> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 2.Teil/6.Buch S 17

2015-04-08

J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 2.Teil/6.Buch S 17


Zweiter Teil

Sechstes Buch Seite 17

Kann ein Frauenzimmer für den Mangel von Schönheit entschädigt werden, so war sie es reichlich durch das unbegrenzte Vertrauen, die Achtung und Liebe, welche sämtliche Freundinnen zu ihr trugen; sie mochten älter oder jünger sein, alle hegten die gleichen Empfindungen. Eine sehr angenehme Gesellschaft hatte sich um sie versammelt, es fehlte nicht an jungen Männern, die sich einzuschleichen wußten, fast jedes Mädchen fand einen Freund; nur sie war ohne Hälfte geblieben. Freilich, wenn ihr Äußeres einigermaßen abstoßend war, so wirkte das Innere, das hindurchblickte, mehr ablehnend als anziehend: denn die Gegenwart einer jeden Würde weist den andern auf sich selbst zurück. Sie fühlte es lebhaft, sie verbarg mir's nicht, und ihre Neigung wendete sich desto kräftiger zu mir. Der Fall war eigen genug. So wie Vertraute, denen man ein Liebesverständnis offenbart, durch aufrichtige Teilnahme wirklich Mitliebende werden, ja zu Rivalen heranwachsen und die Neigung zuletzt wohl auf sich selbst hinziehen, so war es mit uns Geschwistern: denn indem mein Verhältnis zu Gretchen zerriß, tröstete mich meine Schwester um desto ernstlicher, als sie heimlich die Zufriedenheit empfand, eine Nebenbuhlerin losgeworden zu sein; und so mußte auch ich mit einer stillen Halbschadenfreude empfinden, wenn sie mir Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß ich der einzige sei, der sie wahrhaft liebe, sie kenne und sie verehre. Wenn sich nun bei mir von Zeit zu Zeit der Schmerz über Gretchens Verlust erneuerte und ich aus dem Stegreife zu weinen, zuklagen und mich ungebärdig zu stellen anfing, so erregte meine Verzweifelung über das Verlorene bei ihr eine gleichfalls verzweifelnde Ungeduld über das Niebesessene, Mißlungene und Vorübergestrichene solcher jugendlichen Neigungen, daß wir uns beide grenzenlos unglücklich hielten, und um so mehr, als in diesem seltsamen Falle die Vertrauenden sich nicht in Liebende umwandeln durften.


Glücklicherweise mischte sich jedoch der wunderliche Liebesgott, der ohne Not so viel Unheil anrichtet, hier einmal wohltätig mit ein, um uns aus aller Verlegenheit zu ziehen. Mit einem jungen Engländer, der sich in der Pfeilischen Pension bildete, hatte ich viel Verkehr. Er konnte von seiner Sprache gute Rechenschaft geben, ich übte sie mit ihm und erfuhr dabei manches von seinem Lande und Volke. Er ging lange genug bei uns aus und ein, ohne daß ich eine Neigung zu meiner Schwester an ihm bemerkte, doch mochte er sie im stillen bis zur Leidenschaft genährt haben: denn endlich erklärte sich's unversehens und auf einmal. Sie kannte ihn, sie schätzte ihn, und er verdiente es. Sie war oft bei unseren englischen Unterhaltungen die Dritte gewesen, wir hatten aus seinem Munde uns beide die Wunderlichkeiten der englischen Aussprache anzueignen gesucht, und uns dadurch nicht nur das Besondere ihres Tones und Klanges, sondern sogar das Besonderste der persönlichen Eigenheiten unseres Lehrers angewöhnt, so daß es zuletzt seltsam genug klang, wenn wir zusammen wie aus einem Munde zu reden schienen. Seine Bemühung, von uns auf gleiche Weise so viel vom Deutschen zu lernen, wollte nicht gelingen, und ich glaube bemerkt zu haben, daß auch jener kleine Liebeshandel, sowohl schriftlich als mündlich, in englischer Sprache durchgeführt wurde. Beide junge Personen schickten sich recht gut für einander: er war groß und wohl gebaut, wie sie, nur noch schlanker; sein Gesicht, klein und eng beisammen, hätte wirklich hübsch sein können, wäre es durch die Blattern nicht allzusehr entstellt gewesen; sein Betragen war ruhig, bestimmt, man durfte es wohl manchmal trocken und kalt nennen; aber sein Herz war voll Güte und Liebe, seine Seele voll Edelmut und seine Neigungen so dauernd als entschieden und gelassen. Nun zeichnete sich dieses ernste Paar, das sich erst neuerlich zusammengefunden hatte, unter den anderen ganz eigen aus, die, schon mehr mit einander bekannt, von leichteren Charakteren, sorglos wegen der Zukunft, sich in jenen Verhältnissen leichtsinnig herumtrieben, die gewöhnlich nur als ein fruchtloses Vorspiel künftiger ernsterer Verbindungen vorübergehen, und sehr selten eine dauernde Folge auf das Leben bewirken.


Die gute Jahrszeit, die schöne Gegend blieb für eine so muntere Gesellschaft nicht unbenutzt; Wasserfahrten stellte man häufig an, weil diese die geselligsten von allen Lustpartien sind. Wir mochten uns jedoch zu Wasser oder zu Lande bewegen, so zeigten sich gleich die einzelnen anziehenden Kräfte; jedes Paar schloß sich zusammen, und für einige Männer, die nicht versagt waren, worunter ich auch gehörte, blieb entweder gar keine weibliche Unterhaltung, oder eine solche, die man an einem lustigen Tage nicht würde gewählt haben. Ein Freund, der sich in gleichem Falle befand, und dem es an einer Hälfte hauptsächlich deswegen ermangeln mochte, weil es ihm, bei dem besten Humor, an Zärtlichkeit, und bei viel Verstand an jener Aufmerksamkeit fehlte, ohne welche sich Verbindungen solcher Art nicht denken lassen; dieser, nachdem er öfters seinen Zustand launig und geistreich beklagt, versprach, bei der nächsten Versammlung einen Vorschlag zu tun, wodurch ihm und dem Ganzen geholfen werden sollte. Auch verfehlte er nicht, sein Versprechen zu erfüllen: denn als wir, nach einer glänzenden Wasserfahrt und einem sehr anmutigen Spaziergang, zwischen schattigen Hügeln gelagert im Gras, oder sitzend auf bemoosten Felsen und Baumwurzeln, heiter und froh ein ländliches Mahl verzehrt hatten und uns der Freund alle heiter und guter Dinge sah, gebot er mit schalkhafter Würde einen Halbkreis sitzend zu schließen, vor den er hintrat und folgendermaßen emphatisch zu perorieren anfing: »Höchst werte Freunde und Freundinnen, Gepaarte und Ungepaarte! - Schon aus dieser Anrede erhellet, wie nötig es sei daß ein Bußprediger auftrete und der Gesellschaft das Gewissen schärfe. Ein Teil meiner edlen Freunde ist gepaart, und mag sich dabei ganz wohl befinden, ein anderer ungepaart, der befindet sich höchst schlecht, wie ich aus eigner Erfahrung versichern kann; und wenn nun gleich die lieben Gepaarten hier die Mehrzahl ausmachen, so gebe ich ihnen doch zu bedenken, ob es nicht eben gesellige Pflicht sei, für alle zu sorgen? Warum vereinigen wir uns zahlreich, als um an einander wechselseitig teilzunehmen? und wie kann das geschehen, wenn sich in unserem Kreise wieder so viele kleine Absonderungen bemerken lassen? Weit entfernt bin ich, etwas gegen so schöne Verhältnisse meinen, oder nur daran rühren zu wollen; aber alles hat seine Zeit! ein schönes großes Wort, woran freilich niemand denkt, wenn ihm für Zeitvertreib hinreichend gesorgt ist.«


Er fuhr darauf immer lebhafter und lustiger fort, die geselligen Tugenden den zärtlichen Empfindungen gegenüberzustellen. »Diese«, sagte er, »können uns niemals fehlen, wir tragen sie immer bei uns, und jeder wird darin leicht ohne Übung ein Meister; aber jene müssen wir aufsuchen, wir müssen uns um sie bemühen, und wir mögen darin, so viel wir wollen, fortschreiten, so lernt man sie doch niemals ganz aus.« - Nun ging er ins Besondere. Mancher mochte sich getroffen fühlen, und man konnte nicht unterlassen, sich unter einander anzusehen; doch hatte der Freund das Privilegium, daß man ihm nichts übel nahm, und so konnte er ungestört fortfahren.»


Die Mängel aufdecken ist nicht genug; ja, man hat unrecht solches zu tun, wenn man nicht zugleich das Mittel zu dem besseren Zustande anzugeben weiß. Ich will euch, meine Freunde, daher nicht etwa, wie ein Karwochenprediger, zur Buße und Besserung im allgemeinen ermahnen, vielmehr wünsche ich sämtlichen liebenswürdigen Paaren das längste und dauerhafteste Glück, und um hiezu selbst auf das sich erste beizutragen, tue ich den Vorschlag, für unsere geselligen Stunden diese kleinen allerliebsten Absonderungen zu trennen und aufzuheben. Ich habe«, fuhr er fort,»schon für die Ausführung gesorgt, wenn ich Beifall finden sollte. Hier ist ein Beutel, in dem die Namen der Herren befindlich sind; ziehen Sie nun, meine Schönen, und lassen Sie sich's gefallen, denjenigen auf acht Tage als Diener zu begünstigen, den Ihnen das Los zuweist. Dies gilt nur innerhalb unseres Kreises; sobald er aufgehoben ist, sind auch diese Verbindungen aufgehoben, und wer Sie nach Hause führen soll, mag das Herz entscheiden.«


Ein großer Teil der Gesellschaft war über diese Anrede und die Art, wie er sie vortrug, froh geworden und schien den Einfall zu billigen; einige Paare jedoch sahen vor sich hin, als glaubten sie dabei nicht ihre Rechnung zu finden: deshalb rief er mit launiger Heftigkeit:


»Fürwahr! es überrascht mich, daß nicht jemand aufspringt, und, obgleich noch andere zaudern, meinen Vorschlag anpreist, dessen Vorteile auseinandersetzt, und mir erspart, mein eigner Lobredner zu sein. Ich bin der Älteste unter Ihnen; das mir Gott verzeihe. Schon habe ich eine Glatze, daran ist mein großes Nachdenken schuld« -


Hier nahm er den Hut ab -


»aber ich würde sie mit Freuden und Ehren zur Schau stellen, wenn meine eignen Überlegungen, die mir die Haut austrocknen und mich des schönsten Schmucks berauben, nur auch mir und anderen einigermaßen förderlich sein könnten. Wir sind jung, meine Freunde, das ist schön; wir werden älter werden, das ist dumm; wir nehmen uns unter einander wenig übel, das ist hübsch und der Jahreszeit gemäß. Aber bald, meine Freunde, werden die Tage kommen wo wir uns selbst manches übel zu nehmen haben: da mag denn jeder sehen, wie er mit sich zurechte kommt; aber zugleich werden uns andre manches übelnehmen, und zwar wo wir es gar nicht begreifen; darauf müssen wir uns vorbereiten, und dieses soll nunmehr geschehen.«Er hatte die ganze Rede, besonders aber die letzte Stelle, mit Ton und Gebärden eines Kapuziners vorgetragen: denn da er katholisch war, so mochte er genügsame Gelegenheit gehabt haben, die Redekunst dieser Väter zu studieren. Nun schien er außer Atem, trocknete sein jung-kahles Haupt, das ihm wirklich das Ansehen eines Pfaffen gab, und setzte durch diese Possen die leicht gesinnte Sozietät in so gute Laune, daß jedermann begierig war, ihn weiter zu hören. Allein an statt fortzufahren, zog er den Beutel und wendete sich zur nächsten Dame: »Es kommt auf einen Versuch an!« rief er aus, »das Werk wird den Meister loben. Wenn es in acht Tagen nicht gefällt, so geben wir es auf und es mag bei dem alten bleiben.«Halb willig, halb genötigt zogen die Damen ihre Röllchen, und gar leicht bemerkte man, daß bei dieser geringen Handlung mancherlei Leidenschaften im Spiel waren. Glücklicherweise traf sich's, daß die Heitergesinnten getrennt wurden, die Ernsteren zusammen blieben; und so behielt auch meine Schwester ihren Engländer, welches sie beiderseits dem Gott der Liebe und des Glücks sehr gut aufnahmen. Die neuen Zufallspaare wurden sogleich von dem Antistes zusammen gegeben, auf ihre Gesundheit getrunken und allen um so mehr Freude gewünscht als ihre Dauer nur kurz sein sollte. Gewiß aber war dies der heiterste Moment, den unsere Gesellschaft seit langer Zeit genossen. Die jungen Männer, denen kein Frauenzimmer zuteil geworden, erhielten nunmehr das Amt, diese Woche über für Geist, Seele und Leib zu sorgen, wie sich unser Redner ausdrückte, besonders aber, meinte er, für die Seele, weil die beiden anderen sich schon eher selbst zu helfen wüßten.


Die Vorsteher, die sich gleich Ehre machen wollten, brachten ganz artige neue Spiele schnell in Gang, bereiteten in einiger Ferne eine Abendkost, auf die man nicht gerechnet hatte, illuminierten bei unserer nächtlichen Rückkehr die Jacht, ob es gleich, bei dem hellen Mondschein, nicht nötig gewesen wäre; sie entschuldigten sich aber damit, daß es der neuen geselligen Einrichtung ganz gemäß sei, die zärtlichen Blicke des himmlischen Mondes durch irdische Lichter zu überscheinen. In dem Augenblick, als wir ans Landstiegen, rief unser Solon: »Ite, missa est!« Ein jeder führte die ihm durchs Los zugefallene Dame noch aus dem Schiffe und übergab sie alsdann ihrer eigentlichen Hälfte, wogegen er sich wieder die seinige eintauschte.


Bei der nächsten Zusammenkunft ward diese wöchentliche Einrichtung für den Sommer festgesetzt und die Verlosung abermals vorgenommen. Es war keine Frage, daß durch diesen Scherz eine neue und unerwartete Wendung in die Gesellschaft kam, und ein jeder angeregt ward, was ihm von Geist und Anmut beiwohnte, an den Tag zu bringen und seiner augenblicklichen Schönen auf das verbindlichste den Hof zu machen, indem er sich wohl zutraute, wenigstens für eine Woche genügsamen Vorrat zu Gefälligkeiten zu haben.


Man hatte sich kaum eingerichtet, als man unserem Redner, statt ihm zu danken, den Vorwurf machte, er habe das Beste seiner Rede, den Schluß, für sich behalten. Er versicherte darauf, das Beste einer Rede sei die Überredung, und wer nicht zu überreden gedenke, müsse gar nicht reden: denn mit der Überzeugung sei es eine mißliche Sache. Als man ihm dem ohngeachtet keine Ruhe ließ, begann er sogleich eine Kapuzinade, fratzenhafter als je, vielleicht gerade darum, weil er die ernsthaftesten Dinge zu sagen gedachte. Er führte nämlich mit Sprüchen aus der Bibel, die nicht zur Sache paßten, mit Gleichnissen, die nicht trafen, mit Anspielungen, die nichts erläuterten, den Satz aus, daß, wer seine Leidenschaften, Neigungen, Wünsche, Vorsätze, Plane nicht zu verbergen wisse, in der Welt zu nichts komme, sondern aller Orten und Enden gestört und zum besten gehabt werde; vorzüglich aber, wenn man in der Liebe glücklich sein wolle, habe man sich des tiefsten Geheimnisses zu befleißigen.


Dieser Gedanke schlang sich durch das Ganze durch, ohne daß eigentlich ein Wort davon wäre gesprochen worden. Will man sich einen Begriff von diesem seltsamen Menschen machen, so bedenke man, daß er, mit viel Anlage geboren, seine Talente und besonders seinen Scharfsinn in Jesuiterschulen ausgebildet und eine große Welt- und Menschenkenntnis, aber nur von der schlimmen Seite, zusammengewonnen hatte. Er war etwa zweiundzwanzig Jahr alt, und hätte mich gern zum Proselyten seiner Menschenverachtung gemacht; aber es wollte nicht bei mir greifen, denn ich hatte noch immer große Lust, gut zu sein und andere gut zu finden. Indessen bin ich durch ihn auf vieles aufmerksam geworden.


Das Personal einer jeden heiteren Gesellschaft vollständig zu machen, gehört notwendig ein Akteur, welcher Freude daran hat, wenn die übrigen, um so manchen gleichgültigen Moment zu beleben, die Pfeile des Witzes gegen ihn richten mögen. Ist er nicht bloß ein ausgestopfter Sarazene, wie derjenige, an dem bei Lustkämpfen die Ritter ihre Lanzen übten, sondern versteht er selbst zu scharmutzieren, zu necken und aufzufordern, leicht zu verwunden und sich zurückzuziehen, und, indem er sich preiszugeben scheint, anderen eins zu versetzen, so kann nicht wohl etwas Anmutigeres gefunden werden. Einen solchen besaßen wir an unserem Freund Horn, dessen Name schon zu allerlei Scherzen Anlaß gab und der, wegen seiner kleinen Gestalt, immer nur Hörnchen genannt wurde. Er war wirklich der Kleinste in der Gesellschaft, von derben, aber gefälligen Formen; eine Stumpfnase, ein etwas aufgeworfener Mund, kleine funkelnde Augen bildeten ein schwarzbraunes Gesicht, das immer zum Lachen aufzufordern schien. Sein kleiner gedrungener Schädel war mit krausenschwarzen Haaren reich besetzt, sein Bart frühzeitig blau, den er gar zu gern hätte wachsen lassen, um als komische Maske die Gesellschaft immer im Lachen zu erhalten. Übrigens war er nett und behend, behauptete aber krumme Beine zu haben, welches man ihm zugab, weil er es gern so wollte, worüber denn mancher Scherz entstand: denn weil er als ein sehr guter Tänzer gesucht wurde, so rechnete er es unter die Eigenheiten des Frauenzimmers, daß sie die krummen Beine immer auf dem Plane sehen wollten. Seine Heiterkeit war unverwüstlich und seine Gegenwart bei jeder Zusammenkunft unentbehrlich. Wir beide schlossen uns um so enger an einander, als er mir auf die Akademie folgen sollte; und er verdient wohl, daß ich seiner in allen Ehren gedenke, da er viele Jahre mit unendlicher Liebe, Treue und Geduld an mir gehalten hat.


Durch meine Leichtigkeit, zu reimen und gemeinen Gegenständen eine poetische Seite abzugewinnen, hatte er sich gleichfalls zu solchen Arbeiten verführen lassen. Unsere kleinen geselligen Reisen, Lustpartien und die dabei vorkommenden Zufälligkeiten stutzten wir poetisch auf, und so entstand durch die Schilderung einer Begebenheit immer eine neue Begebenheit. Weil aber gewöhnlich dergleichen gesellige Scherze auf Verspottung hinauslaufen, und Freund Horn mit seinen burlesken Darstellungen nicht immer in den gehörigen Grenzen blieb, so gab es manchmal Verdruß, der aber bald wieder gemildert und getilgt werden konnte.


So versuchte er sich auch in einer Dichtungsart, welche sehr an der Tagesordnung war, im komischen Heldengedicht. Popes »Lockenraub« hatte viele Nachahmungen erweckt; Zachariä kultivierte diese Dichtart auf deutschem Grund und Boden, und jedermann gefiel sie, weil der gewöhnliche Gegenstand derselben irgend ein läppischer Mensch war, den die Genien zum besten hatten, indem sie den besseren begünstigten.


Es ist nicht wunderbar, aber es erregt doch Verwunderung, wenn man bei Betrachtung einer Literatur, besonders der deutschen, beobachtet, wie eine ganze Nation von einem einmal gegebenen und in einer gewissen Form mit Glück behandelten Gegenstand nicht wieder loskommen kann, sondern ihn auf alle Weise wiederholt haben will; da denn zuletzt, unter den angehäuften Nachahmungen, das Original selbst verdeckt und erstickt wird.


Das Heldengedicht meines Freundes war ein Beleg zu dieser Bemerkung. Bei einer großen Schlittenfahrt wird einem täppischen Menschen ein Frauenzimmer zuteil, das ihn nicht mag; ihm begegnet neckisch genug ein Unglück nach dem andern, das bei einer solchen Gelegenheit sich ereignen kann, bis er zuletzt, als er sich das Schlittenrecht erbittet, von der Pritsche fällt, wobei ihm denn, wie natürlich, die Geister ein Bein gestellt haben. Die Schöne ergreift die Zügel und fährt allein nach Hause; ein begünstigter Freund empfängt sie und triumphiert über den anmaßlichen Nebenbuhler. Übrigens war es sehr artig ausgedacht, wie ihn die vier verschiedenen Geister nach und nach beschädigen, bis ihn endlich die Gnomen gar aus dem Sattel heben. Das Gedicht, in Alexandrinern geschrieben, auf eine wahre Geschichte gegründet, ergetzte unser kleines Publikum gar sehr, und man war überzeugt, daß es sich mit der »Walpurgisnacht« von Löwen oder dem »Renommisten« von Zachariä gar wohl messen könne.


Indem nun unsere geselligen Freuden nur einen Abend und die Vorbereitungen dazu wenige Stunden erforderten, so hatte ich Zeit genug zu lesen und, wie ich glaubte, zu studieren. Meinem Vater zu Liebe repetierte ich fleißig den Kleinen Hoppe, und konnte mich vorwärts und rückwärts darin examinieren lassen, wodurch ich mir denn den Hauptinhalt der »Institutionen« vollkommen zu eigen machte. Allein unruhige Wißbegierde trieb mich weiter, ich geriet in die Geschichte der alten Literatur und von da in einen Enzyklopädismus, indem ich Gesners »Isagoge« und Morhofs »Polyhistor« durchlief, und mir dadurch einen allgemeinen Begriff erwarb, wie manches Wunderlich ein Lehr und Leben schon mochte vorgekommen sein. Durch diesen anhaltenden und hastigen,Tag und Nacht fortgesetzten Fleiß verwirrte ich mich eher, als ich mich bildete; ich verlor mich aber in ein noch größeres Labyrinth, als ich Baylen in meines Vaters Bibliothek fand und mich in denselben vertiefte. Eine Hauptüberzeugung aber, die sich immer in mir erneuerte, war die Wichtigkeit der alten Sprachen: denn so viel drängte sich mir aus dem literarischen Wirrwarr immer wieder entgegen, daß in ihnen alle Muster der Redekünste und zugleich alles andere Würdige, was die Welt jemals besessen, aufbewahrt sei. Das Hebräische sowie die biblischen Studien waren in den Hintergrund getreten, das Griechische gleichfalls, da meine Kenntnisse desselben sich nicht über das Neue Testament hinaus erstreckten. Desto ernstlicher hielt ich mich ans Lateinische, dessen Musterwerke uns näher liegen und das uns, nebst so herrlichen Originalproduktionen, auch den übrigen Erwerb aller Zeiten in Übersetzungen und Werken der größten Gelehrten darbietet. Ich las daher viel in dieser Sprache mit großer Leichtigkeit, und durfte glauben die Autoren zu verstehen, weil mir am buchstäblichen Sinne nichts abging. Ja, es verdroß mich gar sehr, als ich vernahm, Grotius habe übermütig geäußert, er lese den Terenz anders als die Knaben. Glückliche Beschränkung der Jugend! ja der Menschen überhaupt, daß sie sich in jedem Augenblicke ihres Daseins für vollendet halten können, und weder nach Wahrem noch Falschem, weder nach Hohem noch Tiefem fragen, sondern bloß nach dem, was ihnen gemäß ist.


So hatte ich denn das Lateinische gelernt wie das Deutsche, das Französische, das Englische, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel und ohne Begriff. Wer den damaligen Zustand des Schulunterrichts kennt, wird nicht seltsam finden, daß ich die Grammatik übersprang, sowie die Redekunst: mir schien alles natürlich zuzugehen, ich behielt die Worte, ihre Bildungen und Umbildungen in Ohr und Sinn, und bediente mich der Sprache mit Leichtigkeit zum Schreiben und Schwätzen.


Michael, die Zeit, da ich die Akademie besuchen sollte, rückte heran, und mein Inneres ward ebenso sehr vom Leben als von der Lehre bewegt. Eine Abneigung gegen meine Vaterstadt ward mir immer deutlicher. Durch Gretchens Entfernung war der Knaben- und Jünglingspflanze das Herz ausgebrochen; sie brauchte Zeit, um an den Seiten wieder auszuschlagen und den ersten Schaden durch neues Wachstum zu überwinden. Meine Wanderungen durch die Straßen hatten aufgehört, ich ging nur, wie andere, die notwendigen Wege. Nach Gretchens Viertel kam ich nie wieder, nicht einmal in die Gegend; und wie mir meine alten Mauern und Türme nach und nach verleideten, so mißfiel mir auch die Verfassung der Stadt, alles, was mir sonst so ehrwürdig vorkam, erschien mir in verschobenen Bildern. Als Enkel des Schultheißen waren mir die heimlichen Gebrechen einer solchen Republik nicht unbekannt geblieben, um so weniger, als Kinder ein ganz eignes Erstaunen fühlen und zu emsigen Untersuchungen angereizt werden, sobald ihnen etwas, das sie bisher unbedingt verehrt, einigermaßen verdächtig wird. Der vergebliche Verdruß rechtschaffener Männer im Widerstreit mit solchen, die von Parteien zu gewinnen, wohl gar zu bestechen sind, war mir nur zu deutlich geworden, ich haßte jede Ungerechtigkeit über die Maßen: denn die Kinder sind alle moralische Rigoristen. Mein Vater, in die Angelegenheiten der Stadt nur als Privatmann verflochten, äußerte sich im Verdruß über manches Mißlungene sehr lebhaft. Und sah ich ihn nicht, nach so viel Studien, Bemühungen, Reisen und mannigfaltiger Bildung, endlich zwischen seinen Brandmauern ein einsames Leben führen, wie ich mir es nicht wünschen konnte? Dies zusammen lag als eine entsetzliche Last auf meinem Gemüte, von der ich mich nur zu befreien wußte, indem ich mir einen ganz anderen Lebensplan, als den mir vorgeschriebenen, zu ersinnen trachtete. Ich warf in Gedanken die juristischen Studienweg und widmete mich allein den Sprachen, den Altertümern, der Geschichte und allem, was daraus hervorquillt.


Zwar machte mir jederzeit die poetische Nachbildung dessen, was ich an mir selbst, an anderen und an der Natur gewahr geworden, das größte Vergnügen. Ich tat es mit immer wachsender Leichtigkeit, weil es aus Instinkt geschah und keine Kritik mich irre gemacht hatte; und wenn ich auch meinen Produktionen nicht recht traute, so konnte ich sie wohl als fehlerhaft, aber nicht als ganz verwerflich ansehen. Ward mir dieses oder jenes daran getadelt, so blieb es doch im stillen meine Überzeugung, daß es nach und nach immer besser werden müßte, und daß ich wohl einmal neben Hagedorn, Gellert und anderen solchen Männern mit Ehre dürfte genannt werden. Aber eine solche Bestimmung allein schien mir allzu leer und unzulänglich; ich wollte mich mit Ernst zu jenen gründlichen Studien bekennen, und, indem ich, bei einer vollständigeren Ansicht des Altertums, in meinen eigenen Werken rascher vorzuschreiten dachte, mich zu einer akademischen Lehrstelle fähig machen, welche mir das Wünschenswerteste schien für einen jungen Mann, der sich selbst auszubilden und zur Bildung anderer beizutragen gedachte.


Bei diesen Gesinnungen hatte ich immer Göttingen im Auge. Auf Männern wie Heyne, Michaelis und so manchem anderen ruhte mein ganzes Vertrauen; mein sehnlichster Wunsch war, zu ihren Füßen zu sitzen und auf ihre Lehren zu merken. Aber mein Vater blieb unbeweglich. Was auch einige Hausfreunde, die meiner Meinung waren, auf ihn zu wirken suchten: er bestand darauf, daß ich nach Leipzig gehen müsse. Nun hielt ich den Entschluss, daß ich, gegen seine Gesinnungen und Willen, eine eigne Studien- und Lebensweise ergreifen wollte, erst recht für Notwehr. Die Hartnäckigkeit meines Vaters, der, ohne es zu wissen, sich meinen Plänen entgegensetzte, bestärkte mich in meiner Impietät, daß ich mir gar kein Gewissen daraus machte, ihm Stunden lang zuzuhören, wenn er mir den Kursus der Studien und des Lebens, wie ich ihn auf Akademien und in der Welt zu durchlaufen hätte, vorerzählte und wiederholte.


Da mir alle Hoffnung nach Göttingen abgeschnitten war, wendete ich nun meinen Blick nach Leipzig. Dort erschien mir Ernesti als ein helles Licht, auch Morus erregte schon viel Vertrauen. Ich ersann mir im stillen einen Gegenkursus, oder vielmehr ich baute ein Luftschloß auf einen ziemlich soliden Grund; und es schien mir sogar romantisch ehrenvoll, sich seine eigne Lebensbahn vorzuzeichnen, die mir um so weniger phantastisch vorkam, als Griesbach auf dem ähnlichen Wege schon große Fortschritte gemacht hatte und deshalb von jedermann gerühmt wurde. Die heimliche Freude eines Gefangenen, wenn er seine Ketten abgelöst und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht größer sein, als die meine war, indem ich die Tage schwinden und den Oktober herannahen sah. Die unfreundliche Jahreszeit, die bösen Wege, von denen jedermann zu erzählen wußte, schreckten mich nicht. Der Gedanke, an einem fremden Orte zu Winterszeit Einstand geben zu müssen, machte mich nicht trübe; genug, ich sah nur meine gegenwärtigen Verhältnisse düster, und stellte mir die übrige unbekannte Welt licht und heiter vor. So bildete ich mir meine Träume, denen ich ausschließlich nachhing, und versprach mir in der Ferne nichts als Glück und Zufriedenheit.


So sehr ich auch gegen jedermann von diesen meinen Vorsätzen ein Geheimnis machte, so konnte ich sie doch meiner Schwester nicht verbergen, die, nachdem sie anfangs darüber sehr erschrocken war, sich zuletzt beruhigte, als ich ihr versprach sie nachzuholen, damit sie sich meines erworbenen glänzenden Zustandes mit mir erfreuen und an meinem Wohlbehagen teilnehmen könnte. Michael kam endlich, sehnlich erwartet, heran, da ich denn mit dem Buchhändler Fleischer und dessen Gattin, einer geborenen Triller, welche ihren Vater in Wittenberg besuchen wollte, mit Vergnügen abfuhr, und die werte Stadt, die mich geboren und erzogen, gleichgültig hinter mir ließ, als wenn ich sie nie wieder betreten wollte. So lösen sich in gewissen Epochen Kinder von Eltern, Diener von Herren, Begünstigte von Gönnern los, und ein solcher Versuch, sich auf seine Füße zustellen, sich unabhängig zu machen, für sein eigen Selbst zu leben, er gelinge oder nicht, ist immer dem Willen der Natur gemäß.
                                                                        






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