> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 1.Teil/2.Buch S6

2015-04-03

J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 1.Teil/2.Buch S6


Erster Teil

Zweites Buch Seite 6


Das Jahr 1757, das wir noch in völlig bürgerlicher Ruhe verbrachten, wurde dem ungeachtet in großer Gemütsbewegung verlebt. Reicher an Begebenheiten als dieses war vielleicht kein anderes. Die Siege, die Großtaten, die Unglücksfälle, die Wiederherstellungen folgten aufeinander, verschlangen sich und schienen sich aufzuheben; immer aber schwebte die Gestalt Friedrichs, sein Name, sein Ruhm, in kurzem wieder oben. Der Enthusiasmus seiner Verehrer ward immer größer und belebter, der Haß seiner Feinde bitterer, und die Verschiedenheit der Ansichten, welche selbst Familien zerspaltete, trug nicht wenig dazu bei, die ohnehin schon auf mancherlei Weise von einander getrennten Bürger noch mehr zu isolieren. Denn in einer Stadt wie Frankfurt, wo drei Religionen die Einwohnerin drei ungleiche Massen teilen, wo nur wenige Männer, selbst von der herrschenden, zum Regiment gelangen können, muß es gar manchen Wohlhabenden und Unterrichteten geben, der sich auf sich zurückzieht und durch Studien und Liebhabereien sich eine eigne und abgeschlossene Existenz bildet. Von solchen wird gegenwärtig und auch künftig die Rede sein müssen, wenn man sich die Eigenheiten eines Frankfurter Bürgers aus jener Zeit vergegenwärtigen soll.


Mein Vater hatte, sobald er von Reisen zurückgekommen, nach seiner eigenen Sinnesart den Gedanken gefasst, daß er, um sich zum Dienste der Stadt fähig zu machen, eins der subalternen Ämter übernehmen und solches ohne Emolumente führen wolle, wenn man es ihm ohne Ballotage übergäbe. Er glaubte nach seiner Sinnesart, nach dem Begriffe, den er von sich selbst hatte, im Gefühl seines guten Willens, eine solche Auszeichnung zu verdienen, die freilich weder gesetzlich noch herkömmlich war. Daher, als ihm sein Gesuch abgeschlagen wurde, geriet er in Ärger und Mißmut, verschwur, jemals irgend eine Stelle anzunehmen, und um es unmöglich zu machen, verschaffte er sich den Charakter eines Kaiserlichen Rates, den der Schultheiß und die ältesten Schöffen als einen besonderen Ehrentitel tragen. Dadurch hatte er sich zum Gleichen der Obersten gemacht und konnte nicht mehr von unten anfangen. Derselbe Beweggrund führte ihn auch dazu, um die älteste Tochter des Schultheißen zu werben, wodurch er auch auf dieser Seite von dem Rate ausgeschlossen werd. Er gehörte nun unter die Zurückgezogenen, welche niemals unter sich eine Sozietät machen. Sie stehen so isoliert gegeneinander wie gegen das Ganze, und um so mehr, als sich in dieser Abgeschiedenheit das Eigentümliche der Charakter immer schroffer ausbildet. Mein Vater mochte sich auf Reisen und in der freien Welt, die er gesehen, von einer elegantern und liberalern Lebensweise einen Begriff gemacht haben, als sie vielleicht unter seinen Mitbürgern gewöhnlich war. Zwar fand er darin Vorgänger und Gesellen.


Der Name von Uffenbach ist bekannt. Ein Schöff von Uffenbach lebte damals in gutem Ansehen. Er war in Italien gewesen, hatte sich besonders auf Musik gelegt, sang einen angenehmen Tenor, und da er eine schöne Sammlung von Musikalien mitgebracht hatte, wurden Konzerte und Oratorien bei ihm aufgeführt. Weil er nun dabei selbst sang und die Musiker begünstigte, so fand man es nicht ganz seiner Würde gemäß, und die eingeladenen Gäste sowohl als die übrigen Landsleute erlaubten sich darüber manche lustige Anmerkung. Ferner erinnere ich mich eines Barons von Häckel, eines reichen Edelmanns, der, verheiratet aber kinderlos, ein schönes Haus in der Antoniusgasse bewohnte, mit allem Zubehör eines anständigen Lebens ausgestattet. Auch besaß er gute Gemälde, Kupferstiche, Antiken und manches andre, wie es bei Sammlern und Liebhabern zusammenfließt. Von Zeit zu Zeit lud er die Honoratioren zum Mittagessen, und war auf eine eigne achtsame Weise wohltätig, indem er in seinem Hause die Armen kleidete, ihre alten Lumpen aber zurückbehielt, und ihnen nur unter der Bedingung einwöchentliches Almosen reichte, daß sie in jenen geschenkten Kleidern sich ihm jedesmal sauber und ordentlich vorstellten. Ich erinnere mich seiner nur dunkel als eines freundlichen, wohlgebildeten Mannes; desto deutlicher aber seiner Auktion, der ich vom Anfang bis zu Ende beiwohnte, und teils auf Befehl meines Vaters, teils aus eigenem Antrieb manches erstand, was sich noch unter meinen Sammlungen befindet.


Früher, und von mir kaum noch mit Augen gesehen, machte Johann Michael von Loen in der literarischen Welt so wie in Frankfurt ziemliches Aufsehen. Nicht von Frankfurt gebürtig, hatte er sich daselbst niedergelassen und war mit der Schwester meiner Großmutter Textor, einer gebornen Lindheimer, verheiratet. Bekannt mit der Hof- und Staatswelt, und eines erneuten Adels sich erfreuend, erlangte er dadurch einen Namen, daß er in die verschiedenen Regungen, welche in Kirche und Staat zum Vorschein kamen, einzugreifen den Mut hatte. Er schrieb den»Grafen von Rivera«, einen didaktischen Roman, dessen Inhalt aus dem zweiten Titel: »oder der ehrliche Mann am Hofe« ersichtlich ist. Dieses Werk wurde gut aufgenommen, weil es auch von den Höfen, wo sonst nur Klugheit zu Hause ist, Sittlichkeit verlangte; und so brachte ihm seine Arbeit Beifall und Ansehen. Ein zweites Werk sollte dagegen desto gefährlicher für ihn werden. Er schrieb: »Die einzige wahre Religion«, ein Buch, das die Absicht hatte, Toleranz, besonders zwischen Lutheranern und Calvinisten, zu befördern. Hierüber kam er mit den Theologen in Streit; besonders schrieb Dr. Benner in Gießen gegen ihn. Von Loen erwiderte; der Streit wurde heftig und persönlich, und die daraus entspringenden Unannehmlichkeiten veranlaßten den Verfasser, die Stelle eines Präsidenten zu Lingen anzunehmen, die ihm Friedrich der Zweite anbot, der in ihm einen aufgeklärten, und den Neuerungen, die in Frankreich schon viel weiter gediehen waren, nicht abgeneigten vorurteilsfreien Mann zu erkennen glaubte, seine ehemaligen Landsleute, die er mit einigem Verdruß verlassen, behaupteten, daß er dort nicht zufrieden sei, ja nicht zufrieden sein könne, weil sich ein Ort wie Lingen mit Frankfurt keineswegs messen dürfe. Mein Vater zweifelte auch an dem Behagen des Präsidenten, und versicherte, der gute Oheim hätte besser getan, sich mit dem Könige nicht einzulassen, weil es überhaupt gefährlich sei, sich demselben zu nähern, so ein außerordentlicher Herr er auch übrigens sein möge. Denn man habe ja gesehen, wie schmählich der berühmte Voltaire, auf Requisition des preußischen Residenten Freitag, in Frankfurt sei verhaftet worden, da er doch vorher so hoch in Gunsten gestanden und als des Königs Lehrmeister in der französischen Poesie anzusehen gewesen. Es mangelte bei solchen Gelegenheiten nicht an Betrachtungen und Beispielen, um vor Höfen und Herrendienst zu warnen, wovon sich überhaupt ein geborner Frankfurter kaum einen Begriff machen konnte.


Eines vortrefflichen Mannes, Doktor Orth, will ich nur dem Namen nach gedenken, indem ich verdienten Frankfurtern hier nicht sowohl ein Denkmal zu errichten habe, vielmehr derselben nur insofern erwähne, als ihr Ruf oder ihre Persönlichkeit auf mich in den frühsten Jahren einigen Einfluß gehabt. Doktor Orth war ein reicher Mann und gehörte auch unter die, welche niemals teil am Regimente genommen, ob ihn gleich seine Kenntnisse und Einsichten wohl dazu berechtigt hätten. Die deutschen und besonders die frankfurtischen Altertümer sind ihm sehr viel schuldig geworden; er gab die Anmerkungen zu der sogenannten»Frankfurter Reformation« heraus, ein Werk, in welchem die Statuten der Reichsstadt gesammelt sind. Die historischen Kapitel desselben habe ich in meinen Jünglingsjahren fleißig studiert.


Von Ochsenstein, der ältere jener drei Brüder, deren ich oben als unserer Nachbarn gedacht, war, bei seiner eingezogenen Art zu sein, während seines Lebens nicht merkwürdig geworden, desto merkwürdiger aber nach seinem Tode, indem er eine Verordnung hinterließ, daß er morgens früh ganz im stillen und ohne Begleitung und Gefolg, von Handwerksleuten zu Grabe gebracht sein wolle. Es geschah, und diese Handlung erregte in der Stadt, wo man an prunkhafte Leichenbegängnisse gewöhnt war, großes Aufsehn. Alle diejenigen, die bei solchen Gelegenheiten einen herkömmlichen Verdienst hatten, erhuben sich gegen die Neuerung. Allein der wackre Patrizier fand Nachfolgerin allen Ständen, und ob man schon dergleichen Begängnisse spottweise Ochsenleichen nannte, so nahmen sie doch zum Besten mancher wenig bemittelten Familien überhand, und die Prunkbegängnisse verloren sich immer mehr. Ich führe diesen Umstand an, weil er eins der frühern Symptome jener Gesinnungen von Demut und Gleichstellung darbietet, die sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von oben herein auf so manche Weise gezeigt haben und in so unerwartete Wirkungen ausgeschlagen sind. Auch fehlte es nicht an Liebhabern des Altertums. Es fanden sich Gemäldekabinette, Kupferstichsammlungen, besonders aber wurden vaterländische Merkwürdigkeiten mit Eifer gesucht und aufgehoben. Die älteren Verordnungen und Mandate der Reichsstadt, von denen keine Sammlung veranstaltet war, wurden in Druck und Schrift sorgfältig aufgesucht, nach der Zeitfolge geordnet und als ein Schatz vaterländischer Rechte und Herkommen mit Ehrfurcht verwahrt. Auch die Bildnisse von Frankfurtern, die in großer Anzahl existierten, wurden zusammengebracht und machten eine besondre Abteilung der Kabinette.


Solche Männer scheint mein Vater sich überhaupt zum Muster genommen zu haben. Ihm fehlte keine der Eigenschaften, die zu einem rechtlichen und angesehnen Bürger gehören. Auch brachte er, nachdem er sein Haus erbaut, seine Besitzungen von jeder Art in Ordnung. Eine vortreffliche Landkartensammlung der Schenkischen und anderer damals vorzüglicher geographischen Blätter, jene oberwähnten Verordnungen und Mandate, jene Bildnisse, ein Schrank alter Gewehre, ein Schrank merkwürdiger venezianischer Gläser, Becher und Pokale, Naturalien, Elfenbeinarbeiten, Bronzen und hundert andere Dinge wurden gesondert und aufgestellt, und ich verfehlte nicht, bei vorfallenden Auktionen mir jederzeit einige Aufträge zu Vermehrung des Vorhandenen zu erbitten.


Noch einer bedeutenden Familie muß ich gedenken, von der ich seit meiner frühsten Jugend viel Sonderbares vernahm und von einigen ihrer Glieder selbst noch manches Wunderbare erlebte; es war die Senckenbergische. Der Vater, von dem ich wenig zusagen weiß, war ein wohlhabender Mann. Er hatte drei Söhne, die sich in ihrer Jugend schon durchgängig als Sonderlinge auszeichneten. Dergleichen wird in einer beschränkten Stadt, wo sich niemand weder im Guten noch im Bösen hervortun soll, nicht zum besten aufgenommen. Spottnamen und seltsame, sich lang im Gedächtnis erhaltende Märchen sind meistens die Frucht einer solchen Sonderbarkeit. Der Vater wohnte an der Ecke der Hasengasse, die von dem Zeichen des Hauses, das einen, wo nicht gar drei Hasen vorstellt, den Namen führte. Man nannte daher diese drei Brüder nur die drei Hasen, welchen Spitznamen sie lange Zeit nicht los wurden. Allein, wie große Vorzüge sich oft in der Jugend durch etwas Wunderliches und Unschickliches ankündigen, so geschah es auch hier. Der älteste war der nachher so rühmlich bekannte Reichshofrat von Senckenberg. Der zweite ward in den Magistrat aufgenommen und zeigte vorzügliche Talente, die er aber auf eine rabulistische, ja verruchte Weise, wo nicht zum Schaden seiner Vaterstadt, doch wenigstens seiner Kollegen in der Folge mißbrauchte. Der dritte Bruder, ein Arzt und ein Mann von großer Rechtschaffenheit, der aber wenig und nur in vornehmen Häusern praktizierte, behielt bis in sein höchstes Alter immer ein etwas wunderliches Äußere. Er war immer sehr nett gekleidet, und man sah ihn nie anders auf der Straße als in Schuh und Strümpfen und einer wohlgepuderten Lockenperücke, den Hut unterm Arm. Er ging schnell, doch mit einem seltsamen Schwanken vor sich hin, so daß er bald auf dieser bald auf jener Seite der Straße sich befand, und im Gehen ein Zickzack bildete. Spottvögel sagten: er suche durch diesen abweichenden Schritt den abgeschiedenen Seelen aus dem Wege zu gehen, die ihn in grader Linie wohl verfolgen möchten, und ahme diejenigen nach, die sich vor einem Krokodil fürchten. Doch aller dieser Scherz und manche lustige Nachrede verwandelte sich zuletzt in Ehrfurcht gegen ihn, als er seine ansehnliche Wohnung mit Hof, Garten und allem Zubehör, auf der Eschenheimer Gasse, zu einer medizinischen Stiftung widmete, wo neben der Anlage eines bloß für Frankfurter Bürger bestimmten Hospitals ein botanischer Garten, ein anatomisches Theater, ein chemisches Laboratorium, eine ansehnliche Bibliothek und eine Wohnung für den Direktor eingerichtet werd, auf eine Weise, deren keine Akademie sich hätte schämen dürfen.


Ein andrer vorzüglicher Mann, dessen Persönlichkeit nicht sowohl als seine Wirkung in der Nachbarschaft und seine Schriften einen sehr bedeutenden Einfluß auf mich gehabt haben, war Karl Friedrich von Moser, der seiner Geschäftstätigkeit wegen in unserer Gegend immer genannt wurde. Auch er hatte einen gründlich-sittlichen Charakter der, weil die Gebrechender menschlichen Natur ihm wohl manchmal zu schaffen machten, ihn sogar zu den sogenannten Frommen hinzog; und so wollte er, wie von Loen das Hofleben, ebenso das Geschäftsleben einer gewissenhafteren Behandlung entgegenführen. Die große Anzahl der kleinen deutschen Höfe stellte eine Menge von Herren und Dienern dar, wovon die ersten unbedingten Gehorsam verlangten und die andern meistenteils nur nach ihren Überzeugungen wirken und dienen wollten. Es entstand daher ein ewiger Konflikt und schnelle Veränderungen und Explosionen, weil die Wirkungen des unbedingten Handelns im kleinen viel geschwinder merklich und schädlich werden als im großen. Viele Häuser waren verschuldet und kaiserliche Debitkommissionen ernannt; andre fanden sich langsamer oder geschwinder auf demselben Wege, wobei die Diener entweder gewissenlos Vorteil zogen, oder gewissenhaft sich unangenehm und verhaßt machten. Moser wollte als Staats- und Geschäftsmann wirken; und hier gab sein ererbtes, bis zum Metier ausgebildetes Talent ihm eine entschiedene Ausbeute, aber er wollte auch zugleich als Mensch und Bürger handeln und seiner sittlichen Würde so wenig als möglich vergeben, sein »Herr und Diener«, sein »Daniel in der Löwengrube«, seine»Reliquien« schildern durchaus die Lage, in welcherer sich zwar nicht gefoltert, aber doch immer geklemmt fühlte. Sie deuten sämtlich auf eine Ungeduld in einem Zustand, mit dessen Verhältnissen man sich nicht versöhnen und den man doch nicht los werden kann. Bei dieser Art zu denken und zu empfinden mußte er freilich mehrmals andere Dienste suchen, an welchen es ihm seine große Gewandtheit nicht fehlen ließ. Ich erinnere mich seiner als eines angenehmen, beweglichen und dabei zarten Mannes.


Aus der Ferne machte jedoch der Name Klopstock auch schon auf uns eine große Wirkung. Im Anfang wunderte man sich, wie ein so vortrefflicher Mann so wunderlich heißen könne; doch gewöhnte man sich bald daran und dachte nicht mehr an die Bedeutung dieser Silben. In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die früheren, besonders die zu seiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und gerühmten Dichter gefunden. Alle diese hatten gereimt, und mein Vater hielt den Reim für poetische Werke unerläßlich. Canitz, Hagedorn, Drollinger, Gellert, Creuz, Haller standen in schönen Franzbänden in einer Reihe. An diese schlossen sich Neukirchs »Telemach«, Koppens»Befreites Jerusalem« und andre Übersetzungen. Ich hatte diese sämtlichen Bände von Kindheit auf fleißig durchgelesen und teilweise memoriert, weshalb ich denn zur Unterhaltung der Gesellschaft öfters aufgerufen wurde. Eine verdrießliche Epoche im Gegenteil eröffnete sich für meinen Vater, als durch Klopstocks»Messias« Verse, die ihm keine Verse schienen, ein Gegenstand der öffentlichen Bewunderung wurden. Er selbst hatte sich wohl gehütet, dieses Werk anzuschaffen; aber unser Hausfreund, Rat Schneider, schwärzte es ein und steckte es der Mutter und den Kindern zu.


Auf diesen geschäftstätigen Mann, welcher wenig las, hatte der »Messias« gleich bei seiner Erscheinung einen mächtigen Eindruck gemacht. Diese so natürlich ausgedrückten und doch so schön veredelten frommen Gefühle, diese gefällige Sprache, wenn man sie auch nur für harmonische Prosa gelten ließ, hatten den übrigens trocknen Geschäftsmann so gewonnen, daß er die zehn ersten Gesänge, denn von diesen ist eigentlich die Rede, als das herrlichste Erbauungsbuch betrachtete, und solches alle Jahre einmal in der Karwoche, in welcher er sich von allen Geschäften zu entbinden wußte, für sich im stillen durchlas und sich daran fürs ganze Jahr erquickte. Anfangs dachte er seine Empfindungen seinem alten Freunde mitzuteilen; allein er fand sich sehr bestürzt, als er eine unheilbare Abneigung vor einem Werke von so köstlichem Gehalt, wegen einer, wie es ihm schien, gleichgültigen äußern Form, gewahr werden mußte. Es fehlte, wie sich leicht denken läßt, nicht an Wiederholung des Gesprächs über diesen Gegenstand; aber beide Teile entfernten sich immer weiter von einander, es gab heftige Szenen, und der nachgiebige Mann ließ sich endlich gefallen, von seinem Lieblingswerke zu schweigen, damit er nicht zugleich einen Jugendfreund und eine gute Sonntagssuppe verlöre.


Proselyten zu machen ist der natürlichste Wunsch eines jeden Menschen, und wie sehr fand sich unser Freund im Stillen belohnt, als er in der übrigen Familie für seinen Heiligen so offen gesinnte Gemüter entdeckte. Das Exemplar, das er jährlich nur eine Woche brauchte, war uns für die übrige Zeit gewidmet. Die Mutter hielt es heimlich, und wir Geschwister bemächtigten uns desselben, wann wir konnten, um in Freistunden, in irgend einem Winkel verborgen, die auffallendsten Stellen auswendig zu lernen, und besonders die zartesten und heftigsten so geschwind als möglich ins Gedächtnis zu fassen.


Portias Traum rezitierten wir um die Wette, und in das wilde verzweifelnde Gespräch zwischen Satan und Adramelech, welche ins Rote Meer gestürzt worden, hatten wir uns geteilt. Die erste Rolle, als die gewaltsamste, war auf mein Teil gekommen, die andere, um ein wenig kläglicher, übernahm meine Schwester. Die wechselseitigen, zwar gräßlichen aber doch wohlklingenden Verwünschungen flossen nur so vom Munde, und wir ergriffen jede Gelegenheit, uns mit diesen höllischen Redensarten zu begrüßen.


Es war ein Samstagsabend im Winter- der Vater ließ sich immer bei Licht rasieren, um Sonntags früh sich zur Kirche bequemlich anziehen zu können - wir saßen auf einem Schemel hinter dem Ofen und murmelten, während der Barbier einseifte, unsere herkömmlichen Flüche ziemlich leise. Nun so hatte aber Adramelech den Satan mit eisernen Händen zu fassen; meine Schwester packte mich gewaltig an, und rezitierte, zwar leise genug, aber doch mit steigender Leidenschaft:


Hilf mir! ich flehe dich an, ich bete, wenn du es forderst,
Ungeheuer, dich an! Verworfner, schwarzer Verbrecher,
Hilf mir! ich leide die Pein des rächenden ewigen Todes!...
Vormals kennt' ich mit heißem, mit grimmigem Hasse dich hassen!
Jetzt vermag ich's nicht mehr! Auch dies ist stechender Jammer!


Bisher war alles leidlich gegangen; aber laut, mit fürchterlicher Stimme rief sie die folgenden Worte:


O wie bin ich zermalmt!


Der gute Chirurgus erschrak und goß dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen großen Aufstand, und eine strenge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des Unglücks, das hätte entstehen können, wenn man schon im Rasieren begriffen gewesen wäre. Um allen Verdacht des Mutwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unsern teuflischen Rollen, und das Unglück, das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als daß man sie nicht aufs neue hätte verrufen und verbannen sollen. So pflegen Kinder und Volk das Große, das Erhabene in ein Spiel, ja in eine Posse zu verwandeln; und wie sollten sie auch sonst imstande sein, es auszuhalten und zu ertragen!





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