> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 2.Teil/7.Buch S 19

2015-04-09

J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 2.Teil/7.Buch S 19


Zweiter Teil

Siebentes Buch Seite 17


Über den Zustand der deutschen Literatur jener Zeit ist so vieles und Ausreichendes geschrieben worden, daß wohl jedermann, der einigen Anteil hieran nimmt, vollkommen unterrichtet sein kann; wie denn auch das Urteil darüber wohl ziemlich übereinstimmen dürfte; und was ich gegenwärtig stück- und sprungweise davon zu sagen gedenke, ist nicht sowohl wie sie an und für sich beschaffen sein mochte, als vielmehr wie sie sich zu mir verhielt. Ich will deshalb zuerst von solchen Dingen sprechen, durch welche das Publikum besonders aufgeregt wird, von den beiden Erbfeinden alles behaglichen Lebens und aller heiteren, selbstgenügsamen, lebendigen Dichtkunst: von der Satire und der Kritik.


In ruhigen Zeiten will jeder nach seiner Weise leben, der Bürger sein Gewerb, sein Geschäft treiben und sich nachher vergnügen: so mag auch der Schriftsteller gern etwas verfassen, seine Arbeiten bekanntmachen, und wo nicht Lohn doch Lob dafür hoffen, weil er glaubt, etwas Gutes und Nützliches getan zuhaben. In dieser Ruhe wird der Bürger durch den Satiriker, der Autor durch den Kritiker gestört, und so die friedliche Gesellschaft in eine unangenehme Bewegung gesetzt.


Die literarische Epoche, in der ich geboren bin, entwickelte sich aus der vorhergehenden durch Widerspruch. Deutschland, so lange von auswärtigen Völkern überschwemmt, von andern Nationen durchdrungen, in gelehrten und diplomatischen Verhandlungen an fremde Sprachen gewiesen, konnte seine eigne unmöglich ausbilden. Es drangen sich ihr, zu so manchen neuen Begriffen, auch unzählige fremde Worte nötiger und unnötiger Weise mit auf, und auch für schon bekannte Gegenstände ward man veranlaßt sich ausländischer Ausdrücke und Wendungen zu bedienen. Der Deutsche, seit beinahe zwei Jahrhunderten in einem unglücklichen tumultuarischen Zustande verwildert, begab sich bei den Franzosen in die Schule, um lebensartig zu werden, und bei den Römern, um sich würdig auszudrücken. Dies sollte aber auch in der Muttersprache geschehen; da denn die unmittelbare Anwendung jener Idiome und deren Halbverdeutschung sowohl den Welt- als Geschäftsstil lächerlich machte. Überdies faßte man die Gleichnisreden der südlichen Sprachen unmäßig auf und bediente sich derselben höchst übertrieben. Ebenso zog man den vornehmen Anstand der fürstengleichen römischen Bürger auf deutsche kleinstädtische Gelehrtenverhältnisse herüber, und war eben nirgends, am wenigsten bei sich zu Hause.


Wie aber schon in dieser Epoche genialische Werke entsprangen, so regte sich auch hier der deutsche Frei- und Frohsinn. Dieser, begleitet von einem aufrichtigen Ernste, drang darauf, daß rein und natürlich, ohne Einmischung fremder Worte, und wie es der gemeine verständliche Sinn gab, geschrieben würde. Durch diese löblichen Bemühungen ward jedoch der vaterländischen breiten Plattheit Tür und Tor geöffnet, ja der Damm durchstochen, durch welchen das große Gewässer zunächst eindringen sollte. Indessen hielt ein steifer Pedantismus in allen vier Fakultäten lange Stand, bis er sich endlich viel später aus einer in die andere flüchtete.


Gute Köpfe, freiaufblickende Naturkinder hatten daher zwei Gegenstände, an denen sie sich üben, gegen die sie wirken und, da die Sache von keiner großen Bedeutung war, ihren Mutwillen auslassen konnten; diese waren eine durch fremde Worte, Wortbildungen und Wendungen verunzierte Sprache, und sodann die Wertlosigkeit solcher Schriften, die sich von jenem Fehler frei zu erhalten besorgt waren; wobei niemanden einfiel, daß, indem man ein Übel bekämpfte, das andere zu Hülfe gerufen ward.


Liscow, ein junger kühner Mensch, wagte zuerst, einen seichten, albernen Schriftsteller persönlich anzufallen, dessen ungeschicktes Benehmen ihm bald Gelegenheit gab, heftiger zu verfahren. Er griff sodann weiter um sich und richtete seinen Spott immer gegen bestimmte Personen und Gegenstände, die er verachtete und verächtlich zu machen suchte, ja mit leidenschaftlichem Haß verfolgte. Allein seine Laufbahn war kurz; er starb gar bald, verschollen als ein unruhiger, unregelmäßiger Jüngling. In dem, was er getan, ob er gleich wenig geleistet, mochte seinen Landsleuten das Talent, der Charakter schätzenswert vorkommen: wie denn die Deutschen immer gegen frühabgeschiedene, Gutes versprechende Talente eine besondere Frömmigkeit bewiesen haben; genug, uns ward Liscow sehr früh als ein vorzüglicher Satiriker, der sogar den Rang vor dem allgemein beliebten Rabener verlangen könnte, gepriesen und anempfohlen. Hierbei sahen wir uns freilich nicht gefördert: denn wir konnten in seinen Schriften weiter nichts erkennen, als daß er das Alberne albern gefunden habe, welches uns eine ganz natürliche Sache schien.


Rabener, wohl erzogen, unter gutem Schulunterricht aufgewachsen, von heiterer und keineswegs leidenschaftlicher oder gehässiger Natur, ergriff die allgemeine Satire. Sein Tadel der sogenannten Laster und Torheiten entspringt aus reinen Ansichten des ruhigen Menschenverstandes und aus einem bestimmten sittlichen Begriff, wie die Welt sein sollte. Die Rüge der Fehler und Mängel ist harmlos und heiter; und damit selbst die geringe Kühnheit seiner Schriften entschuldigt werde, so wird vorausgesetzt, daß die Besserung der Toren durchs Lächerliche kein fruchtloses Unternehmen sei. Rabeners Persönlichkeit wird nicht leicht wieder erscheinen. Als tüchtiger genauer Geschäftsmann tut er seine Pflicht, und erwirbt sich dadurch die gute Meinung seiner Mitbürger und das Vertrauen seiner Oberen; nebenher überläßt er sich zur Erholung einer heiteren Nichtachtung alles dessen, was ihn zunächst umgibt. Pedantische Gelehrte, eitle Jünglinge, jede Art von Beschränktheit und Dünkel bescherzt er mehr, als daß er sie bespottete, und selbst sein Spott drückt keine Verachtung aus. Ebenso spaßt er über seinen eignen Zustand, über sein Unglück, sein Leben und seinen Tod.


Die Art, wie dieser Schriftsteller seine Gegenstände behandelt, hat wenig Ästhetisches. In den äußeren Formen ist er zwar mannigfaltig genug, aber durchaus bedient er sich der direkten Ironie zu viel, daß er nämlich das Tadelnswürdige lobt und das Lobenswürdige tadelt, welches rednerische Mittel nur höchst selten angewendet werden sollte: denn auf die Dauer fällt es einsichtigen Menschen verdrießlich, die schwachen macht es irre, und behagt freilich der großen Mittelklasse, welche, ohne besondern Geistesaufwand, sich klüger dünken kann als andere. Was er aber und wie er es auch vorbringt, zeugt von seiner Rechtlichkeit, Heiterkeit und Gleichmütigkeit, wodurch wir uns immer eingenommen fühlen; der unbegrenzte Beifall seiner Zeit war eine Folge solcher sittlichen Vorzüge.


Daß man zu seinen allgemeinen Schilderungen Musterbilder suchte und fand, war natürlich; daß einzelne sich über ihn beschwerten, folgte daraus; seine allzulangen Verteidigungen, daß seine Satire keine persönliche sei, zeugen von dem Verdruß, den man ihm erregt hat. Einige seiner Briefe setzen ihm als Menschen und Schriftsteller den Kranz auf. Das vertrauliche Schreiben, worin er die Dresdner Belagerung schildert, wie er sein Haus, seine Habseligkeiten, seine Schriften und Perücken verliert, ohne auch im mindesten seinen Gleichmut erschüttert, seine Heiterkeit getrübt zu sehen, ist höchst schätzenswert, ob ihm gleich seine Zeit- und Stadtgenossen diese glückliche Gemütsart nicht verzeihen konnten. Der Brief, wo er von der Abnahme seiner Kräfte, von seinem nahen Tode spricht, ist äußerst respektabel, und Rabener verdient, von allen heiteren, verständigen, in die irdischen Ereignisse froh ergebenen Menschen als Heiliger verehrt zu werden.


Ungern reiße ich mich von ihm los, nur das bemerke ich noch: seine Satire bezieht sich durchaus auf den Mittelstand; er läßt hie und da vermerken, daß er die höheren auch wohl kenne, es aber nicht für rätlich halte, sie zu berühren. Man kann sagen, daß er keinen Nachfolger gehabt, daß sich niemand gefunden, der sich ihm gleich oder ähnlich hätte halten dürfen.


Nun zur Kritik! und zwar vorerst zu den theoretischen Versuchen. Wir holen nicht zu weit aus, wenn wir sagen, daß damals das Ideelle sich aus der Welt in die Religion geflüchtet hatte, ja sogar in der Sittenlehre kaum zum Vorschein kam; von einem höchsten Prinzip der Kunst hatte niemand eine Ahndung. Man gab uns Gottscheds »Kritische Dichtkunst« in die Hände; sie war brauchbar und belehrend genug: denn sie überlieferte von allen Dichtungsarten eine historische Kenntnis, sowie vom Rhythmus und den verschiedenen Bewegungen desselben; das poetische Genie ward vorausgesetzt! Übrigens aber sollte der Dichter Kenntnisse haben, ja gelehrt sein, er sollte Geschmack besitzen, und was dergleichen mehr war. Man wies uns zuletzt auf Horazens »Dichtkunst«; wir staunten einzelne Goldsprüche dieses unschätzbaren Werks mit Ehrfurcht an, wußten aber nicht im geringsten, was wir mit dem Ganzen machen, noch wie wir es nutzen sollten.


Die Schweizer traten auf als Gottscheds Antagonisten; sie mußten doch also etwas anderes tun, etwas Besseres leisten wollen: so hörten wir denn auch, daß sie wirklich vorzüglicher seien. Breifingers »Kritische Dichtkunst« ward vorgenommen. Hier gelangten wir nun in ein weiteres Feld, eigentlich aber nur in einen größeren Irrgarten, der desto ermüdender war, als ein tüchtiger Mann, dem wir vertrauten, uns darin herumtrieb. Eine kurze Übersicht rechtfertige diese Worte.


Für die Dichtkunst an und für sich hatte man keinen Grundsatz finden können; sie war zu geistig und flüchtig. Die Malerei, eine Kunst, die man mit den Augen festhalten, der man mit den äußeren Sinnen Schritt vor Schritt nachgehen konnte, schien zu solchem Ende günstiger; Engländer und Franzosen hatten schon über die bildende Kunst theoretisiert, und man glaubte nun durch ein Gleichnis von daher die Poesie zu begründen. Jene stellte Bilder vor die Augen, diese vor die Phantasie; die poetischen Bilder also waren das erste, was in Betrachtung gezogen wurde. Man fing von den Gleichnissen an, Beschreibungen folgten, und was nur immer den äußeren Sinnen darstellbar gewesen wäre, kam zur Sprache.


Bilder also! Wo sollte man nun aber diese Bilder anders hernehmen als aus der Natur? Der Maler ahmte die Natur offenbar nach; warum der Dichter nicht auch? Aber die Natur, wie sie vor uns liegt, kann doch nicht nachgeahmt werden: sie enthält so vieles Unbedeutende, Unwürdige, man muß also wählen; was bestimmt aber die Wahl? man muß das Bedeutende aufsuchen; was ist aber bedeutend?


Hierauf zu antworten mögen sich die Schweizer lange bedacht haben: denn sie kommen auf einen zwar wunderlichen, doch artigen, ja lustigen Einfall, indem sie sagen, am bedeutendsten sei immer das Neue; und nachdem sie dies eine Weile überlegt haben, so finden sie, das Wunderbare sei immer neuer als alles andere.


Nun hatten sie die poetischen Erfordernisse ziemlich beisammen; allein es kam noch zu bedenken, daß ein Wunderbares auch leer sein könne und ohne Bezug auf den Menschen. Ein solcher notwendig geforderter Bezug müsse aber moralisch sein, woraus denn offenbar die Besserung des Menschen folge, und so habe ein Gedicht das letzte Ziel erreicht, wenn es, außer allem anderen Geleisteten, noch nützlich werde. Nach diesen sämtlichen Erfordernissen wollte man nun die verschiedenen Dichtungsarten prüfen, und diejenige, welche die Natur nachahmte, sodann wunderbar und zugleich auch von sittlichem Zweck und Nutzen sei, sollte für die erste und oberste gelten. Und nach vieler Überlegung ward endlich dieser große Vorrang, mit höchster Überzeugung, der Äsopischen Fabel zugeschrieben.


So wunderlich uns jetzt eine solche Ableitung vorkommen mag, so hatte sie doch auf die besten Köpfe den entschiedensten Einfluß. Daß Gellert und nachher Lichtwer sich diesem Fache widmeten, daß selbst Lessing darin zu arbeiten versuchte, daß so viele andere ihr Talent dahin wendeten, spricht für das Zutrauen, welches sich diese Gattung erworben hatte.Theorie und Praxis wirken immer auf einander; aus den Werken kann man sehen, wie es die Menschen meinen, und aus den Meinungen voraussagen, was sie tun werden.


Doch wir dürfen unsere Schweizertheorie nicht verlassen, ohne daß ihr von uns auch Gerechtigkeit widerfahre. Bodmer, so viel er sich auch bemüht, ist theoretisch und praktisch zeitlebens ein Kind geblieben. Breitinger war ein tüchtiger, gelehrter, einsichtsvoller Mann, dem, als er sich recht umsah, die sämtlichen Erfordernisse einer Dichtung nicht entgingen, ja, es läßt sich nachweisen, daß er die Mängel seiner Methode dunkel fühlen mochte. Merkwürdig ist z.B. seine Frage: ob ein gewisses beschreibendes Gedicht von König auf das Lustlager Augusts des Zweiten wirklich ein Gedicht sei? so wie die Beantwortung derselben guten Sinn zeigt. Zu seiner völligen Rechtfertigung aber mag dienen, daß er, von einem falschen Punkte ausgehend, nach beinahe schon durchlaufenem Kreise, doch noch auf die Hauptsache stößt, und die Darstellung der Sitten, Charaktere, Leidenschaften, kurz, des inneren Menschen, auf den die Dichtkunst doch wohl vorzüglich angewiesen ist, am Ende seines Buchs gleichsam als Zugabe anzuraten sich genötigt findet.


In welche Verwirrung junge Geister durch solche ausgerenkte Maximen, halb verstandene Gesetze und zersplitterte Lehren sich versetzt fühlten, läßt sich wohl denken. Man hielt sich an Beispiele, und war auch da nicht gebessert; die ausländischen standen zuweit ab, so sehr wie die alten, und aus den besten inländischen blickte jedesmal eine entschiedene Individualität hervor, deren Tugenden man sich nicht anmaßen konnte, und in deren Fehler zu fallen man fürchten mußte. Für den, der etwas Produktives in sich fühlte, war es ein verzweiflungsvoller Zustand.


Betrachtet man genau, was der deutschen Poesie fehlte, so war es ein Gehalt, und zwar ein nationeller; an Talenten war niemals Mangel. Hier gedenken wir nur Günthers, der ein Poet im vollen Sinne des Worts genannt werden darf. Ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtnis, Gabe des Fassens und Vergegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet; genug, er besaß alles, was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben. Wir bewundern seine große Leichtigkeit, in Gelegenheitsgedichten alle Zustände durchs Gefühl zu erhöhen und mit passenden Gesinnungen, Bildern, historischen und fabelhaften Überlieferungen zu schmücken. Das Rohe und Wilde daran gehört seiner Zeit, seiner Lebensweise und besonders seinem Charakter, oder, wenn man will, seiner Charakterlosigkeit. Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten. Durch ein unfertiges Betragen hatte sich Günther das Glück verscherzt, an dem Hofe Augusts des Zweiten angestellt zu werden, wo man, zu allem übrigen Prunk, sich auch nach einem Hofpoeten umsah, der den Festlichkeiten Schwung und Zierde geben und eine vorübergehende Pracht verewigen könnte. Von König war gesitteter und glücklicher, er bekleidete diese Stelle mit Würde und Beifall.


In allen souveränen Staaten kommt der Gehalt für die Dichtkunst von oben herunter, und vielleicht war das Lustlager bei Mühlberg der erste würdige, wo nicht nationelle, doch provinzielle Gegenstand, der vor einem Dichter auftrat. Zwei Könige, die sich in Gegenwart eines großen Heers begrüßen, ihr sämtlicher Hof- und Kriegsstaat um sie her, wohlgehaltene Truppen, ein Scheinkrieg, Feste aller Art; Beschäftigung genug für den äußeren Sinn und überfließender Stoff für schildernde und beschreibende Poesie.


Freilich hatte dieser Gegenstand einen inneren Mangel; eben daß es nur Prunk und Schein war, aus dem keine Tat hervortreten konnte. Niemand, außer den Ersten, machte sich bemerkbar, und wenn es ja geschehen wäre, durfte der Dichter den einen nicht hervorheben, um andere nicht zu verletzen. Er mußte den Hof- und Staatskalender zu Rate ziehen, und die Zeichnung der Personen lief daher ziemlich trocken ab; ja schon die Zeitgenossen machten ihm den Vorwurf, er habe die Pferde besser geschildert als die Menschen. Sollte dies aber nicht gerade zu seinem Lobe gereichen, daß er seine Kunst gleich da bewies, wo sich ein Gegenstand für dieselbe darbot? Auch scheint die Hauptschwierigkeit sich ihm bald offenbart zu haben: denn das Gedicht hat sich nicht über den ersten Gesang hinaus erstreckt.


Unter solchen Studien und Betrachtungen überraschte mich ein unvermutetes Ereignis und vereitelte das löbliche Vorhaben, unsere neuere Literatur von vorne herein kennen zu lernen. Mein Landsmann Johann Georg Schlosser hatte, nachdem er seine akademischen Jahre mit Fleiß und Anstrengung zugebracht, sich zwar in Frankfurt am Main auf den gewöhnlichen Weg der Advokatur begeben; allein sein streben der und das Allgemeine suchender Geist konnte sich aus mancherlei Ursachen in diese Verhältnisse nicht finden. Er nahm eine Stelle als Geheimsekretär bei dem Herzog Ludwig von Württemberg, der sich in Treptow aufhielt, ohne Bedenken an: denn der Fürst war unter denjenigen Großen genannt, die auf eine edle und selbständige Weise sich, die Ihrigen und das Ganze aufzuklären, zu bessern und zu höheren Zwecken zu vereinigen gedachten. Dieser Fürst Ludwig ist es, welcher, um sich wegen der Kinderzucht Rats zu erholen, an Rousseau geschrieben hatte, dessen bekannte Antwort mit der bedenklichen Phrase anfängt: »Si j'avois le malheur d'etre né prince.«


Den Geschäften des Fürsten nicht allein, sondern auch der Erziehung seiner Kinder sollte nun Schlosser wo nicht vorstehen, doch mit Rat und Tat willig zu Händen sein. Dieser junge, edle, den besten Willen hegende Mann, der sich einer vollkommenen Reinigkeit der Sitten befliß, hätte durch eine gewisse trockene Strenge die Menschen leicht von sich entfernt, wenn nicht eine schöne und seltene literarische Bildung, seine Sprachkenntnisse, seine Fertigkeit, sich schriftlich, sowohl in Versen als in Prosa, auszudrücken, jedermann angezogen und das Leben mit ihm erleichtert hätte. Daß dieser durch Leipzig kommen würde, war mir angekündigt, und ich erwartete ihn mit Sehnsucht. Er kam und trat in einem kleinen Gast- oder Weinhause ab, das im Brühl lag und dessen Wirt Schönkopf hieß. Dieser hatte eine Frankfurterin zur Frau, und ob er gleich die übrige Zeit des Jahres wenig Personen bewirtete, und in das kleine Haus keine Gäste aufnehmen konnte, so war er doch Messenzeits von vielen Frankfurtern besucht, welche dort zu speisen und im Notfall auch wohl Quartier zunehmen pflegten. Dorthin eilte ich, um Schlossern aufzusuchen, als er mir seine Ankunft melden ließ. Ich erinnerte mich kaum, ihn früher gesehen zu haben, und fand einen jungen wohlgebauten Mann, mit einem runden zusammengefaßten Gesicht, ohne daß die Züge deshalb stumpf gewesen wären. Die Form seiner gerundeten Stirn, zwischen schwarzen Augenbrauen und Locken, deutete auf Ernst, Strenge und vielleicht Eigensinn. Er war gewissermaßen das Gegenteil von mir, und eben dies begründete wohl unsere dauerhafte Freundschaft. Ich hatte die größte Achtung für seine Talente, um so mehr, als ich gar wohl bemerkte, daß er mir in der Sicherheit dessen, was er tat und leistete, durchaus überlegen war. Die Achtung und das Zutrauen, das ich ihm bewies, bestätigten seine Neigung, und vermehrten die Nachsicht, die er mit meinem lebhaften, fahrigen und immer regsamen Wesen, im Gegensatz mit dem Seinigen, haben mußte. Er studierte die Engländer fleißig, Pope war, wo nicht sein Muster, doch sein Augenmerk, und er hatte, im Widerstreit mit dem »Versuch über den Menschen« jenes Schriftstellers, ein Gedicht in gleicher Form und Silbenmaß geschrieben, welches der christlichen Religion über jenen Deismus den Triumph verschaffen sollte. Aus dem großen Vorrat von Papieren, die er bei sich führte, ließ er mir sodann poetische und prosaische Aufsätze in allen Sprachen sehen, die, indem sie mich zur Nachahmung aufriefen, mich abermals unendlich beunruhigten. Doch wußte ich mir durch Tätigkeit sogleich zu helfen. Ich schrieb an ihn gerichtete deutsche, französische, englische, italienische Gedichte, wozu ich den Stoff aus unseren Unterhaltungen nahm, welche durchaus bedeutend und unterrichtend waren.


Schlosser wollte nicht Leipzig verlassen, ohne die Männer, welche Namen hatten, von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Ich führte ihn gern zu denen mir bekannten; die von mir noch nicht besuchten lernte ich auf diese Weise ehrenvoll kennen, weil er als ein unterrichteter, schon charakterisierter Mann mit Auszeichnung empfangen wurde und den Aufwand des Gesprächs recht gut zu bestreiten wußte. Unsern Besuch bei Gottsched darf ich nicht übergehen, indem die Sinnes- und Sittenweise dieses Mannes daraus hervortritt. Er wohnte sehr anständig in dem ersten Stock des »Goldenen Bären«, wo ihm der ältere Breitkopf, wegen des großen Vorteils, den die Gottschedischen Schriften, Übersetzungen und sonstigen Assistenzen der Handlung gebracht, eine lebenslängliche Wohnung zugesagt hatte. Wir ließen uns melden. Der Bediente führte uns in ein großes Zimmer, indem er sagte, der Herr werde gleich kommen. Ob wir nun eine Gebärde, die er machte, nicht recht verstanden, wüßte ich nicht zu sagen; genug, wir glaubten, er habe uns in das anstoßende Zimmer gewiesen. Wir traten hinein zu einer sonderbaren Szene: denn in dem Augenblick trat Gottsched, der große, breite, riesenhafte Mann, in einem gründamastnen, mit rotem Taft gefütterten Schlafrock zur entgegengesetzten Türe herein; aber sein ungeheures Haupt war kahl und ohne Bedeckung. Dafür sollte jedoch sogleich gesorgt sein: denn der Bediente sprang mit einer großen Allongeperücke auf der Hand (die Locken fielen bis an den Ellenbogen) zu einer Seitentüre herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockner Gebärde. Gottsched, ohne den mindesten Verdruß zu äußern, hob mit der linken Hand die Perücke von dem Arme des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so daß dieser, wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt, sich zur Türe hinauswirbelte, worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu sitzen nötigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand durchführte.


Solange Schlosser in Leipzig blieb, speiste ich täglich mit ihm, und lernte eine sehr angenehme Tischgesellschaft kennen. Einige Livländer und der Sohn des Oberhofpredigers Hermann in Dresden, nachheriger Burgemeister zu Leipzig, und ihre Hofmeister, Hofrat Pfeil, Verfasser des »Grafen von P.«, eines Pendants zu Gellerts »schwedischer Gräfin«, Zachariä, ein Bruder des Dichters, und Krebel, Redakteur geographischer und genealogischer Handbücher, waren gesittete, heitre und freundliche Menschen. Zachariä der stillste; Pfeil ein feiner, beinahe etwas Diplomatisches an sich habender Mann, doch ohne Ziererei und mit großer Gutmütigkeit; Krebel ein wahrer Falstaff, groß, wohlbeleibt, blond, vorliegende, heitere, himmelhelle Augen, immer froh und guter Dinge. Diese Personen begegneten mir sämtlich, teils wegen Schlossers, teils auch wegen meiner eignen offenen Gutmütigkeit und Zutätigkeit, auf das allerartigste, und es brauchte kein großes Zureden, künftig mit ihnen den Tisch zu teilen. Ich blieb wirklich nach Schlossers Abreise bei ihnen, gab den Ludwigischen Tisch auf, und befand mich in dieser geschlossenen Gesellschaft um so wohler, als mir die Tochter vom Hause, ein gar hübsches nettes Mädchen, sehr wohl gefiel, und mir Gelegenheit ward, freundliche Blicke zu wechseln, ein Behagen, das ich seit dem Unfall mit Gretchen weder gesucht noch zufällig gefunden hatte. Die Stunden des Mittagsessens brachte ich mit meinen Freunden heiter und nützlich zu. Krebel hatte mich wirklich lieb und wußte mich mit Maßen zu necken und anzuregen; Pfeil hingegen bewies mir eine ernste Neigung, indem er mein Urteil über manches zu leiten und zu bestimmen suchte.


Bei diesem Umgange wurde ich durch Gespräche, durch Beispiele und durch eignes Nachdenken gewahr, daß der erste Schritt, um aus der wäßrigen, weitschweifigen, nullen Epoche sich herauszureiten, nur durch Bestimmtheit, Präzision und Kürze getan werden könne. Bei dem bisherigen Stil konnte man das Gemeine nicht vom Besseren unterscheiden, weil alles unter einander ins Flache gezogen wird. Schon hatten Schriftsteller diesem breiten Unheil zu entgehen gesucht, und es gelang ihnen mehr oder weniger. Haller und Ramler waren von Natur zum Gedrängten geneigt; Lessing und Wieland sind durch Reflexion dazu geführt worden. Der erste wurde nach und nach ganz epigrammatisch in seinen Gedichten, knapp in der »Minna«, lakonisch in »Emilia Galotti«, später kehrte er erst zu einer heiteren Naivetät zurück, die ihn so wohl kleidet im »Nathan«. Wieland, der noch im »Agathon«, »Don Sylvio«, den »Komischen Erzählungen« mitunter prolix gewesen war, wird in»Musarion« und »Idris« auf eine wundersame Weise gefaßt und genau, mit großer Anmut. Klopstock, in den ersten Gesängen der »Messiade«, ist nicht ohne Weitschweifigkeit; in den Oden und anderen kleinen Gedichten erscheint er gedrängt, so auch in seinen Tragödien. Durch seinen Wettstreit mit den Alten, besonders dem Tacitus, sieht er sich immer mehr ins Enge genötigt, wodurch er zuletzt unverständlich und ungenießbar wird. Gerstenberg, ein schönes aber bizarres Talent, nimmt sich auch zusammen, sein Verdienst wird geschätzt, macht aber im ganzen wenig Freude. Gleim, weitschweifig, behaglich von Natur, wird kaum einmal konzis in den Kriegsliedern. Ramler ist eigentlich mehr Kritiker als Poet. Er fängt an, was Deutsche im Lyrischen geleistet, zu sammeln. Nun findet er, daß ihm kaum ein Gedicht völlig genug tut; er muß auslassen, redigieren, verändern, damit die Dinge nur einige Gestalt bekommen. Hierdurch macht er sich fast so viel Feinde, als es Dichter und Liebhaber gibt; da sich jeder eigentlich nur an seinen Mängeln wiedererkennt, und das Publikum sich eher für ein fehlerhaftes Individuelle interessiert als für das, was nach einer allgemeinen Geschmacksregel hervorgebracht oder verbessert wird. Die Rhythmik lag damals noch in der Wiege, und niemand wußte ein Mittel, ihre Kindheit zu verkürzen. Die poetische Prosa nahm überhand. Geßner und Klopstock erregten manche Nachahmer; andere wieder forderten doch ein Silbenmaß und übersetzten diese Prose in faßliche Rhythmen. Aber auch diese machten es niemand zu Dank: denn sie mußten auslassen und zusetzen, und das prosaische Original galt immer für das Bessere. Je mehr aber bei allem diesem das Gedrungene gesucht wird, desto mehr wird Beurteilung möglich, weil das Bedeutende, enger zusammengebracht, endlich eine sichere Vergleichung zuläßt. Es ergab sich auch zugleich, daß mehrere Arten von wahrhaft poetischen Formen entstanden: denn indem man von einem jeden Gegenstande, den man nachbilden wollte, nur das Notwendige darzustellen suchte, so mußte man einem jeden Gerechtigkeit widerfahren lassen, und auf diese Weise, ob es gleich niemand mit Bewußtsein tat, vermannigfaltigten sich die Darstellungsweisen, unter welchen es freilich auch fratzenhafte gab, und mancher Versuch unglücklich ablief. Ganz ohne Frage besaß Wieland unter allen das schönste Naturell. Er hatte sich früh in jenen ideellen Regionen ausgebildet, wo die Jugend so gern verweilt; da ihm aber diese durch das, was man Erfahrung nennt, durch Begegnisse an Welt und Weibern verleidet wurden, so warf er sich auf die Seite des Wirklichen, und gefiel sich und andern im Widerstreit beider Welten, wo sich zwischen Scherz und Ernst, im leichten Gefecht, sein Talent am allerschönsten zeigte. Wie manche seiner glänzenden Produktionen fallen in die Zeit meiner akademischen Jahre. »Musarion« wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch des Ortes und der Stelle erinnern, wo ich den ersten Aushängebogen zu Gesicht bekam, welchen mir Oeser mitteilte. Hier war es, wo ich das Antike lebendig und neu wieder zu sehen glaubte. Alles, was in Wielands Genie plastisch ist, zeigte sich hier aufs vollkommenste, und da jener zur unglücklichen Nüchternheit verdammte Phanias-Timon sich zuletzt wieder mit seinem Mädchen und der Welt versöhnt, so mag man die menschenfeindliche Epoche wohl auch mit ihm durchleben. Übrigens gab man diesen Werken sehr gern einen heiteren Widerwillen gegen erhöhte Gesinnungen zu, welche, bei leicht verfehlter Anwendung aufs Leben, öfters der Schwärmerei verdächtig werden. Man verzieh dem Autor, wenn er das, was man für wahr und ehrwürdig hielt, mit Spott verfolgte, um so eher, als er dadurch zu erkennen gab, daß es ihm selbst immerfort zu schaffen mache.


Wie kümmerlich die Kritik solchen Arbeiten damals entgegen kam, läßt sich aus den ersten Bänden der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« ersehen. Der»Komischen Erzählungen« geschieht ehrenvolle Erwähnung; aber hier ist keine Spur von Einsicht in den Charakter der Dichtart selbst. Der Rezensent hatte seinen Geschmack, wie damals alle, an Beispielen gebildet. Hier ist nicht bedacht, daß man vor allen Dingen bei Beurteilung solcher parodistischen Werke den originalen, edlen, schönen Gegenstand vor Augen haben müsse, um zu sehen, ob der Parodist ihm wirklich eine schwache und komische Seite abgewonnen, ob er ihm etwas geborgt, oder, unter dem Schein einer solchen Nachahmung, vielleicht gar selbst eine treffliche Erfindung geliefert? Von allem dem ahndet man nichts, sondern die Gedichte werden stellenweit gelobt und getadelt. Der Rezensent hat, wie er selbst gesteht, so viel, was ihm gefallen, angestrichen, daß er nicht einmal im Druck alles anführen kann. Kommt man nun gar der höchst verdienstlichen Übersetzung Shakespeares mit dem Ausruf entgegen: »Von Rechtswegen sollte man einen Mann wie Shakespeare gar nicht übersetzt haben«, so begreift sich ohne weiteres, wie unendlich weit die »Allgemeine deutsche Bibliothek« in Sachen des Geschmacks zurück war, und daß junge Leute, von wahrem Gefühl belebt, sich nach anderen Leitsternen umzusehen hatten.


Den Stoff, der auf diese Weise mehr oder weniger die Form bestimmte, suchten die Deutschen überall auf. Sie hatten wenig oder keine Nationalgegenstände behandelt. Schlegels »Herrmann« deutete nur darauf hin. Die idyllische Tendenz verbreitete sich unendlich. Das Charakterlose der Geßnerschen, bei großer Anmut und kindlicher Herzlichkeit, machte jeden glauben, daß er etwas Ähnliches vermöge. Ebenso bloß aus dem Allgemeinmenschlichen gegriffen waren jene Gedichte, die ein Fremdnationelles darstellen sollten, z.B. die »Jüdischen Schäfergedichte«, überhaupt die patriarchalischen und was sich sonst auf das Alte Testament bezog. Bodmers »Noachide« war ein vollkommenes Symbol der um den deutschen Parnaß angeschwollenen Wasserflut, die sich nur langsam verlief. Das Anakreontische Gegängel ließ gleichfalls unzählige mittelmäßige Köpfe im Breiten herumschwanken. Die Präzision des Horaz nötigte die Deutschen, doch nur langsam, sich ihm gleichzustellen. Komische Heldengedichte, meist nach dem Vorbild von Popes »Lockenraub«, dienten auch nicht, eine bessere Zeit herbeizuführen.


Noch muß ich hier eines Wahnes gedenken, der so ernsthaft wirkte, als er lächerlich sein muß, wenn man ihn näher beleuchtet. Die Deutschen hatten nunmehr genugsam historische Kenntnis von allen Dichtarten, worin sich die verschiedenen Nationen ausgezeichnet hatten. Von Gottsched war schon dieses Fächerwerk, welches eigentlich den inneren Begriff von Poesie zu Grunde richtet, in seiner »Kritischen Dichtkunst« ziemlich vollständig zusammengezimmert und zugleich nachgewiesen, daß auch schon deutsche Dichter mit vortrefflichen Werken alle Rubriken auszufüllen gewußt. Und so ging es denn immer fort. Jedes Jahr wurde die Kollektion ansehnlicher, aber auch jedes Jahr vertrieb eine Arbeit die andere aus dem Lokal, in dem sie bisher geglänzt hatte. Wir besaßen nunmehr, wo nicht Homere, doch Virgile und Miltone, wo nicht einen Pindar, doch einen Horaz; an Theokriten war kein Mangel; und so wiegte man sich mit Vergleichungen nach außen, indem die Masse poetischer Werke immer wuchs, damit auch endlich eine Vergleichung nach innen stattfinden konnte.


Stand es nun mit den Sachen des Geschmacks auf einem sehr schwankenden Fuße, so konnte man jener Epoche auf keine Weise streitig machen, daß innerhalb des protestantischen Teils von Deutschland und der Schweiz sich dasjenige gar lebhaft zu regen anfing, was man Menschenverstand zu nennen pflegt. Die Schulphilosophie, welche jederzeit das Verdienst hat, alles dasjenige, wonach der Mensch nur fragen kann, nach angenommenen Grundsätzen, in einer beliebten Ordnung, unter bestimmten Rubriken vorzutragen, hatte sich durch das oft Dunkle und Unnützscheinende ihres Inhalts, durch unzeitige Anwendung einer an sich respektabeln Methode und durch die allzu große Verbreitung über so viele Gegenstände der Menge fremd, ungenießbar und endlich entbehrlich gemacht. Mancher gelangte zur Überzeugung, daß ihm wohl die Natur so viel guten und geraden Sinn zur Ausstattung gegönnt habe, als er ungefähr bedürfe, sich von den Gegenständen einen so deutlichen Begriff zu machen, daß er mit ihnen fertig werden, und zu seinem und anderer Nutzen damit gebaren könne, ohne gerade sich um das Allgemeinste mühsam zu bekümmern und zu forschen, wie doch die entferntesten Dinge, die uns nicht sonderlich berühren, wohl zusammenhangen möchten? Man machte den Versuch, man tat die Augen auf, sah gerade vor sich hin, war aufmerksam, fleißig, tätig, und glaubte, wenn man in seinem Kreis richtig urteile und handle, sich auch wohl herausnehmen zu dürfen, über anderes, was entfernter lag, mitzusprechen. Nach einer solchen Vorstellung war nun jeder berechtiget, nicht allein zu philosophieren, sondern sich auch nach und nach für einen Philosophen zu halten. Die Philosophie war also ein mehr oder weniger gesunder und geübter Menschenverstand, der es wagte, ins Allgemeine zu gehen und über innere und äußere Erfahrungen abzusprechen. Ein heller Scharfsinn und eine besondere Mäßigkeit, indem man durchaus die Mittelstraße und Billigkeit gegen alle Meinungen für das Rechte hielt, verschaffte solchen Schriften und mündlichen Äußerungen Ansehen und Zutrauen, und so fanden sich zuletzt Philosophen in allen Fakultäten, ja in allen Ständen und Hantierungen.


Auf diesem Wege mußten die Theologen sich zu der sogenannten natürlichen Religion hinneigen, und wenn zur Sprache kam, inwiefern das Licht der Natur uns in der Erkenntnis Gottes, der Verbesserung und Veredlung unserer selbst zu fördern hinreichend sei, so wagte man gewöhnlich sich zu dessen Gunsten ohne viel Bedenken zu entscheiden. Aus jenem Mäßigkeitsprinzip gab man sodann sämtlichen positiven Religionen gleiche Rechte, wodurch denn eine mit der andern gleichgültig und unsicher wurde. Übrigens ließ man denn doch aber alles bestehen, und weil die Bibel so voller Gehalt ist, daß sie mehr als jedes andere Buch Stoff zum Nachdenken und Gelegenheit zu Betrachtungen über die menschlichen Dinge darbietet, so konnte sie durchaus nach wie vor bei allen Kanzelreden und sonstigen religiosen Verhandlungen zum Grunde gelegt werden.
                                                                     





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