1826
Montag, den 5. Juni 1826
Goethe erzählte mir, daß Preller bei ihm gewesen und Abschied genommen, um auf einige Jahre nach Italien zu gehen.
»Als Reisesegen«, sagte Goethe, »habe ich ihm geraten, sich nicht verwirren zu lassen, sich besonders an Poussin und Claude Lorrain zu halten und vor allen die Werke dieser beiden Großen zu studieren, damit ihm deutlich werde, wie sie die Natur angesehen und zum Ausdruck ihrer künstlerischen Anschauungen und Empfindungen gebraucht haben.
Preller ist ein bedeutendes Talent, und mir ist für ihn nicht bange. Er erscheint mir übrigens von sehr ernstem Charakter, und ich bin fast gewiß, daß er sich eher zu Poussin als zu Claude Lorrain neigen wird. Doch habe ich ihm den letzteren zu besonderem Studium empfohlen, und zwar nicht ohne Grund. Denn es ist mit der Ausbildung des Künstlers wie mit der Ausbildung jedes anderen Talentes. Unsere Stärken bilden sich gewissermaßen von selber, aber diejenigen Keime und Anlagen unserer Natur, die nicht unsere tägliche Richtung und nicht so mächtig sind, wollen eine besondere Pflege, damit sie gleichfalls zu Stärken werden.
So können einem jungen Sänger, wie ich schon oft gesagt, gewisse Töne angeboren sein, die ganz vortrefflich sind und die nichts weiter zu wünschen übrig lassen; andere Töne seiner Stimme aber können weniger stark, rein und voll befunden werden. Aber eben diese muß er durch besondere Übung dahin zu bringen suchen, daß sie den anderen gleich werden.
Ich bin gewiß, daß Prellern einst das Ernste, Großartige, vielleicht auch das Wilde, ganz vortrefflich gelingen wird. Ob er aber im Heiteren, Anmutigen und Lieblichen gleich glücklich sein werde, ist eine andere Frage, und deshalb habe ich ihm den
Claude Lorrain ganz besonders ans Herz gelegt, damit er sich durch Studium dasjenige aneigne, was vielleicht nicht in der eigentlichen Richtung seines Naturells liegt.
Sodann war noch eins, worauf ich ihn aufmerksam gemacht. Ich habe bisher viele Studien nach der Natur von ihm gesehen. Sie waren vortrefflich und mit Energie und Leben aufgefaßt; aber es waren alles nur Einzelnheiten, womit später bei eigenen Erfindungen wenig zu machen ist. Ich habe ihm nun geraten, künftig in der Natur nie einen einzelnen Gegenstand alleine herauszuzeichnen, nie einen einzelnen Baum, einen einzelnen Steinhaufen, eine einzelne Hütte, sondern immer zugleich einigen Hintergrund und einige Umgebung mit.
Und zwar aus folgenden Ursachen. Wir sehen in der Natur nie etwas als Einzelnheit, sondern wir sehen alles in Verbindung mit etwas anderem, das vor ihm, neben ihm, hinter ihm, unter ihm und über ihm sich befindet. Auch fällt uns wohl ein einzelner Gegenstand als besonders schön und malerisch auf; es ist aber nicht der Gegenstand allein, der diese Wirkung hervorbringt, sondern es ist die Verbindung, in der wir ihn sehen mit dem, was neben, hinter und über ihm ist, und welches alles zu jener Wirkung beiträgt.
So kann ich bei einem Spaziergange auf eine Eiche stoßen, deren malerischer Effekt mich überrascht. Zeichne ich sie aber alleine heraus, so wird sie vielleicht gar nicht mehr erscheinen, was sie war, weil dasjenige fehlt, was zu ihrem malerischen Effekt in der Natur beitrug und ihn steigerte. So kann ferner ein Stück Wald schön sein, weil grade dieser Himmel, dieses Licht und dieser Stand der Sonne einwirkt. Lasse ich aber in meiner Zeichnung dieses alles hinweg, so wird sie vielleicht ohne alle Kraft als etwas Gleichgültiges dastehen, dem der eigentliche Zauber fehlt.
Und dann noch dieses. Es ist in der Natur nichts schön, was nicht naturgesetzlich als wahr motiviert wäre. Damit aber jene Naturwahrheit auch im Bilde wahr erscheine, so muß sie durch Hinstellung der einwirkenden Dinge begründet werden. Ich treffe an einem Bach wohlgeformte Steine, deren der Luft aus gesetzte Stellen mit grünem Moos malerisch überzogen sind. Es ist aber nicht die Feuchtigkeit des Wassers allein, was diese Moosbildung verursachte, sondern es ist etwa ein nördlicher Abhang oder schattende Bäume und Gebüsch, was an dieser Stelle des Baches auf jene Bildung einwirkte. Lasse ich aber diese einwirkenden Ursachen in meinem Bilde hinweg, so wird es ohne Wahrheit sein und ohne die eigentliche überzeugende Kraft.
So hat der Stand eines Baumes, die Art des Bodens unter ihm, andere Bäume hinter und neben ihm, einen großen Einfluß auf seine Bildung. Eine Eiche, die auf der windigen westlichen Spitze eines felsigen Hügels steht, wird eine ganz andere Form erlangen als eine andere, die unten im weichen Boden eines geschützten Tales grünt. Beide können in ihrer Art schön sein, aber sie werden einen sehr verschiedenen Charakter haben und können daher in einer künstlerisch erfundenen Landschaft wiederum nur für einen solchen Stand gebraucht werden, wie sie ihn in der Natur hatten. Und deshalb ist dem Künstler die mitgezeichnete Umgebung, wodurch der jedesmalige Stand ausgedrückt worden, von großer Bedeutung.
Wiederum aber würde es töricht sein, allerlei prosaische Zufälligkeiten mitzeichnen zu wollen, die so wenig auf die Form und Bildung des Hauptgegenstandes als auf dessen augenblickliche malerische Erscheinung Einfluß hatten.
Von allen diesen kleinen Andeutungen habe ich Prellern die Hauptsachen mitgeteilt, und ich bin gewiß, daß es bei ihm als einem geborenen Talent Wurzel schlagen und gedeihen werde.«
1827
Mittwoch, den 21. Februar 1827
Bei Goethe zu Tisch. - Er sprach viel und mit Bewunderung über Alexander von Humboldt, dessen Werk über Kuba und Kolumbien er zu lesen angefangen und dessen Ansichten über das Projekt eines Durchstiches der Landenge von Panama für ihn ein ganz besonderes Interesse zu haben schienen. »Humboldt«, sagte Goethe, »hat mit großer Sachkenntnis noch andere Punkte angegeben, wo man mit Benutzung einiger in den Mexikanischen Meerbusen fließenden Ströme vielleicht noch vorteilhafter zum Ziele käme als bei Panama. Dies ist nun alles der Zukunft und einem großen Unternehmungsgeiste Vorbehalten. So viel ist aber gewiß, gelänge ein Durchstich der Art, daß man mit Schiffen von jeder Ladung und jeder Größe durch solchen Kanal aus dem Mexikanischen Meerbusen in den Stillen Ozean fahren könnte, so würden daraus für die ganze zivilisierte und nicht zivilisierte Menschheit ganz unberechenbare Resultate hervorgehen. Wundern sollte es mich aber, wenn die Vereinigten Staaten es sich sollten entgehen lassen, ein solches Werk in ihre Hände zu bekommen. Es ist vorauszusehen, daß dieser jugendliche Staat, bei seiner entschiedenen Tendenz nach Westen, in dreißig bis vierzig Jahren auch die großen Landstrecken jenseits der Felsengebirge in Besitz genommen und bevölkert haben wird. - Es ist ferner vorauszusehen, daß an dieser ganzen Küste des Stillen Ozeans, wo die Natur bereits die geräumigsten und sichersten Häfen gebildet hat, nach und nach sehr bedeutende Handelsstädte entstehen werden, zur Vermittelung eines großen Verkehrs zwischen China nebst Ostindien und den Vereinigten Staaten. In solchem Fall wäre es aber nicht bloß wünschenswert, sondern fast notwendig, daß sowohl Handels- als Kriegsschiffe zwischen der nordamerikanischen westlichen und östlichen Küste eine raschere Verbindung unterhielten, als es bisher durch die langweilige, widerwärtige und kostspielige Fahrt um das Kap Horn möglich gewesen. Ich wiederhole also: es ist für die Vereinigten Staaten durchaus unerläßlich, daß sie sich eine Durchfahrt aus dem Mexikanischen Meerbusen in den Stillen Ozean bewerkstelligen, und ich bin gewiß, daß sie es erreichen.
Dieses möchte ich erleben; aber ich werde es nicht. Zweitens möchte ich erleben, eine Verbindung der Donau mit dem Rhein hergestellt zu sehen. Aber dieses Unternehmen ist gleichfalls so riesenhaft, daß ich an der Ausführung zweifle, zumal in Erwägung unserer deutschen Mittel. Und endlich drittens möchte ich die Engländer im Besitz eines Kanals von Suez sehen. Diese drei großen Dinge möchte ich erleben, und es wäre wohl der Mühe wert, ihnen zuliebe es noch einige fünfzig Jahre auszuhalten.«
Donnerstag, den 1. März 1827
Bei Goethe zu Tisch. - Er erzählte mir, daß er eine Sendung vom Grafen Sternberg und Zauper erhalten, die ihm Freude mache. Sodann verhandelten wir viel über die Farbenlehre, über die subjektiven prismatischen Versuche und über die Gesetze, nach denen der Regenbogen sich bildet. Er freute sich über meine fortwährend sich vergrößernde Teilnahme an diesen schwierigen Gegenständen.
Mittwoch, den 2 1. März 1827
Goethe zeigte mir ein Büchelchen von Hinrichs über das Wesen der antiken Tragödie. »Ich habe es mit großem Interesse gelesen«, sagte er. »Hinrichs hat besonders den "Ödip" und die "Antigone" von Sophokles als Grundlage genommen, um daran seine Ansichten zu entwickeln. Es ist sehr merkwürdig, und ich will es Ihnen mitgeben, damit Sie es auch lesen und wir darüber sprechen können. Ich bin nun keineswegs seiner Meinung; aber es ist im hohen Grade lehrreich, zu sehen, wie ein so durch und durch philosophisch gebildeter Mensch von dem eigentümlichen Standpunkt seiner Schule aus ein dichterisches Kunstwerk ansieht. Ich will heute nichts weiter sagen, um Ihnen nicht vorzugreifen. Lesen Sie nur, und Sie werden sehen, daß man dabei zu allerlei Gedanken kommt.«
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