freund Goethes zu jeder Zeit willkommen sein wird. Die Vorhalle ist mit Rüstungen angefüllt, die selbst für Jaxthausen gepaßt haben würden; ein großer Schweißhund bewacht den Eingang.


Ich habe übrigens den vergessen, der dafür zu sorgen wußte, daß man ihn nicht vergaß, während er lebte. Ich hoffe, Sie werden die Fehler des Werkes verzeihen, indem Sie berücksichtigen, daß der Autor von dem Wunsch beseelt war, gegen das Andenken jenes außerordentlichen Mannes so aufrichtig zu verfahren, wie seine insularischen Vorurteile nur immer erlauben wollten.


Da diese Gelegenheit, Ihnen zu schreiben, sich mir plötzlich und zufällig durch einen Reisenden darbietet und keinen Aufschub erleidet, so fehlt mir die Zeit, etwas Weiteres zu sagen, als daß ich Ihnen eine fortgesetzte gute Gesundheit und Ruhe wünsche und mich mit der aufrichtigsten und tiefsten Hochachtung unterzeichne.

Edinburgh, den 9 Juli 1827.

Walter Scott


Goethe hatte, wie gesagt, über diesen Brief große Freude. Er war übrigens der Meinung, als enthalte er zu viel Ehrenvolles für ihn, als daß er nicht sehr vieles davon auf Rechnung der Höflichkeit eines Mannes von Rang und hoher Weltbildung zu setzen habe.


Er erwähnte sodann die gute und herzliche Art, womit Walter Scott seine Familienverhältnisse zur Sprache bringe, welches ihn, als Zeichen eines brüderlichen Vertrauens, im hohen Grade beglücke.


»Ich bin nun wirklich«, fuhr er fort, »auf sein "Leben Napoleons" begierig, welches er mir ankündigt. Ich höre so viel Widersprechendes und Leidenschaftliches über das Buch, daß ich im voraus gewiß bin, es wird auf jeden Fall sehr bedeutend sein.


«Ich fragte nach Lockhart, und ob er sich seiner noch erinnere.»Noch sehr wohl«, erwiderte Goethe. »Seine Persönlichkeit macht einen entschiedenen Eindruck, so daß man ihn so bald nicht wieder vergißt. Er soll, wie ich von reisenden Engländern und meiner Schwiegertochter höre, ein junger Mann sein, von dem man in der Literatur gute Dinge erwartet.


Übrigens wundere ich mich fast, daß Walter Scott kein Wort über Carlyle sagt, der doch eine so entschiedene Richtung auf das Deutsche hat, daß er ihm sicher bekannt sein muß.


An Carlyle ist es bewundernswürdig, daß er bei Beurteilung unserer deutschen Schriftsteller besonders den geistigen und sittlichen Kern als das eigentlich Wirksame im Auge hat. Carlyle ist eine moralische Macht von großer Bedeutung. Es ist in ihm viel Zukunft vorhanden, und es ist gar nicht abzusehen, was er alles leisten und wirken wird.«



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