Erster Teil
Drittes Buch Seite 7
Der Neujahrstag ward zu jener Zeit durch den allgemeinen Umlauf von persönlichen Glückwünschungen für die Stadt sehr belebend. Wer sonst nicht leicht aus dem Hause kam, warf sich in seine besten Kleider, um Gönnern und Freunden einen Augenblick freundlich und höflich zu sein. Für uns Kinder war besonders die Festlichkeit in dem Hause des Großvaters an diesem Tage ein höchst erwünschter Genuß. Mit dem frühsten Morgen waren die Enkel schon daselbst versammelt, um die Trommeln, die Hoboen und Klarinetten, die Posaunen und Zinken, wie sie das Militär, die Stadtmusici und wer sonst alles ertönen ließ, zu vernehmen. Die versiegelten und überschriebenen Neujahrsgeschenke wurden von den Kindern unter die geringern Gratulanten ausgeteilt, und wieder Tag wuchs, so vermehrte sich die Anzahl der Honoratioren. Erst erschienen die Vertrauten und Verwandten, dann die untern Staatsbeamten; die Herren vom Rate selbst verfehlten nicht ihren Schultheiß zu begrüßen, und eine auserwählte Anzahl wurde abends in Zimmern bewirtet, welche das ganze Jahr über kaum sich öffneten. Die Torten, Biskuitkuchen, Marzipane, der süße Wein übte den größten Reiz auf die Kinder aus, wozu noch kam, daß der Schultheiß sowie die beiden Burgemeister aus einigen Stiftungen jährlich etwas Silberzeug erhielten, welches denn den Enkeln und Paten nach einer gewissen Abstufung verehrt ward; genug, es fehlte diesem Feste im kleinen an nichts, was die größten zu verherrlichen pflegt.
Der Neujahrstag 1759 kam heran, für uns Kinder erwünscht und vergnüglich wie die vorigen, aber den ältern Personen bedenklich und ahnungsvoll. Die Durchmärsche der Franzosen war man zwar gewohnt, und sie ereigneten sich öfters und häufig, aber doch am häufigsten in den letzten Tagen des vergangenen Jahres. Nach alter reichsstädtischer Sitte posaunte der Türmer des Hauptturms, so oft Truppen heranrückten, und an diesem Neujahrstage wollte er gar nicht aufhören, welches ein Zeichen war, daß größere Heereszüge von mehreren Seiten in Bewegung seien. Wirklich zogen sie auch in größeren Massen an diesem Tage durch die Stadt; man lief, sie vorbeipassieren zusehen. Sonst war man gewohnt, daß sie nur in kleinen Partien durchmarschierten; diese aber vergrößerten sich nach und nach, ohne daß man es verhindern konnte oder wollte. Genug, am 2. Januar, nachdem eine Kolonne durch Sachsenhausen über die Brücke durch die Fahrgasse bis an die Konstablerwache gelangt war, machte sie Halt, überwältigte das kleine, sie durchführende Kommando, nahm Besitz von gedachter Wache, zog die Zeile hinunter, und nach einem geringen Widerstand mußte sich auch die Hauptwache ergeben. Augenblicks waren die friedlichen Straßen in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Dort verharrten und biwakierten die Truppen, bis durch regelmäßige Einquartierung für ihr Unterkommen gesorgt wäre.
Diese unerwartete, seit vielen Jahren unerhörte Last drückte die behaglichen Bürger gewaltig, und niemanden konnte sie beschwerlicher sein als dem Vater, der in sein kaum vollendetes Haus fremde militärische Bewohner aufnehmen, ihnen seine wohlaufgeputzten und meist verschlossenen Staatszimmer einräumen, und das, was er so genau zu ordnen und zu regieren pflegte, fremder Willkür preisgeben sollte; er, ohnehin preußisch gesinnt, sollte sich nun von Franzosen in seinen Zimmern belagert sehen: es war das Traurigste, was ihm nach seiner Denkweise begegnen konnte. Wäre es ihm jedoch möglich gewesen, die Sache leichter zu nehmen, da er gut französisch sprach und im Leben sich wohl mit Würde und Anmut betragen konnte, so hätte er sich und uns manche trübe Stunde ersparen mögen; denn man quartierte bei uns den Königslieutenant, der, obgleich Militärperson, doch nur die Zivilvorfälle, die Streitigkeiten zwischen Soldaten und Bürgern, Schuldensachen und Händel zu schlichten hatte. Es war Graf Thoranc, von Grasse in der Provence ohnweit Antibes gebürtig, eine lange, hagre, ernste Gestalt, das Gesicht durch die Blattern sehr entstellt, mit schwarzen feurigen Augen, und von einem würdigen zusammengenommenen Betragen. Gleich sein Eintritt war für den Hausbewohner günstig. Man sprach von den verschiedenen Zimmern, welche teils abgegeben werden, teils der Familie verbleiben sollten, und als der Graf ein Gemäldezimmer erwähnen hörte, so erbat er sich gleich, ob es schon Nacht war, mit Kerzen die Bilder wenigstens flüchtig zu besehen. Er hatte an diesen Dingen eine übergroße Freude, bezeigte sich gegen den ihn begleitenden Vater auf das verbindlichste, und als er vernahm, daß die meisten Künstler noch lebten, sich in Frankfurt und in der Nachbarschaft aufhielten, so versicherte er, daß er nichts mehr wünsche, als sie baldigst kennen zu lernen und sie zu beschäftigen.
Aber auch diese Annäherung von seiten der Kunst vermochte nicht die Gesinnung meines Vaters zu ändern, noch seinen Charakter zu beugen. Er ließ geschehen, was er nicht verhindern konnte, hielt sich aber in unwirksamer Entfernung, und das Außerordentliche, was nun um ihn vorging, war ihm bis auf die geringste Kleinigkeit unerträglich.
Graf Thoranc indessen betrug sich musterhaft. Nicht einmal seine Landkarten wollte er an die Wände genagelt haben, um die neuen Tapeten nicht zu verderben. Seine Leute waren gewandt, still und ordentlich; aber freilich, da den ganzen Tag und einen Teil der Nacht nicht Ruhe bei ihm ward, da ein Klagender dem andern folgte, Arrestanten gebracht und fortgeführt, alle Offiziere und Adjutanten vorgelassen wurden, da der Graf noch überdies täglich offne Tafel hielt: so gab es in dem mäßig großen, nur für eine Familie eingerichteten Hause, das nur eine durch alle Stockwerke unverschlossen durchgehende Treppe hatte, eine Bewegung und ein Gesumme wie in einem Bienenkorbe, obgleich alles sehr gemäßigt, ernsthaft und streng zuging.
Zum Vermittler zwischen einem verdrießlichen, täglich mehr sich hypochondrisch quälenden Hausherrn und einem zwar wohlwollenden, aber sehr ernsten und genauen Militärgast fand sich glücklicherweise ein behaglicher Dolmetscher, ein schöner, wohlbeleibter, heitrer Mann, der Bürger von Frankfurt war und gut französisch sprach, sich in alles zuschicken wußte und mit mancherlei kleinen Unannehmlichkeiten nur seinen Spaß trieb. Durch diesen hatte meine Mutter dem Grafen ihre Lage bei dem Gemütszustande ihres Gatten vorstellen lassen; er hatte die Sache so klüglich ausgemalt, das neue, noch nicht einmal ganz eingerichtete Haus, die natürliche Zurückgezogenheit des Besitzers, die Beschäftigung mit der Erziehung seiner Familie und was sich alles sonst noch sagen ließ, zu bedenken gegeben, so daß der Graf, der an seiner Stelle auf die höchste Gerechtigkeit, Unbestechlichkeit und ehrenvollen Wandel den größten Stolz setzte, auch hier sich als Einquartierter musterhaft zu betragen vornahm, und es wirklich die einigen Jahre seines Dableibens unter mancherlei Umständen unverbrüchlich gehalten hat.
Meine Mutter besaß einige Kenntnis des Italienischen, welche Sprache überhaupt niemanden von der Familie fremd war; sie entschloß sich daher sogleich Französisch zu lernen, zu welchem Zweck der Dolmetscher, dem sie unter diesen stürmischen Ereignissen ein Kind aus der Taufe gehoben hatte, und der nun auch als Gevatter zu dem Hause eine doppelte Neigung spürte, seiner Gevatterin jeden abgemüßigten Augenblick schenkte (denn er wohnte gerade gegenüber) und ihr vor allen Dingen diejenigen Phrasen einlernte, welche sie persönlich dem Grafen vorzutragen habe; welches denn zum besten geriet. Der Graf war geschmeichelt von der Mühe, welche die Hausfrau sich in ihren Jahren gab, und weil er einen heitern geistreichen Zug in seinem Charakter hatte, auch eine gewisse trockne Galanterie gern ausübte, so entstand daraus das beste Verhältnis, und die verbündeten Gevattern konnten erlangen, was sie wollten.
Wäre es, wie schon gesagt, möglich gewesen, den Vater zu erheitern, so hätte dieser veränderte Zustand wenig Drückendes gehabt. Der Graf übte die strengste Uneigennützigkeit; selbst Gaben, die seiner Stelle gebührten, lehnte er ab; das Geringste, was einer Bestechung hätte ähnlich sehen können, wurde mit Zorn, ja mit Strafe weg gewiesen; seinen Leuten war aufs strengste befohlen, dem Hausbesitzer nicht die mindesten Unkosten zu machen. Dagegen wurde uns Kindern reichlich vom Nachtische mitgeteilt. Bei dieser Gelegenheit muß ich, um von der Unschuld jener Zeiten einen Begriff zu geben, anführen, daß die Mutter uns eines Tages höchlich betrübte, indem sie das Gefrorene, das man uns von der Tafel sendete, weggoß, weil es ihr unmöglich vorkam, daß der Magen ein wahrhaftes Eis, wenn es auch noch so durchzuckert sei, vertragen könne.
Außer diesen Leckereien, die wir denn doch allmählich ganz gut genießen und vertragen lernten, deuchte es uns Kindern auch noch gar behaglich, von genauen Lehrstunden und strenger Zucht einigermaßen entbunden zu sein. Des Vaters üble Laune nahm zu, er konnte sich nicht in das Unvermeidliche ergeben. Wie sehr quälte er sich, die Mutter und den Gevatter, die Ratsherren, alle seine Freunde, nur um den Grafen los zu werden! Vergebens stellte man ihm vor, daß die Gegenwart eines solchen Mannes im Hause, unter den gegebenen Umständen, eine wahre Wohltat sei, daß ein ewiger Wechsel, es sei nun von Offizieren oder Gemeinen, auf die Umquartierung des Grafen folgen würde. Keins von diesen Argumenten wollte bei ihm greifen. Das Gegenwärtige schien ihm so unerträglich, daß ihn sein Unmut ein Schlimmeres, das folgen könnte, nicht gewahr werden ließ.
Auf diese Weise ward seine Tätigkeit gelähmt, die er sonst hauptsächlich auf uns zu wenden gewohnt war. Das, was er uns aufgab, forderte er nicht mehr mit der sonstigen Genauigkeit, und wir suchten, wie es nur möglich schien, unsere Neugierde an militärischen und andern öffentlichen Dingen zu befriedigen, nicht allein im Hause, sondern auch auf den Straßen, welches um so leichter anging, da die Tag und Nacht unverschlossene Haustüre von Schildwachen besetzt war, die sich um das Hin-und Widerlaufen unruhiger Kinder nicht bekümmerten.
Die mancherlei Angelegenheiten, die vor dem Richterstuhle des Königslieutenants geschlichtet wurden, hatten dadurch noch einen ganz besondern Reiz, daß er einen eigenen Wert darauf legte, seine Entscheidungen zugleich mit einer witzigen, geistreichen, heitern Wendung zu begleiten. Was er befahl, war streng gerecht; die Art, wie er es ausdrückte, war launig und pikant. Er schien sich den Herzog von Osuna zum Vorbilde genommen zu haben. Es verging kaum ein Tag, daß der Dolmetscher nicht eine oder die andere solche Anekdote uns und der Mutter zur Aufheiterung erzählte. Es hatte dieser muntere Mann eine kleine Sammlung solcher salomonischen Entscheidungen gemacht; ich erinnere mich aber nur des Eindrucks im allgemeinen, ohne im Gedächtnis ein Besonderes wieder zu finden.
Den wunderbaren Charakter des Grafen lernte man nach und nach immer mehr kennen. Dieser Mann war sich selbst seiner Eigenheiten aufs deutlichste bewußt, und weil er gewisse Zeiten haben mochte, wo ihn eine Art von Unmut, Hypochondrie, oder wie man den bösen Dämon nennen soll, überfiel, so zog er sich in solchen Stunden, die sich manchmal zu Tagen verlängerten, in sein Zimmer zurück, sah niemanden als seinen Kammerdiener, und war selbst in dringenden Fällen nicht zu bewegen, daß er Audienz gegeben hätte. Sobald aber der böse Geist von ihm gewichen war, erschien er nach wie vor mild, heiter und tätig. Aus den Reden seines Kammerdieners, Saint-Jean, eines kleinen hagern Mannes von muntrer Gutmütigkeit, konnte man schließen, daß er in frühern Jahren, von solcher Stimmung überwältigt, großes Unglück angerichtet, und sich nun vor ähnlichen Abwegen, bei einer so wichtigen, den Blicken aller Welt ausgesetzten Stelle, zu hüten ernstlich vornehme. Gleich in den ersten Tagen der Anwesenheit des Grafen wurden die sämtlichen Frankfurter Maler, als Hirt, Schütz, Trautmann, Nothnagel, Juncker, zu ihm berufen. Sie zeigten ihre fertigen Gemälde vor, und der Graf eignete sich das Verkäufliche zu. Ihm wurde mein hübsches helles Giebelzimmer in der Mansarde eingeräumt und sogleich in ein Kabinett und Atelier umgewandelt: denn er war willens, die sämtlichen Künstler, vor allen aber Seekatz in Darmstadt, dessen Pinsel ihm besonders bei natürlichen und unschuldigen Vorstellungen höchlich gefiel, für eine ganze Zeit in Arbeit zu setzen. Er ließ daher von Grasse, wo sein älterer Bruder ein schönes Gebäude besitzen mochte, die sämtlichen Maße aller Zimmer und Kabinette herbeikommen, überlegte sodann mit den Künstlern die Wandabteilungen, und bestimmte die Größe der hiernach zu verfertigenden ansehnlichen Ölbilder, welchen icht in Rahmen eingefaßt, sondern als Tapetenteile auf die Wand befestigt werden sollten. Hier ging nun die Arbeit eifrig an. Seekatz übernahm ländliche Szenen, worin die Greise und Kinder, unmittelbar nach der Natur gemalt, ganz herrlich glückten; die Jünglinge wollten ihm nicht ebenso geraten, sie waren meist zu hager; und die Frauen mißfielen aus der entgegengesetzten Ursache. Denn da er eine kleine dicke, gute aber unangenehme Person zur Frau hatte, die ihm außer sich selbst nicht wohl ein Modell zuließ, so wollte nichts Gefälliges zustande kommen. Zudem war er genötigt gewesen, über das Maß seiner Figuren hinauszugehen. Seine Bäume hatten Wahrheit, aber ein kleinliches Blätterwerk. Er war ein Schüler von Brinckmann, dessen Pinsel in Staffeleigemälden nicht zu schelten ist.
Schütz, der Landschaftmaler, fand sich vielleicht am besten in die Sache. Die Rheingegenden hatte er ganz in seiner Gewalt, sowie den sonnigen Ton, der sie in der schönen Jahreszeit belebt. Er war nicht ganz ungewohnt, in einem größern Maßstabe zu arbeiten, und auch da ließ er es an Ausführung und Haltung nicht fehlen. Er lieferte sehr heitre Bilder.
Trautmann rembrandtisierte einige Auferweckungswunder des Neuen Testaments, und zündete nebenher Dörfer und Mühlen an. Auch ihm war, wie ich aus den Aufrissen der Zimmer bemerken konnte, ein eigenes Kabinett zugeteilt worden. Hirt malte einige gute Eichen- und Buchenwälder. Seine Herden waren lobenswert. Juncker, an die Nachahmung der ausführlichsten Niederländer gewöhnt, konnte sich am wenigsten in diesen Tapetenstil finden; jedoch bequemte er sich, für gute Zahlung, mit Blumen und Früchten manche Abteilung zu verzieren.
Da ich alle diese Männer von meiner frühsten Jugend an gekannt, und sie oft in ihren Werkstätten besucht hatte, auch der Graf mich gern um sich leiden mochte, so war ich bei den Aufgaben, Beratschlagungen und Bestellungen wie auch bei den Ablieferungen gegenwärtig, und nahm mir, zumal wenn Skizzen und Entwürfe eingereicht wurden, meine Meinung zu eröffnen gar wohl heraus. Ich hatte mir schon früher bei Gemäldeliebhabern, besonders aber auf Auktionen, denen ich fleißig beiwohnte, den Ruhm erworben, daß ich gleich zu sagen wisse, was irgend ein historisches Bild vorstelle, es sei nun aus der biblischen oder der Profangeschichte oder aus der Mythologie genommen; und wenn ich auch den Sinn der allegorischen Bilder nicht immer traf, so war doch selten jemand gegenwärtig, der es besser verstand als ich. So hatte ich auch öfters die Künstler vermocht, diesen oder jenen Gegenstand vorzustellen, und solcher Vorteile bediente ich mich gegenwärtig mit Lust und Liebe. Ich erinnere mich noch, daß ich einen umständlichen Aufsatz verfertigte, worin ich zwölf Bilder beschrieb, welche die Geschichte Josephs darstellen sollten: einige davon wurden ausgeführt.
Nach diesen für einen Knaben allerdings löblichen Verrichtungen will ich auch einer kleinen Beschämung, die mir innerhalb dieses Künstlerkreises begegnete, Erwähnung tun. Ich war nämlich mit allen Bildern wohl bekannt, welche man nach und nach in jenes Zimmer gebracht hatte. Meine jugendliche Neugierde ließ nichts ungesehen und ununtersucht. Einst fand ich hinter dem Ofen ein schwarzes Kästchen; ich ermangelte nicht, zu forschen, was darin verborgen sei, und ohne mich lange zu besinnen, zog ich den Schieber weg. Das darin enthaltene Gemälde war freilich von der Art, die man den Augen nicht auszustellen pflegt, und ob ich es gleich alsobald wieder zuzuschieben Anstalt machte, so konnte ich doch nicht geschwind genug damit fertig werden. Der Graf trat herein und ertappte mich. - »Wer hat Euch erlaubt, dieses Kästchen zu eröffnen?« sagte er mit seiner Königslieutenantsmiene. Ich hatte nicht viel darauf zu antworten, und er sprach sogleich die Strafe sehr ernsthaft aus: »Ihr werdet in acht Tagen«, sagte er, »dieses Zimmer nicht betreten.« - Ich machte eine Verbeugung und ging hinaus. Auch gehorchte ich diesem Gebot aufs pünktlichste, so daß es dem guten Seekatz, der eben in dem Zimmer arbeitete, sehr verdrießlich war: denn er hatte mich gern um sich; und ich trieb aus einer kleinen Tücke den Gehorsam soweit, daß ich Seekatzen seinen Kaffee, den ich ihm gewöhnlich brachte, auf die Schwelle setzte; da er denn von seiner Arbeit aufstehen und ihn holen mußte, welches er so übel empfand, daß er mir fast gram geworden wäre.
Nun aber scheint es nötig, umständlicher anzuzeigen und begreiflich zu machen, wie ich mir in solchen Fällen in der französischen Sprache, die ich doch nicht gelernt, mit mehr oder weniger Bequemlichkeit durchgeholfen. Auch hier kam mir die angeborne Gabe zustatten, daß ich leicht den Schall und Klang einer Sprache, ihre Bewegung, ihren Akzent, den Ton und was sonst von äußern Eigentümlichkeiten, fassen konnte. Aus dem Lateinischen waren mir viele Worte bekannt; das Italienische vermittelte noch mehr, und so horchte ich in kurzer Zeit von Bedienten und Soldaten, Schildwachen und Besuchen so viel heraus, daß ich mich, wo nicht ins Gespräch mischen, doch wenigstens einzelne Fragen und Antworten bestehen konnte. Aber dieses war alles nur wenig gegen den Vorteil, den mir das Theater brachte. Von meinem Großvater hatte ich ein Freibillett erhalten, dessen ich mich, mit Widerwillen meines Vaters, unter dem Beistand meiner Mutter, täglich bediente. Hier saß ich nun im Parterre vor einer fremden Bühne, und paßte um so mehr auf Bewegung, mimischen und Rede-Ausdruck, als ich wenig oder nichts von dem verstand, was da oben gesprochen wurde, und also meine Unterhaltung nur vom Gebärdenspiel und Sprachton nehmen konnte. Von der Komödie verstand ich am wenigsten, weil sie geschwind gesprochen wurde und sich auf Dinge des gemeinen Lebens bezog, deren Ausdrücke mir gar nicht bekannt waren. Die Tragödie kam seltner vor, und der gemessene Schritt, das Taktartige der Alexandriner, das Allgemeine des Ausdrucks machten sie mir in jedem Sinne faßlicher. Es dauerte nicht lange, so nahm ich den Racine, den ich in meines Vaters Bibliothek antraf, zur Hand, und deklamierte mir die Stücke nach theatralischer Art und Weise, wie sie das Organ meines Ohrs und das ihm so genau verwandte Sprachorgan gefaßt hatte, mit großer Lebhaftigkeit, ohne daß ich noch eine ganze Rede im Zusammenhang hätte verstehen können. Ja ich lernte ganze Stellen auswendig und rezitierte sie, wie ein eingelernter Sprachvogel; welches mir um so
leichter ward, als ich früher die für ein Kind meist unverständlichen biblischen Stellen auswendig gelernt und sie in dem Ton der protestantischen Prediger zu rezitieren mich gewöhnt hatte. Das versifizierte französische Lustspiel war damals sehr beliebt; die Stücke von Destouches, Marivaux, La Chaussee kamen häufig vor, und ich erinnere mich noch deutlich mancher charakteristischen Figuren. Von den Molièrischen ist mir weniger im Sinn geblieben. Was am meisten Eindruck auf mich machte, war die »Hypermnestra« von Lemierre, die als ein neues Stück mit Sorgfalt aufgeführt und wiederholt gegeben wurde. Höchst anmutig war der Eindruck, den der »Devin du Village«, »Rose et Colas«, »Annette et Lubin« auf mich machten. Ich kann mir die bebänderten Buben und Mädchen und ihre Bewegungen noch jetzt zurückrufen. Es dauerte nicht lange, so regte sich der Wunsch bei mir, mich auf dem Theater selbst umzusehen, wozu sich mir so mancherlei Gelegenheit darbot. Denn da ich nicht immer die ganzen Stücke auszuhören Geduld hatte, und manche Zeit in den Korridors, auch wohl bei gelinderer Jahrszeit vor der Türe, mit andern Kindern meines Alters allerlei Spiele trieb, so gesellte sich ein schöner munterer Knabe zu uns, der zum Theater gehörte, und den ich in manchen kleinen Rollen, obwohl nur beiläufig, gesehen hatte. Mit mir konnte er sich am besten verständigen, indem ich mein Französisch bei ihm geltend zu machen wußte; und er knüpfte sich um so mehr an mich, als kein Knabe seines Alters und seiner Nation beim Theater oder sonst in der Nähe war. Wir gingen auch außer der Theaterzeit zusammen, und selbst während der Vorstellungen ließ er mich selten in Ruhe. Er war ein allerliebster kleiner Aufschneider, schwätzte charmant und unaufhörlich, und wußte so viel von seinen Abenteuern, Händeln und andern Sonderbarkeiten zu erzählen, daß er mich außerordentlich unterhielt, und ich von ihm, was Sprache und Mitteilung durch dieselbe betrifft, in vier Wochen mehr lernte, als man sich hätte vorstellen können; so daß niemand wußte, wie ich auf einmal, gleichsam durch Inspiration, zu der fremden Sprache gelangt war. Gleich in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft zog er mich mit sich aufs Theater, und führte mich besonders in die Foyers, wo die Schauspieler und Schauspielerinnen in der Zwischenzeit sich aufhielten und sich an- und auskleideten. Das Lokal war weder günstig noch bequem, indem man das Theater in einen Konzertsaal hineingezwängt hatte, so daß für die Schauspieler hinter der Bühne keine besonderen Abteilungen stattfanden. In einem ziemlich großen Nebenzimmer, das ehedem zu Spielpartien gedient hatte, waren nun beide Geschlechter meist beisammen und schienen sich so wenig unter einander selbst als vor uns Kindern zu scheuen, wenn es beim Anlegen oder Verändern der Kleidungsstücke nicht immer zum anständigsten herging. Mir war dergleichen niemals vorgekommen, und doch fand ich es bald durch Gewohnheit, bei wiederholtem Besuch, ganz natürlich.
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