Eckermann: Gespräche mit Goethe: 3.Teil: 21.08.30- 19.10.1831 (89)
Sonnabend, den 21. August 1830 (Soret)
Ich empfahl Goethen einen hoffnungsvollen jungen Menschen. Er versprach, etwas für ihn zu tun, doch schien er wenig Vertrauen zu haben.
»Wer wie ich«, sagte er, »ein ganzes Leben lang kostbare Zeit und Geld mit der Protektion junger Talente verloren hat, und zwar Talente, die anfänglich die höchsten Hoffnungen erweckten, aus denen aber am Ende gar nichts geworden ist, dem muß wohl der Enthusiasmus und die Lust, in solcher Richtung zuwirken, nach und nach vergehen. Es ist nun an Euch jüngeren Leuten, den Mäzen zu spielen und meine Rolle zu übernehmen.«Ich verglich bei dieser Äußerung Goethes die täuschenden Versprechungen der Jugend mit Bäumen, die doppelte Blüten, aber keine Früchte tragen.
Mittwoch, den 13. Oktober 1830 (Soret)
Goethe zeigte mir Tabellen, wohin ein er in lateinischer und deutscher Sprache viele Namen von Pflanzen geschrieben hatte, um sie auswendig zu lernen. Er sagte mir, daß er ein Zimmer gehabt, das ganz mit solchen Tabellen austapeziert gewesen, und worin er, an den Wänden umhergehend, studiert und gelernt habe. »Es tut mir leid,« fügte er hinzu, »daß es später überweißt worden. Auch hatte ich ein anderes, das mit chronologischen Notizen meiner Arbeiten während einer langen Reihe von Jahren beschrieben war, und worauf ich das Neueste immer nachtrug. Auch dieses ist leider übertüncht worden, welches ich nicht wenig bedaure, indem es mir gerade jetzt herrliche Dienste tun könnte.«
Mittwoch, den 20. Oktober 1830 (Soret)
Ein Stündchen bei Goethe, um mit ihm im Auftrag der Frau Großherzogin wegen eines silbernen Wappenschildes Rücksprache zu nehmen, das der Prinz der hiesigen Armbrustschützengesellschaft verehren soll, deren Mitglied er geworden. Unsere Unterhaltung wendete sich bald auf andere Dinge, und Goethe bat mich, ihm meine Meinung über die Saint-Simonisten zu sagen.
»Die Hauptrichtung ihrer Lehre«, erwiderte ich, »scheint dahin zu gehen, daß jeder für das Glück des Ganzen arbeiten solle, als unerläßliche Bedingung seines eigenen Glückes.«
»Ich dächte,« erwiderte Goethe, »jeder müsse bei sich selber anfangen und zunächst sein eigenes Glück machen, woraus denn zuletzt das Glück des Ganzen unfehlbar entstehen wird. Übrigens erscheint jene Lehre mir durchaus unpraktisch und unausführbar. Sie widerspricht aller Natur, aller Erfahrung und allem Gang der Dinge seit Jahrtausenden. Wenn jeder nur als einzelner seine Pflicht tut und jeder nur in dem Kreise seines nächsten Berufes brav und tüchtig ist, so wird es um das Wohl des Ganzen gut stehen. Ich habe in meinem Beruf als Schriftsteller nie gefragt: was will die große Masse, und wie nütze ich dem Ganzen ? sondern ich habe immer nur dahin getrachtet, mich selbst einsichtiger und besser zu machen, den Gehalt meiner eigenen Persönlichkeit zu steigern, und dann immer nur auszusprechen, was ich als gut und wahr erkannt hatte. Dieses hat freilich, wie ich nicht leugnen will, in einem großen Kreise gewirkt und genützt; aber dies war nicht Zweck, sondern ganz notwendige Folge, wie sie bei allen Wirkungen natürlicher Kräfte stattfindet. Hätte ich als Schriftsteller die Wünsche des großen Haufens mir zum Ziel machen und diese zu befriedigen trachten wollen, so hätte ich ihnen Histörchen erzählen und sie zum besten haben müssen, wie der selige Kotzebue getan.«
»Dagegen ist nichts zu sagen«, erwiderte ich. »Es gibt aber nicht bloß ein Glück, was ich als einzelnes Individuum, sondern auch ein solches, was ich als Staatsbürger und Mitglied einer großen Gesamtheit genieße. Wenn man nun die Erreichung des möglichsten Glückes für ein ganzes Volk nicht zum Prinzip macht, von welcher Basis soll da die Gesetzgebung ausgehen!«»Wenn Sie dahinaus wollen,« erwiderte Goethe, »so habe ich freilich gar nichts einzuwenden. In solchem Fall könnten aber nur sehr wenige Auserwählte von Ihrem Prinzip Gebrauch machen. Es wäre nur ein Rezept für Fürsten und Gesetzgeber; wiewohl es mir auch da scheinen will, als ob die Gesetze mehr trachten müßten, die Masse der Übel zu vermindern, als sich anmaßen zu wollen, die Masse des Glückes herbeizuführen.«»Beides«, entgegnete ich, »würde wohl ziemlich auf eins hinauskommen. Schlechte Wege erscheinen mir z. B. als ein großes Übel. Wenn nun der Fürst in seinem Staate, bis auf die letzte Dorfgemeinde, gute Wege einführt, so ist nicht bloß ein großes Übel gehoben, sondern zugleich für sein Volk ein großes Glück erreicht. Ferner ist eine langsame Justiz ein großes Unglück. Wenn aber der Fürst durch Anordnung eines öffentlichen mündlichen Verfahrens seinem Volke eine rasche Justiz gewährt, so ist abermals nicht bloß ein großes Übel beseitigt, sondern abermals ein großes Glück da.«
»Aus diesem Tone«, fiel Goethe ein, »wollte ich euch noch ganz andere Lieder pfeifen. Aber wir wollen noch einige Übel unangedeutet lassen, damit der Menschheit etwas bleibe, woran sie ihre Kräfte ferner entwickele. Meine Hauptlehre aber ist vorläufig diese: der Vater sorge für sein Haus, der Handwerker für seine Kunden, der Geistliche für gegenseitige Liebe, und die Polizei störe die Freude nicht!«
Dienstag, den 4. Januar 1831 (Soret)
Ich durchblätterte mit Goethe einige Hefte Zeichnungen meines Freundes Töpffer in Genf, dessen Talent als Schriftsteller wie als bildender Künstler gleich groß ist, der es aber bis jetzt vorzuziehen scheint, die lebendigen Anschauungen seines Geistes durch sichtbare Gestalten statt durch flüchtige Worte auszudrücken. Das Heft, welches in leichten Federzeichnungen die »Abenteuer des "Doktor Festus" enthielt, machte vollkommen den Eindruck eines komischen Romans und gefiel Goethen ganz besonders. »Es ist wirklich zu toll!« rief er von Zeit zu Zeit, indem er ein Blatt nach dem andern umwendete; »es funkelt alles von Talent und Geist! Einige Blätter sind ganz unübertrefflich! Wenn er künftig einen weniger frivolen Gegenstand wählte und sich noch ein bißchen mehr zusammennähme,so würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären.«
»Man hat ihn mit Rabelais vergleichen und ihm vorwerfen wollen,« bemerkte ich, »daß er jenen nachgeahmt und von ihm Ideen entlehnt habe.«
»Die Leute wissen nicht, was sie wollen,« erwiderte Goethe;»ich finde durchaus nichts von dergleichen. Töpffer scheint mir im Gegenteil ganz auf eigenen Füßen zu stehen und so durchaus originell zu sein, wie mir nur je ein Talent vorgekommen.«
Montag, den 17. Januar 1831 (Soret)
Ich fand Coudray bei Goethe in Betrachtung architektonischer Zeichnungen. Ich hatte ein Fünffrankenstück von 1830 mit dem Bildnis Karls X. bei mir, das ich vorzeigte. Goethe scherzte über den zugespitzten Kopf. »Das Organ der Religiosität erscheint bei ihm sehr entwickelt«, bemerkte er. »Ohne Zweifel hat er aus übergroßer Frömmigkeit nicht für nötig gehalten, seine Schuld zu bezahlen; dagegen sind wir sehr tief in die seinige geraten, indem wir es seinem Geniestreich verdanken, daß man jetzt in Europa so bald nicht wieder zur Ruhe kommen wird.«
Wir sprachen darauf über "Rouge et Noir", welches Goethe für das beste Werk von Stendhal hält. »Doch kann ich nicht leugnen,« fügte er hinzu, »daß einige seiner Frauencharaktere ein wenig zu romantisch sind. Indes zeugen sie alle von großer Beobachtung und psychologischem Tiefblick, so daß man denn dem Autor einige Unwahrscheinlichkeiten des Details gerne verzeihen mag.«
Sonntag, den 23. Januar 1831 (Soret)
Mit dem Prinzen bei Goethe. Seine Enkel amüsierten sich mit Taschenspielerkunststückchen, worin besonders Walter geübt ist. »Ich habe nichts dawider,« sagte Goethe, »daß die Knaben ihre müßigen Stunden mit solchen Torheiten ausfüllen. Es ist, besonders in Gegenwart eines kleinen Publikums, ein herrliches Mittel zur Übung in freier Rede und Erlangung einiger körperlichen und geistigen Gewandtheit, woran wir Deutschen ohnehin keinen Überfluß haben. Der Nachteil allenfalls entstehender kleiner Eitelkeit wird durch solchen Gewinn vollkommen aufgewogen.«
»Auch sorgen schon die Zuschauer für die Dämpfung solcher Regungen,« bemerkte ich, »indem sie dem kleinen Künstler gewöhnlich sehr scharf auf die Finger sehen und schadenfroh genug sind, seine Fehlgriffe zu verhöhnen und seine kleinen Geheimnisse zu seinem Verdruß öffentlich aufzudecken.«»Es geht ihnen wie den Schauspielern,« versetzte Goethe, »die heute gerufen und morgen gepfiffen werden, wodurch denn alles im schönsten Gleise bleibt.«
Donnerstag, den 10. März 1831 (Soret)
Diesen Mittag ein halbes Stündchen bei Goethe. Ich hatte ihm die Nachricht zu bringen, daß die Frau Großherzogin beschlossen habe, der Direktion des hiesigen Theaters ein Geschenk von tausend Talern zustellen zu lassen, um zur Ausbildung hoffnungsvoller junger Talente verwandt zu werden. Diese Nachricht machte Goethen, dem das fernere Gedeihendes Theaters am Herzen liegt, sichtbare Freude.
Sodann hatte ich einen Auftrag anderer Art mit ihm zu bereden. Es ist nämlich die Absicht der Frau Großherzogin, den jetzigen besten deutschen Schriftsteller, insofern er ohne Amt und Vermögen wäre und bloß von den Früchten seines Talentes leben müßte, nach Weimar berufen zu lassen und ihm hier eine sorgenfreie Lage zu bereiten, dergestalt, daß er die gehörige Muße fände, jedes seiner Werke zu möglichster Vollendung heranreifen zu lassen, und nicht in den traurigen Fall käme, aus Not flüchtig und übereilt zu arbeiten, zum Nachteil seines eigenen Talents und der Literatur.
»Die Intention der Frau Großherzogin«, erwiderte Goethe,»ist wahrhaft fürstlich, und ich beuge mich vor ihrer edlen Gesinnung; allein es wird sehr schwer halten, irgendeine passende Wahl zu treffen. Die vorzüglichsten unserer jetzigen Talente sind bereits durch Anstellung im Staatsdienst, Pensionen oder eigenes Vermögen in einer sorgenfreien Lage. Auch paßt nicht jeder hieher, und nicht jedem wäre wirklich damit geholfen. Ich werde indes die edle Absicht im Auge behalten und sehen, was die nächsten Jahre uns etwa Gutes bringen.«
Donnerstag, den 31. März 1831 (Soret)
Goethe war in der letzten Zeit abermals sehr unwohl, so daß er nur seine vertrautesten Freunde bei sich sehen konnte. Vor einigen Wochen mußte ihm ein Aderlaß verordnet werden; dann zeigten sich Beschwerden und Schmerzen im rechten Beine, bis denn zuletzt sein inneres Übel durch eine Wunde am Fuß sich Luft machte, worauf sehr schnelle Besserung erfolgte. Auch diese Wunde ist nun seit einigen Tagen wieder heil, und er ist wieder heiter und graziös wie vorher.
Heute hatte die Frau Großherzogin ihm einen Besuch gemacht und kam sehr zufrieden von ihm zurück. Sie hatte nach seinem Befinden gefragt, worauf er denn sehr galant geantwortet, daß er bis heute seine Genesung noch nicht gespürt, daß aber ihre Gegenwart ihm das Glück der wiedererlangten Gesundheit aufs neue empfinden lasse.
Soiree beim Prinzen. Einer der älteren anwesenden Herren, der sich noch mancher Dinge aus den ersten Jahren von Goethes Hiersein erinnerte, erzählte uns folgendes sehr Charakteristische.
»Ich war dabei,« sagte er, »als Goethe im Jahre 1784 seine bekannte Rede bei der feierlichen Eröffnung des Ilmenauer Bergwerks hielt, wozu er alle Beamten und Interessenten aus der Stadt und Umgegend eingeladen hatte. Er schien seine Rede gut im Kopf zu haben, denn er sprach eine Zeitlang ohne allen Anstoß und vollkommen geläufig. Mit einemmal aber schiener wie von seinem guten Geist gänzlich verlassen, der Faden seiner Gedanken war wie abgeschnitten, und er schien den Überblick des ferner zu Sagenden gänzlich verloren zu haben. Dies hätte jeden andern in große Verlegenheit gesetzt, ihn aber keineswegs. Er blickte vielmehr wenigstens zehn Minuten lang fest und ruhig in dem Kreis seiner zahlreichen Zuhörer umher, die durch die Macht seiner Persönlichkeit wie gebannt waren, so daß während der sehr langen, ja fast lächerlichen Pause jeder vollkommen ruhig blieb. Endlich schien er wieder Herr seines Gegenstandes geworden zu sein, er fuhr in seiner Rede fort und führte sie sehr geschickt ohne Anstoß bis zu Ende, und zwar so frei und heiter, als ob gar nichts passiert wäre.«
Montag, den 20. Juni 1831
Diesen Nachmittag ein halbes Stündchen bei Goethe, den ich noch bei Tisch fand.
Wir verhandelten über einige Gegenstände der Naturwissenschaft, besonders über die Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit der Sprache, wodurch Irrtümer und falsche Anschauungen verbreitet würden, die später so leicht nicht wieder zu überwinden wären.
»Die Sache ist ganz einfach diese«, sagte Goethe. »Alle Sprachen sind aus nahe liegenden menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allgemein menschlichen Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahndung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegende auszudrücken. Es müßte ihm die Sprache der Geister zu Gebote stehen, um seinen eigentümlichen Wahrnehmungen zu genügen. Da dieses aber nicht ist, so muß er bei seiner Anschauung ungewöhnlicher Naturverhältnisse stets nach menschlichen Ausdrücken greifen, wobei er denn fast überall zu kurz kommt, seinen Gegenstand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet.«
»Wenn Sie das sagen,« erwiderte ich, »der Sie doch Ihren Gegenständen jedesmal sehr scharf auf den Leib gehen und, als Feind aller Phrase, für Ihre höheren Wahrnehmungen stets den bezeichnendsten Ausdruck zu finden wissen, so will das etwas heißen. Ich dächte aber,wir Deutschen könnten überhaupt noch allenfalls zufrieden sein. Unsere Sprache ist so außerordentlich reich, ausgebildet und fortbildungsfähig, daß, wenn wir auch mitunter zu einem Tropus unsere Zuflucht nehmen müssen, wir doch ziemlich nahe an das eigentlich Auszusprechende herankommen. Die Franzosen aber stehen gegen uns sehr im Nachteil. Bei ihnen wird der Ausdruck eines angeschauten höheren Naturverhältnisses durch einen gewöhnlich aus der Technik hergenommenen Tropus sogleich materiell und gemein, so daß er der höheren Anschauung keineswegs mehr genügt.«
»Wie sehr Sie recht haben,« fiel Goethe ein, »ist mir noch neulich bei dem Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire vorgekommen. Geoffroy de Saint-Hilaire ist ein Mensch, der wirklich in das geistige Walten und Schaffen der Natur eine hohe Einsicht hat; allein seine französische Sprache, insofern er sich herkömmlicher Ausdrücke zu bedienen gezwungen ist, läßt ihn durchaus im Stich. Und zwar nicht bloß bei geheimnisvoll-geistigen, sondern auch bei ganz sichtbaren, rein körperlichen Gegenständen und Verhältnissen. Will er die einzelnen Feile eines organischen Wesens ausdrücken, so hat er dafür kein anderes Wort als Materialien, wodurch denn z.B. die Knochen, welche als gleichartige Teile das organische Ganze eines Armes bilden, mit den Steinen, Balken und Brettern, woraus man ein Haus macht, auf eine Stufe des Ausdrucks kommen.
Ebenso ungehörig«, fuhr Goethe fort, »gebrauchen die Franzosen, wenn sie von Erzeugnissen der Natur reden, den Ausdruck Komposition. Ich kann aber wohl die einzelnen Teile einer stückweise gemachten Maschine zusammensetzen und bei einem solchen Gegenstände von Komposition reden, aber nicht, wenn ich die einzelnen lebendig sich bildenden und voneiner gemeinsamen Seele durchdrungenen Teile eines organischen Ganzen im Sinne habe.«
»Es will mir sogar scheinen,« versetzte ich, »als ob der Ausdruck Komposition auch bei echten Erzeugnissen der Kunst und Poesie ungehörig und herabwürdigend wäre.«
»Es ist ein ganz niederträchtiges Wort,« erwiderte Goethe, »das wir den Franzosen zu danken haben und das wir sobald wie möglich wieder los zu werden suchen sollten. Wie kann man sagen, Mozart habe seinen "Don Juan" komponiert! - Komposition!- Als ob es ein Stück Kuchen oder Biskuit wäre, das man aus Eiern, Mehl und Zucker zusammenrührt! Eine geistige Schöpfung ist es, das Einzelne wie das Ganze aus Einem Geiste und Guß und von dem Hauche Eines Lebens durchdrungen, wobei der Produzierende keineswegs versuchte und stückelte und nach Willkür verfuhr, sondern wobei der dämonische Geist seines Genies ihn in der Gewalt hatte, so daß er ausführen mußte, was jener gebot.«
Montag, den 27. Juni 1831 (Soret)
Wir sprachen über Victor Hugo. »Er ist ein schönes Talent,«sagte Goethe, »aber ganz in der unselig-romantischen Richtung seiner Zeit befangen, wodurch er denn neben dem Schönen auch das Allerunerträglichste und Häßlichste darzustellen verführt wird. Ich habe in diesen Tagen seine "Notre-Dame deParis" gelesen und nicht geringe Geduld gebraucht, um die Qualen auszustehen, die diese Lektüre mir gemacht hat. Es ist das abscheulichste Buch, das je geschrieben worden! Auch wird man für die Folterqualen, die man auszustehen hat, nicht einmal durch die Freude entschädigt, die man etwa an der dargestellten Wahrheit menschlicher Natur und menschlicher Charaktere empfinden könnte. Sein Buch ist im Gegenteil ohne alle Natur und ohne alle Wahrheit! Seine vorgeführten sogenannten handelnden Personen sind keine Menschen mit lebendigem Fleisch und Blut, sondern elende hölzerne Puppen, mit denen er umspringt, wie er Belieben hat, und die er allerlei Verzerrungen und Fratzen machen läßt, so wie er es für seine beabsichtigten Effekte eben braucht. Was ist das aber für eine Zeit, die ein solches Buch nicht allein möglich macht und hervorruft, sondern es sogar ganz erträglich und ergötzlich findet!«
Donnerstag, den 14. Juli 1831 (Soret)
Ich begleitete mit dem Prinzen Se. Majestät den König von Württemberg zu Goethe. Der König schien bei unserer Zurückkunft sehr befriedigt und trug mir auf, Goethen für das Vergnügen zu danken, das dieser Besuch ihm gemacht habe.
Freitag, den 15. Juli 1831 (Soret)
Einen Augenblick bei Goethe, dem ich meine gestrige Kommission des Königs ausrichtete. Ich fand ihn beschäftigt in Studien in bezug auf die Spiraltendenz der Pflanze, von welcher neuen Entdeckung er der Meinung ist, daß sie sehr weit führen und auf die Wissenschaft großen Einfluß ausüben werde. »Es geht doch nichts über die Freude,« fügte er hinzu, »die uns das Studium der Natur gewährt. Ihre Geheimnisse sind von einer unergründlichen Tiefe, aber es ist uns Menschen erlaubt und gegeben, immer weitere Blicke hineinzutun. Und grade, daß sie am Ende doch unergründlich bleibt, hat für uns einen ewigen Reiz, immer wieder zu ihr heranzugehen und immer wieder neue Einblicke und neue Entdeckungen zu versuchen.«
Mittwoch, den 20. Juli 1831 (Soret)
Nach Tisch ein halbes Stündchen bei Goethe, den ich sehr heiterer milder Stimmung fand. Wir sprachen über allerlei Dinge, zuletzt auch über Karlsbad, und er scherzte über die mancherlei Herzensabenteuer, die er daselbst erlebt. »Eine kleine Liebschaft«, sagte er, »ist das einzige, was uns einen Badeaufenthalt erträglich machen kann; sonst stirbt man vor Langerweile. Auch war ich fast jedesmal so glücklich, dort irgendeine kleine Wahlverwandtschaft zu finden, die mir während der wenigen Wochen einige Unterhaltung gab. Besonders erinnere ich mich eines Falles, der mir noch jetzt Vergnügen macht.
Ich besuchte nämlich eines Tages Frau von der Recke. Nachdem wir uns eine Weile nicht sonderlich unterhalten und ich wieder Abschied genommen hatte, begegnete mir im Hinausgehen eine Dame mit zwei sehr hübschen jungen Mädchen. "Wer war der Herr, der soeben von Ihnen ging?" fragte die Dame. "Es war Goethe", antwortete Frau von Recke. "O wie leid tut es mir," erwiderte die Dame, "daß er nicht geblieben ist, und daß ich nicht das Glück gehabt habe, seine Bekanntschaft zu machen!"-"Oh, daran haben Sie durchaus nichts verloren,
meine Liebe", sagte die Recke. " Er ist sehr langweilig
unter Damen, es sei denn, daß sie hübsch genug wären, ihm einiges
Interesse einzuflößen. Frauen unseres Alters dürfen nicht
daran denken, ihn beredt und liebenswürdig zu machen."
Als die beiden Mädchen mit ihrer Mutter nach Hause gingen,
gedachten sie der Worte der Frau von Recke. "Wir sind jung,
wir sind hübsch," sagten sie, "laßt doch sehen, ob es uns nicht
gelingt, jenen berühmten Wilden einzufangen und zuzähmen ! Am anderen Morgen auf der Promenade am Sprudel machten
sie mir im Vorübergehen wiederholt die graziösesten lieblichsten
Verbeugungen, worauf ich denn nicht unterlassen konnte,
mich gelegentlich ihnen zu nähern und sie anzureden. Sie waren
scharmant! Ich sprach sie wieder und wieder, sie führten mich
zu ihrer Mutter, und so war ich denn gefangen. Von nun an sahen
wir uns täglich, ja wir verlebten ganze Tage miteinander.
Um unser Verhältnis noch inniger zu machen, ereignete es sich,
daß der Verlobte der einen ankam, worauf ich mich denn um so
ungeteilter an die andere schloß. Auch gegen die Mutter war
ich, wie man denken kann, sehr liebenswürdig. Genug, wir
waren alle miteinander überaus zufrieden, und ich verlebte mit
dieser Familie so glückliche Tage, daß sie mir noch jetzt eine
höchst angenehme Erinnerung sind. Die beiden Mädchen erzählten
mir sehr bald die Unterredung zwischen ihrer Mutter
und Frau von Recke, und welche Verschwörung sie zu meiner
Eroberung angezettelt und zu glücklicher Ausführung gebracht.
«
Hiebei fällt mir eine Anekdote anderer Art ein, die Goethe mir
früher erzählte und die hier einen Platz finden mag.
»Ich ging«, sagte er mir, »mit einem guten Bekannten einst
in einem Schloßgarten gegen Abend spazieren, als wir unerwartet
am Ende der Allee zwei andere Personen unseres Kreises
bemerkten, die in ruhigen Gesprächen aneinander hingingen.
Ich kann Ihnen so wenig den Herrn als die Dame nennen, aber
es tut nichts zur Sache. Sie unterhielten sich also und schienen
an nichts zu denken, als mit einem Mal ihre Köpfe sich gegeneinander
neigten und sie sich gegenseitig einen herzhaften Kuß
gaben. Sie schlugen darauf ihre erste Richtung wieder ein und
setzten sehr ernst ihre Unterhaltung fort, als ob nichts passiert
wäre. "Haben Sie es gesehen ?" rief mein Freund voll Erstaunen; "darf ich meinen Augen trauen ?" Ich habe es gesehen, erwiderte
ich ganz ruhig - aber ich glaube es nicht!«
Dienstag, den 2. August 1831 (Soret)
Wir sprachen über die Metamorphose der Pflanze, und namentlich
über de Candolles Lehre von der Symmetrie, die Goethe
für eine bloße Illusion hält.
»Die Natur«, fügte er hinzu, »ergibt sich nicht einem jeden.
Sie erweiset sich vielmehr gegen viele wie ein neckisches junges
Mädchen, das uns durch tausend Reize anlockt, aber in
dem Augenblick, wo wir es zu fassen und zu besitzen glauben,
unsern Armen entschlüpft.«
Mittwoch, den 19. Oktober 1831 (Soret)
Heute war zu Belvedere die Versammlung der Gesellschaft zur
Beförderung des Ackerbaues; auch erste Ausstellung von
Früchten und Gegenständen der Industrie, welche reicher war,
als man erwartet hatte. Darauf großes Diner der zahlreich anwesenden
Mitglieder. Goethe trat herein, zu freudiger Überraschung
aller Anwesenden. Er verweilte einige Zeit und betrachtete
sodann die ausgestellten Gegenstände mit sichtbarem
Interesse. Sein Erscheinen machte den glücklichsten
Eindruck, besonders auch auf solche, die ihn früher noch nicht
gesehen.
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