> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 2.Teil/7.Buch S 20

2015-04-10

J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 2.Teil/7.Buch S 20




Zweiter Teil

Siebentes Buch Seite 20

Allein diesem Werke stand, so wie den sämtlichen Profanskribenten, noch ein eigenes Schicksal bevor, welches im Laufe der Zeit nicht abzuwenden war. Man hatte nämlich bisher auf Treu und Glauben angenommen, daß dieses Buch der Bücher in einem Geiste verfaßt, ja daß es von dem göttlichen Geiste eingehaucht und gleichsam diktiert sei. Doch waren schon längst von Gläubigen und Ungläubigen die Ungleichheiten der verschiedenen Teile desselben bald gerügt, bald verteidigt worden. Engländer, Franzosen, Deutsche hatten die Bibel mit mehr oder weniger Heftigkeit, Scharfsinn, Frechheit, Mutwillen angegriffen, und ebenso war sie wieder von ernsthaften, wohldenkenden Menschen einer jeden Nation in Schutz genommen worden. Ich für meine Person hatte sie lieb und wert: denn fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig, und die Begebenheiten, die Lehren, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte sich tief bei mir eingedrückt und war auf eine oder die andere Weise wirksam gewesen. Mir missfielen daher die ungerechten, spöttlichen und verdrehenden Angriffe; doch war man damals schon so weit, daß man teils als einen Hauptverteidigungsgrund vieler Stellen sehr willig annahm, Gott habe sich nach der Denkweise und Fassungskraft der Menschen gerichtet, ja, die vom Geiste Getriebenen hätten doch deswegen nicht ihren Charakter, ihre Individualität verleugnen können, und Amos als Kuhhirte führe nicht die Sprache Jesaias, welcher ein Prinz solle gewesen sein.


Aus solchen Gesinnungen und Überzeugungen entwickelte sich, besonders bei immer wachsenden Sprachkenntnissen, gar natürlich jene Art des Studiums, daß man die orientalischen Lokalitäten, Nationalitäten, Naturprodukte und Erscheinungen genauer zu studieren und sich auf diese Weise jene alte Zeit zu vergegenwärtigen suchte. Michaelis legte die ganze Gewalt seines Talents und seiner Kenntnisse auf diese Seite. Reisebeschreibungen wurden ein kräftiges Hülfsmittel zu Erklärung der Heiligen Schriften, und neuere Reisende, mit vielen Fragen ausgerüstet, sollten durch Beantwortung derselben für die Propheten und Apostel zeugen.


Indessen aber man von allen Seiten bemüht war, die Heiligen Schriften zu einem natürlichen Anschauen heranzuführen, und die eigentliche Denk- und Vorstellungsweise derselben allgemeiner faßlich zu machen, damit durch diese historisch-kritische Ansicht mancher Einwurf beseitigt, manches Anstößige getilgt und jede schale Spötterei unwirksam gemacht würde: so trat in einigen Männern gerade die entgegengesetzte Sinnesart hervor, indem solche die dunkelsten, geheimnisvollsten Schriften zum Gegenstand ihrer Betrachtungen wählten, und solche aus sich selbst durch Konjekturen, Rechnungen und andere geistreiche und seltsame Kombinationen zwar nicht aufhellen, aber doch bekräftigen und, insofern sie Weissagungen enthielten, durch den Erfolg begründen und dadurch einen Glauben an das Nächstzuerwartende rechtfertigen wollten.


Der ehrwürdige Bengel hatte seinen Bemühungen um die Offenbarung Johannis dadurch einen entschiedenen Eingang verschafft, daß er als ein verständiger, rechtschaffener, gottesfürchtiger, als ein Mann ohne Tadel bekannt war. Tiefe Gemüter sind genötigt, in der Vergangenheit so wie in der Zukunft zu leben. Das gewöhnliche Treiben der Welt kann ihnen von keiner Bedeutung sein, wenn sie nicht, in dem Verlauf der Zeiten bis zur Gegenwart, enthüllte Prophezeiungen, und in der nächsten wie in der fernsten Zukunft verhüllte Weissagungen verehren. Hierdurch entspringt ein Zusammenhang, der in der Geschichte vermißt wird, die uns nur ein zufälliges Hin- und Widerschwanken in einem notwendig geschlossenen Kreise zu überliefern scheint. Doktor Crusius gehörte zu denen, welchen der prophetische Teil der Heiligen Schriften am meisten zusagte, indem er die zwei entgegengesetzten Eigenschaften des menschlichen Wesens zugleich in Tätigkeit setzt, das Gemüt und den Scharfsinn. Dieser Lehre hatten sich viele Jünglinge gewidmet, und bildeten schon eine ansehnliche Masse, die um desto mehr in die Augen fiel, als Ernesti mit den Seinigen das Dunkel, in welchem jene sich gefielen, nicht aufzuhellen, sondern völlig zu vertreiben drohte. Daraus entstanden Händel, Haß und Verfolgung und manches Unannehmliche. Ich hielt mich zur klaren Partei und suchte mir ihre Grundsätze und Vorteile zuzueignen, ob ich mir gleich zu ahnden erlaubte, daß durch diese höchst löbliche, verständige Auslegungsweise zuletzt der poetische Gehalt jener Schriften mit dem prophetischen verloren gehen müsse.


Näher aber lag denen, welche sich mit deutscher Literatur und schönen Wissenschaften abgaben, die Bemühung solcher Männer, die, wie Jerusalem, Zollikofer, Spalding, in Predigten und Abhandlungen, durch einen guten und reinen Stil, der Religion und der ihr so nah verwandten Sittenlehre, auch bei Personen von einem gewissen Sinn und Geschmack, Beifall und Anhänglichkeit zu erwerben suchten. Eine gefällige Schreibart fing an, durchaus nötig zu werden, und weil eine solche vor allen Dingen faßlich sein muß, so standen von vielen Seiten Schriftsteller auf, welche von ihren Studien, ihrem Metier klar, deutlich, eindringlich, und sowohl für die Kenner als für die Menge zu schreiben unternahmen. Nach dem Vorgange eines Ausländers, Tissot, fingen nunmehr auch die Ärzte mit Eifer an, auf die allgemeine Bildung zu wirken. Sehr großen Einfluß hatten Haller, Unzer, Zimmermann, und was man im einzelnen gegen sie, besonders gegen den letzten, auch sagen mag, sie waren zu ihrer Zeit sehr wirksam. Und davon sollte in der Geschichte, vorzüglich aber in der Biographie, die Rede sein: denn nicht insofern der Mensch etwas zurückläßt, sondern insofern er wirkt und genießt und andere zu wirken und zu genießen anregt, bleibt er von Bedeutung.


Die Rechtsgelehrten, von Jugend auf gewöhnt aneinen abstrusen Stil, welcher sich in allen Expeditionen, von der Kanzelei des unmittelbaren Ritters bis auf den Reichstag zu Regensburg, auf die barockste Weise erhielt, konnten sich nicht leicht zu einer gewissen Freiheit erheben, um so weniger, als die Gegenstände, welche sie zu behandeln hatten, mit der äußeren Form und folglich auch mit dem Stil aufs genaueste zusammenhingen. Doch hatte der jüngere von Moser sich schon als ein freier und eigentümlicher Schriftsteller bewiesen und Pütter durch die Klarheit seines Vortrags auch Klarheit in seinen Gegenstand und den Stil gebracht, womit er behandelt werden sollte. Alles, was aus seiner Schule hervorging, zeichnete sich dadurch aus. Und nun fanden die Philosophen selbst sich genötigt, um populär zu sein, auch deutlich und faßlich zu schreiben. Mendelsohn, Garve traten auf und erregten allgemeine Teilnahme und Bewunderung.


Mit der Bildung der deutschen Sprache und des Stils in jedem Fache wuchs auch die Urteilsfähigkeit, und wir bewundern in jener Zeit Rezensionen von Werken über religiose und sittliche Gegenstände, sowie über ärztliche; wenn wir dagegen bemerken, daß die Beurteilungen von Gedichten und was sich sonst auf schöne Literatur beziehen mag, wo nicht erbärmlich, doch wenigstens sehr schwach befunden werden. Dieses gilt sogar von den »Literaturbriefen«und von der »Allgemeinen deutschen Bibliothek«, wie von der »Bibliothek der schönen Wissenschaften«, wovon man gar leicht bedeutende Beispiele anführen könnte.


Dieses alles mochte jedoch so bunt durcheinander gehen, als es wollte, so blieb einem jeden, der etwas aus sich zu produzieren gedachte, der nicht seinen Vorgängern die Worte und Phrasen nur aus dem Munde nehmen wollte, nichts weiter übrig, als sich früh und spät nach einem Stoffe umzusehen, den er zubenutzen gedächte. Auch hier wurden wir sehr in der Irre herumgeführt. Man trug sich mit einem Worte von Kleist, das wir oft genug hören mußten. Er hatte nämlich gegen diejenigen, welche ihn wegen seiner öftern einsamen Spaziergänge beriefen, scherzhaft, geistreich und wahrhaft geantwortet: er sei dabei nicht müßig, er gehe auf die Bilderjagd. Einem Edelmann und Soldaten ziemte dies Gleichnis wohl, der sich dadurch Männern seines Standes gegenüberstellte, die mit der Flinte im Arm auf die Hasen und Hühnerjagd, so oft sich nur Gelegenheit zeigte, aus zugehen nicht versäumten. Wir finden daher in Kleistens Gedichten von solchen einzelnen, glücklich aufgehaschten, obgleich nicht immer glücklich verarbeiteten Bildern gar manches, was uns freundlich an die Natur erinnert. Nun aber ermahnte man uns auch ganz ernstlich, auf die Bilderjagd auszugehen, die uns denn doch zuletzt nicht ganz ohne Frucht ließ, obgleich Apels Garten, die Kuchengärten, das Rosental, Gohlis, Raschwitz und Connewitz das wunderlichste Revier sein mochte, um poetisches Wildbret darin aufzusuchen. Und doch ward ich aus jenem Anlaß öfters bewogen, meinen Spaziergang einsam anzustellen, und weil weder von schönen, noch erhabenen Gegenständen dem Beschauer viel entgegentrat, und in dem wirklich herrlichen Rosentale zur besten Jahrszeit die Mücken keinen zarten Gedanken aufkommen ließen: so ward ich, bei unermüdet fortgesetzter Bemühung, auf das Kleinleben der Natur (ich möchte dieses Wort nach der Analogie von Stilleben gebrauchen) höchst aufmerksam, und weil die zierlichen Begebenheiten, die man in diesem Kreise gewahr wird, an und für sich wenig vorstellen, so gewöhnte ich mich, in ihnen eine Bedeutung zu sehen, die sich bald gegen die symbolische, bald gegen die allegorische Seite hinneigte, je nachdem Anschauung, Gefühl oder Reflexion das Übergewicht behielt. Ein Ereignis, statt vieler, gedenke ich zu erzählen.


Ich war, nach Menschenweise, in meinen Namen verliebt und schrieb ihn, wie junge und ungebildete Leute zu tun pflegen, überall an. Einst hatte ich ihn auch sehr schön und genau in die glatte Rinde eines Lindenbaums von mäßigem Alter geschnitten. Den Herbst darauf, als meine Neigung zu Annetten in ihrer besten Blüte war, gab ich mir die Mühe, den ihrigen oben darüber zu schneiden. Indessen hatte ich gegen Ende des Winters, als ein launischer Liebender, manche Gelegenheit vom Zaune gebrochen, um sie zu quälen und ihr Verdruß zu machen: Frühjahrs besuchte ich zufällig die Stelle, und der Saft, der mächtig in die Bäume trat, war durch die Einschnitte, die ihren Namen bezeichneten, und die noch nicht verharscht waren, hervorgequollen und benetzte mit unschuldigen Pflanzentränen die schon hart gewordenen Züge des meinigen. Sie also hier über mich weinen zusehen, der ich oft ihre Tränen durch meine Unarten hervorgerufen hatte, setzte mich in Bestürzung. In Erinnerung meines Unrechts und ihrer Liebe kamen mir selbst die Tränen in die Augen, ich eilte, ihr alles doppelt und dreifach abzubitten, verwandelte dies Ereignis in eine Idylle, die ich niemals ohne Neigung lesen und ohne Rührung anderen vortragen konnte.


Indem ich nun, als ein Schäfer an der Pleiße, mich in solche zarte Gegenstände kindlich genug vertiefte, und immer nur solche wählte, die ich geschwind in meinen Busen zurückführen konnte, so war für deutsche Dichter von einer größeren und wichtigeren Seite her längst gesorgt gewesen.


Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Taten des Siebenjährigen Kriegs in die deutsche Poesie. Jede Nationaldichtung muß schal sein oder schal werden, die nicht auf dem Menschlich-Ersten ruht, auf den Ereignissen der Völker und ihrer Hirten, wenn beide für einen Mann stehe. Könige sind darzustellen in Krieg und Gefahr, wo sie eben dadurch als die Ersten erscheinen, weil sie das Schicksal des Allerletzten bestimmen und teilen, und dadurch viel interessanter werden als die Götter selbst, die, wenn sie Schicksale bestimmt haben, sich der Teilnahme derselben entziehen. In diesem Sinne muß jede Nation, wenn sie für irgend etwas gelten will, eine Epopöe besitzen, wozu nicht gerade die Form des epischen Gedichts nötig ist.


Die »Kriegslieder«, von Gleim angestimmt, behaupten deswegen einen so hohen Rang unter den deutschen Gedichten, weil sie mit und in der Tat entsprungen sind, und noch überdies, weil an ihnen die glückliche Form, als hätte sie ein Mitstreitender in den höchsten Augenblicken hervorgebracht, uns die vollkommenste Wirksamkeit empfinden läßt.


Ramler singt auf eine andere, höchst würdige Weise die Taten seines Königs. Alle seine Gedichte sind gehaltvoll, beschäftigen uns mit großen, herzerhebenden Gegenständen und behaupten schon dadurch einen unzerstörlichen Wert. Denn der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das Ende der Kunst. Man wird zwar nicht leugnen, daß das Genie, das ausgebildete Kunsttalent, durch Behandlung aus allem alles machen und den widerspenstigsten Stoff bezwingen könne. Genau besehen, entsteht aber alsdann immer mehr ein Kunststück als ein Kunstwerk, welches auf einem würdigen Gegenstande ruhen soll, damit uns zuletzt die Behandlung, durch Geschick, Mühe und Fleiß, die Würde des Stoffes nur desto glücklicher und herrlicher entgegenbringe.


Die Preußen und mit ihnen das protestantische Deutschland gewannen also für ihre Literatur einen Schatz, welcher der Gegenpartei fehlte und dessen Mangel sie durch keine nachherige Bemühung hat ersetzen können. An dem großen Begriff, den die preußischen Schriftsteller von ihrem König hegen durften, bauten sie sich erst heran, und um desto eifriger, als derjenige, in dessen Namen sie alles taten, ein für allemal nichts von ihnen wissen wollte. Schon früher war durch die französische Kolonie, nachher durch die Vorliebe des Königs für die Bildung dieser Nation und für ihre Finanzanstalten eine Masse französischer Kultur nach Preußen gekommen, welche den Deutschen höchst förderlich ward, indem sie dadurch zu Widerspruch und Widerstreben aufgefordert wurden; ebenso war die Abneigung Friedrichs gegen das Deutsche für die Bildung des Literarwesens ein Glück. Man tat alles, um sich von dem König bemerken zu machen, nicht etwa, um von ihm geachtet, sondern nur beachtet zu werden; aber man tat's auf deutsche Weise, nach innerer Überzeugung, man tat, was man für recht erkannte, und wünschte und wollte, daß der König dieses deutsche Rechte anerkennen und schätzen solle. Dies geschah nicht und konnte nicht geschehen: denn wie kann man von einem König, der geistig leben und genießen will, verlangen, daß er seine Jahre verliere, um das, was er für barbarisch hält, nur allzu spät entwickelt und genießbar zusehen? In Handwerks- und Fabriksachen mochte er wohl sich, besonders aber seinem Volke, statt fremder vortrefflicher Waren, sehr mäßige Surrogate aufnötigen; aber hier geht alles geschwinder zur Vollkommenheit, und es braucht kein Menschenleben, um solche Dinge zur Reife zu bringen.


Eines Werks aber, der wahrsten Ausgeburt des Siebenjährigen Krieges, von vollkommenem norddeutschem Nationalgehalt, muß ich hier vor allen ehrenvoll erwähnen; es ist die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion, von spezifisch temporärem Gehalt, die deswegen auch eine nie zu berechnende Wirkung tat: »Minna von Barnhelm«. Lessing, der, im Gegensatze von Klopstock und Gleim, die persönliche Würde gern wegwarf, weil er sich zutraute, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können, gefiel sich in einem zerstreuten Wirtshaus- und Weltleben, da er gegen sein mächtig arbeitendes Innere stets ein gewaltiges Gegengewicht brauchte, und so hatte er sich auch in das Gefolge des Generals Tauentzien begeben. Man erkennt leicht, wie genanntes Stück zwischen Krieg und Frieden, Haß und Neigung erzeugt ist. Diese Produktion war es, die den Blick in eine so höhere, bedeutendere Welt aus der literarischen und bürgerlichen, in welcher sich die Dichtkunst bisher bewegt hatte, glücklich eröffnete.


Die gehässige Spannung, in welcher Preußen und Sachsen sich während dieses Kriegs gegen einander befanden, konnte durch die Beendigung desselben nicht aufgehoben werden. Der Sachse fühlte nun erst recht schmerzlich die Wunden, die ihm der überstolz gewordene Preuße geschlagen hatte Durch den politischen Frieden konnte der Friede zwischen den Gemütern nicht sogleich hergestellt werden. Dieses aber sollte gedachtes Schauspiel im Bilde bewirken. Die Anmut und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen überwindet den Wert, die Würde, den Starrsinn der Preußen, und sowohl an den Hauptpersonen als den Subalternen wird eine glückliche Vereinigung bizarrer und widerstrebender Elemente kunstgemäß dargestellt.


Habe ich durch diese kursorischen und desultorischen Bemerkungen über deutsche Literatur meine Leser in einige Verwirrung gesetzt, so ist es mir geglückt, eine Vorstellung von jenem chaotischen Zustande zu geben, in welchem sich mein armes Gehirn befand, als, im Konflikt zweier für das literarische Vaterland so bedeutender Epochen, so viel Neues auf mich eindrängte, ehe ich mich mit dem Alten hatte abfinden können, so viel Altes sein Recht noch über mich gelten machte, da ich schon Ursache zu haben glaubte, ihm völlig entsagen zu dürfen. Welchen Weg ich einschlug, mich aus dieser Not, wenn auch nur Schritt vor Schritt, zu retten, will ich gegenwärtig möglichst zu überliefern suchen.


Die weitschweifige Periode, in welche meine Jugend gefallen war, hatte ich treufleißig, in Gesellschaft so vieler würdigen Männer, durchgearbeitet. Die mehreren Quartbände Manuskript, die ich meinem Vater zurückließ, konnten zum genügsamen Zeugnisse dienen, und welche Masse von Versuchen, Entwürfen, bis zur Hälfte ausgeführten Vorsätzen war mehr aus Mißmut als aus Überzeugung in Rauch aufgegangen! Nun lernte ich durch Unterredung überhaupt, durch Lehre, durch so manche widerstreitende Meinung, besonders aber durch meinen Tischgenossen, den Hofrat Pfeil, das Bedeutende des Stoffs und das Konzise der Behandlung mehr und mehr schätzen, ohne mir jedoch klar machen zu können, wo jenes zusuchen und wie dieses zu erreichen sei. Denn bei der großen Beschränktheit meines Zustandes, bei der Gleichgültigkeit der Gesellen, dem Zurückhalten der Lehrer, der Abgesondertheit gebildeter Einwohner, bei ganz unbedeutenden Naturgegenständen war ich genötigt, alles in mir selbst zu suchen. Verlangte ich nun zu meinen Gedichten eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion, so mußte ich in meinen Busen greifen; forderte ich zu poetischer Darstellung eine unmittelbare Anschauung des Gegenstandes, der Begebenheit, so durfte ich nicht aus dem Kreise heraustreten, der mich zu berühren, mir ein Interesse einzuflößen geeignet war. In diesem Sinne schrieb ich zuerst gewisse kleine Gedichte in Liederform oder freierem Silbenmaß; sie entspringen aus Reflexion, handeln vom Vergangenen und nehmen meist eine epigrammatische Wendung.


Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.


Meine frühere Neigung zu Gretchen hatte ich nun auf ein Ännchen übergetragen, von der ich nicht mehr zu sagen wüßte, als daß sie jung, hübsch, munter, liebevoll und so angenehm war, daß sie wohl verdiente, in dem Schrein des Herzens eine Zeitlang als eine kleine Heilige aufgestellt zu werden, um ihr jede Verehrung zu widmen, welche zu erteilen oft mehr Behagen erregt als zu empfangen. Ich sah sie täglich ohne Hindernisse, sie half die Speisen bereiten, die ich genoß, sie brachte mir wenigstens abends den Wein, den ich trank, und schon unsere mittägige abgeschlossene Tischgesellschaft war Bürge, daß das kleine, von wenig Gästen außer der Messe besuchte Haus seinen guten Ruf wohl verdiente. Es fand sich zu mancherlei Unterhaltung Gelegenheit und Lust. Da sie sich aber aus dem Hause wenig entfernen konnte noch durfte, so wurde denn doch der Zeitvertreib etwas mager. Wir sangen die Lieder von Zachariä, spielten den»Herzog Michel« von Krüger, wobei ein zusammengeknüpftes Schnupftuch die Stelle der Nachtigall vertreten mußte, und so ging es eine Zeitlang noch ganz leidlich. Weil aber dergleichen Verhältnisse, je unschuldiger sie sind, desto weniger Mannigfaltigkeit auf die Dauer gewähren, so ward ich von jener bösen Sucht befallen, die uns verleitet, aus der Quälerei der Geliebten eine Unterhaltung zu schaffen und die Ergebenheit eines Mädchens mit willkürlichen und tyrannischen Grillen zu beherrschen. Die böse Laune über das Mißlingen meiner poetischen Versuche, über die anscheinende Unmöglichkeit, hierüber ins klare zukommen, und über alles, was mich hie und da sonst kneipen mochte, glaubte ich an ihr auslassen zu dürfen, weil sie mich wirklich von Herzen liebte und, was sie nur immer konnte, mir zu Gefallen tat. Durch ungegründete und abgeschmackte Eifersüchteleien verdarb ich mir und ihr die schönsten Tage. Sie ertrug es eine Zeitlang mit unglaublicher Geduld, die ich grausam genug war aufs Äußerste zu treiben. Allein zu meiner Beschämung und Verzweiflung mußte ich endlich bemerken, daß sich ihr Gemüt von mir entfernt habe, und daß ich nun wohl zu den Tollheiten berechtigt sein möchte, die ich mir ohne Not und Ursache erlaubt hatte. Es gab auch schreckliche Szenen unter uns, bei welchen ich nichts gewann; und nun fühlte ich erst, daß ich sie wirklich liebte und daß ich sie nicht entbehren könne. Meine Leidenschaft wuchs und nahm alle Formen an, deren sie unter solchen Umständen fähig ist; ja zuletzt trat ich in die bisherige Rolle des Mädchens. Alles mögliche suchte ich hervor, um ihr gefällig zu sein, ihr sogar durch andere Freude zu verschaffen: denn ich konnte mir die Hoffnung, sie wieder zu gewinnen, nicht versagen. Allein es war zu spät! ich hatte sie wirklich verloren, und die Tollheit, mit der ich meinen Fehler an mir selbst rächte, indem ich auf mancherlei unsinnige Weise in meine physische Natur stürmte, um der sittlichen etwas zu Leide zu tun, hat sehr viel zu den körperlichen Übeln beigetragen, unter denen ich einige der besten Jahre meines Lebens verlor; ja, ich wäre vielleicht an diesem Verlust völlig zugrunde gegangen, hätte sich nicht hier das poetische Talent mit seinen Heilkräften besonders hülfreich erwiesen.


Schon früher hatte ich in manchen Intervallen meine Unart deutlich genug wahrgenommen. Das arme Kind dauerte mich wirklich, wenn ich sie so ganz ohne Not von mir verletzt sah. Ich stellte mir ihre Lage, die meinige und dagegen den zufriedenen Zustand eines anderen Paares aus unserer Gesellschaft so oft und so umständlich vor, daß ich endlich nicht lassen konnte, diese Situation, zu einer quälenden und belehrenden Buße, dramatisch zu behandeln. Daraus entsprang die älteste meiner überbliebenen dramatischen Arbeiten, das kleine Stück »Die Laune des Verliebten«, an dessen unschuldigem Wesen man zugleich den Drang einer siedenden Leidenschaft gewahr wird. Allein mich hatte eine tiefe, bedeutende, drangvolle Welt schon früher angesprochen. Bei meiner Geschichte mit Gretchen und an den Folgen derselben hatte ich zeitig in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins. Die von herrlichen Häusern eingefaßten Straßen werden reinlich gehalten, und jedermann beträgt sich daselbst anständig genug; aber im Innern sieht es öfters um desto wüster aus, und ein glattes Äußere übertüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt, und eine desto schrecksichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichen Zustand hereinbricht. Wie viele Familien hatte ich nicht schon näher und ferner durch Banqueroute, Ehescheidungen, verführte Töchter, Morde, Hausdiebstähle, Vergiftungen entweder ins Verderben stürzen, oder auf dem Rande kümmerlich erhalten sehen, und hatte, so jung ich war, in solchen Fällen zu Rettung und Hülfe öfters die Hand geboten: denn da meine Offenheit Zutrauen erweckte, meine Verschwiegenheit erprobt war, meine Tätigkeit keine Opfer scheute und in den gefährlichsten Fällen am liebsten wirken mochte: so fand ich oft genug Gelegenheit, zu vermitteln, zu vertuschen, den Wetterstrahl abzuleiten, und was sonst nur alles geleistet werden kann; wobei es nicht fehlen konnte, daß ich sowohl an mir selbst, als durch andere zu manchen kränkenden und demütigenden Erfahrungen gelangen mußte. Um mir Luft zu verschaffen, entwarf ich mehrere Schauspiele und schrieb die Expositionen von den meisten. Da aber die Verwicklungen jederzeit ängstlich werden mußten, und fast alle diese Stücke mit einem tragischen Ende drohten, ließ ich eins nachdem anderen fallen. Die »Mitschuldigen« sind das einzige fertig gewordene, dessen heiteres und burleskes Wesen auf dem düsteren Familiengrunde als von etwas Bänglichem begleitet erscheint, so daß es beider Vorstellung im ganzen ängstiget, wenn es im einzelnen ergetzt. Die hart ausgesprochenen widergesetzlichen Handlungen verletzen das ästhetische und moralische Gefühl, und deswegen konnte das Stück auf dem deutschen Theater keinen Eingang gewinnen, obgleich die Nachahmungen desselben, welche sich fern von jenen Klippen gehalten, mit Beifall aufgenommen worden.


Beide genannte Stücke jedoch sind, ohne daß ich mir dessen bewußt gewesen wäre, in einem höheren Gesichtspunkt geschrieben. Sie deuten auf eine vorsichtige Duldung bei moralischer Zurechnung, und sprechen in etwas herben und derben Zügen jenes höchst christliche Wort spielend aus: Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein auf.


Über diesen Ernst, der meine ersten Stücke verdüsterte, beging ich den Fehler, sehr günstige Motive zu versäumen, welche ganz entschieden in meiner Natur lagen. Es entwickelte sich nämlich unter jenen ernsten, für einen jungen Menschen fürchterlichen Erfahrungen in mir ein verwegner Humor, der sich dem Augenblick überlegen fühlt, nicht allein keine Gefahr scheut, sondern sie vielmehr mutwillig herbeilockt. Der Grund davon lag in dem Übermute, in welchem sich das kräftige Alter so sehr gefällt, und der, wenn er sich possenhaft äußert, sowohl im Augenblick als in der Erinnerung viel Vergnügen macht. Diese Dinge sind so gewöhnlich, daß sie in dem Wörterbuche unserer jungen akademischen Freunde Suiten genannt werden, und daß man, wegen der nahen Verwandtschaft, ebenso gut Suiten reißen sagt als Possen reißen.


Solche humoristische Kühnheiten, mit Geist und Sinn auf das Theater gebracht, sind von der größten Wirkung. Sie unterscheiden sich von der Intrige dadurch, daß sie momentan sind, und daß ihr Zweck, wenn sie ja einen haben sollten, nicht in der Ferne liegen darf. Beaumarchais hat ihren ganzen Wert gefaßt, die Wirkungen seiner Figaros entspringen vorzüglich daher. Wenn nun solche gutmütige Schalks- und Halbschelmenstreiche zu edlen Zwecken, mit persönlicher Gefahr ausgeübt werden, so sind die daraus entspringenden Situationen, ästhetisch und moralisch betrachtet, für das Theater von dem größten Wert wie denn z.B. die Oper »Der Wasserträger« vielleicht das glücklichste Sujet behandelt, das wir je auf dem Theater gesehen haben.


Um die unendliche Langeweile des täglichen Lebens zu erheitern, übte ich unzählige solcher Streiche, teils ganz vergeblich, teils zu Zwecken meiner Freunde, denen ich gern gefällig war. Für mich selbst wüßte ich nicht, daß ich ein einzig Mal hiebei absichtlich gehandelt hätte, auch kam ich niemals darauf, ein Unterfangen dieser Art als einen Gegenstand für die Kunst zu betrachten; hätte ich aber solche Stoffe, die mir so nahe zur Hand lagen, ergriffen und ausgebildet, so wären meine ersten Arbeiten heiterer und brauchbarer gewesen. Einiges, was hierher gehört, kommt zwar später bei mir vor, aber einzeln und absichtlos.


Denn da uns das Herz immer näher liegt als der Geist, und uns dann zu schaffen macht, wenn dieser sich wohl zu helfen weiß, so waren mir die Angelegenheiten des Herzens immer als die wichtigsten erschienen. Ich ermüdete nicht über Flüchtigkeit der Neigungen, Wandelbarkeit des menschlichen Wesens, sittliche Sinnlichkeit und über alle das Hohe und Tiefe nachzudenken, dessen Verknüpfung in unserer Natur als das Rätsel des Menschenlebens betrachtet werden kann. Auch hier suchte ich das, was mich quälte, in einem Lied, einem Epigramm, in irgendeinem Reim loszuwerden, die, weil sie sich auf die eigensten Gefühle und auf die besondersten Umstände bezogen, kaum jemand anderes interessieren konnten als mich selbst.


Meine äußeren Verhältnisse hatten sich indessen nach Verlauf weniger Zeit gar sehr verändert. Madame Böhme war nach einer langen und traurigen Krankheit endlich gestorben; sie hatte mich zuletzt nicht mehr vor sich gelassen. Ihr Mann konnte nicht sonderlich mit mir zufrieden sein; ich schien ihm nicht fleißig genug und zu leichtsinnig. Besonders nahm er es mir sehr übel, als ihm verraten wurde, daß ich im deutschen Staatsrechte, anstatt gehörig nachzuschreiben, die darin aufgeführten Personen, als den Kammerrichter, die Präsidenten und Beisitzer, mit seltsamen Perücken an dem Rand meines Heftes abgebildet und durch diese Possen meine aufmerksamen Nachbarn zerstreut und zum Lachen gebracht hatte. Er lebte nach dem Verlust seiner Frau noch eingezogner als vorher, und ich vermied ihn zuletzt, um seinen Vorwürfen auszuweichen. Besonders aber war es ein Unglück, daß Gellert sich nicht der Gewalt bedienen wollte, die er über uns hätte ausüben können. Freilich hatte er nicht Zeit, den Beichtvater zu machen, und sich nach der Sinnesart und den Gebrechen eines jeden zu erkundigen; daher nahm er die Sache sehr im ganzen und glaubte uns mit den kirchlichen Anstalten zu bezwingen; deswegen er gewöhnlich, wenn er uns einmal vor sich ließ, mit gesenkten Köpfchen und der weinerlich angenehmen Stimme zu fragen pflegte, ob wir denn auch fleißig in die Kirche gingen, wer unser Beichtvater sei und ob wir das heilige Abendmahl genossen? Wenn wir nun bei diesem Examen schlecht bestanden, so wurden wir mit Wehklagen entlassen; wir waren mehr verdrießlich als erbaut, konnten aber doch nicht umhin, den Mann herzlich lieb zu haben.


Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht unterlassen, aus meiner früheren Jugend etwas nachzuholen, um anschaulich zu machen, wie die großen Angelegenheiten der kirchlichen Religion mit Folge und Zusammenhang behandelt werden müssen, wenn sie sich fruchtbar, wie man von ihr erwartet, beweisen soll. Der protestantische Gottesdienst hat zu wenig Fülle und Konsequenz, als daß er die Gemeinde zusammenhalten könnte; daher geschieht es leicht, daß Glieder sich von ihr absondern und entweder kleine Gemeinen bilden, oder, ohne kirchlichen Zusammenhang, nebeneinander geruhig ihr bürgerliches Wesen treiben. So klagte man schon vor geraumer Zeit, die Kirchengänger verminderten sich von Jahr zu Jahr und in eben dem Verhältnis die Personen, welche den Genuß des Nachtmahls verlangten. Was beides, besonders aber das letztere betrifft, liegt die Ursache sehr nah; doch wer wagt sie auszusprechen? Wir wollen es versuchen.


In sittlichen und religiosen Dingen, ebenso wohl als in physischen und bürgerlichen, mag der Mensch nicht gern etwas aus dem Stegreife tun; eine Folge, woraus Gewohnheit entspringt, ist ihm nötig; das, was er lieben und leisten soll, kann er sich nicht einzeln, nicht abgerissen denken, und um etwas gern zu wiederholen, muß es ihm nicht fremd geworden sein. Fehlt es dem protestantischen Kultus im ganzen an Fülle, so untersuche man das einzelne, und man wird finden, der Protestant hat zu wenig Sakramente, ja er hat nur eins, bei dem er sich tätig erweist, das Abendmahl: denn die Taufe sieht er nur an anderen vollbringen, und es wird ihm nicht wohl dabei. Die Sakramente sind das Höchste der Religion, das sinnliche Symbol einer außerordentlichen göttlichen Gunst und Gnade. In dem Abendmahle sollen die irdischen Lippen ein göttliches Wesen verkörpert empfangen und unter der Form irdischer Nahrung einer himmlischen teilhaftig werden. Dieser Sinn ist in allen christlichen Kirchen ebenderselbe, es werde nun das Sakrament mit mehr oder weniger Ergebung in das Geheimnis, mit mehr oder weniger Akkommodation an das, was verständlich ist, genossen; immer bleibt es eine heilige, große Handlung, welche sich in der Wirklichkeit an die Stelle des Möglichen oder Unmöglichen, an die Stelle desjenigen setzt, was der Mensch weder erlangen noch entbehren kann. Ein solches Sakrament dürfte aber nicht allein stehen; kein Christ kann es mit wahrer Freude, wozu es gegeben ist, genießen, wenn nicht der symbolische oder sakramentliche Sinn in ihm genährt ist. Er muß gewohnt sein, die innere Religion des Herzens und die der äußeren Kirche als vollkommen eins anzusehen, als das große allgemeine Sakrament, das sich wieder in so viel andere zergliedert und diesen Teilen seine Heiligkeit, Unzerstörlichkeit und Ewigkeit mitteilt.


Hier reicht ein jugendliches Paar sich einander die Hände, nicht zum vorübergehenden Gruß oder zum Tanze; der Priester spricht seinen Segen darüber aus, und das Band ist unauflöslich. Es währt nicht lange, so bringen diese Gatten ein Ebenbild an die Schwelle des Altars; es wird mit heiligem Wasser gereinigt und der Kirche dergestalt einverleibt, daß es diese Wohltat nur durch den ungeheuersten Abfall verscherzen kann. Das Kind übt sich im Leben an den irdischen Dingen selbst heran, in himmlischen muß es unterrichtet werden. Zeigt sich bei der Prüfung, daß dies vollständig geschehen sei, so wird es nunmehr als wirklicher Bürger, als wahrhafter und freiwilliger Bekenner in den Schoß der Kirche aufgenommen, nicht ohne äußere Zeichen der Wichtigkeit dieser Handlung. Nun ist er erst entschieden ein Christ, nun kennt er erst die Vorteile, jedoch auch die Pflichten. Aber inzwischen ist ihm als Menschen manches Wunderliche begegnet, durch Lehren und Strafen ist ihm aufgegangen, wie bedenklich es mit seinem Innern aussehe, und immerfort wird noch von Lehren und von Übertretungen die Rede sein; aber die Strafe soll nicht mehr stattfinden. Hier ist ihm nun in der unendlichen Verworrenheit, in die er sich, bei dem Widerstreit natürlicher und religioser Forderungen, verwickeln muß, ein herrliches Auskunftsmittel gegeben, seine Taten und Untaten, seine Gebrechen und seine Zweifel einem würdigen, eigens dazu bestellten Manne zu vertrauen, der ihn zu beruhigen, zu warnen, zu stärken, durch gleichfalls symbolische Strafen zu züchtigen und ihn zuletzt, durch ein völliges Auslöschen seiner Schuld, zu beseligen und ihm rein und abgewaschen die Tafel seiner Menschheit wieder zu übergeben weiß. So, durch mehrere sakramentliche Handlungen, welche sich wieder, bei genauerer Ansicht, in sakramentliche kleinere Züge verzweigen, vorbereitet und rein beruhigt, knieet er hin, die Hostie zu empfangen; und daß ja das Geheimnis dieses hohen Akts noch gesteigert werde, sieht er den Kelch nur in der Ferne, es ist kein gemeines Essen und Trinken, was befriedigt, es ist eine Himmelsspeise, die nach himmlischem Tranke durstig macht.


Jedoch glaube der Jüngling nicht, daß es damit abgetan sei; selbst der Mann glaube es nicht! Denn wohl in irdischen Verhältnissen gewöhnen wir uns zuletzt, auf uns selber zu stehen, und auch da wollen nicht immer Kenntnisse, Verstand und Charakter hinreichen; in himmlischen Dingen dagegen lernen wir nie aus. Das höhere Gefühl in uns, das sich oft selbst nicht einmal recht zu Hause findet, wird noch überdies von so viel Äußerem bedrängt, daß unser eignes Vermögen wohl schwerlich alles darreicht, was zu Rat, Trost und Hülfe nötig wäre. Dazu aber verordnet findet sich nun auch jenes Heilmittel für das ganze Leben, und stets harrt ein einsichtiger, frommer Mann, um Irrende zurecht zu weisen und Gequälte zu erledigen.


Und was nun durch das ganze Leben so erprobt worden, soll an der Pforte des Todes alle seine Heilkräfte zehnfach tätig erweisen. Nach einer von Jugend auf eingeleiteten, zutraulichen Gewohnheit nimmt der Hinfällige jene symbolischen, deutsamen Versicherungen mit Inbrunst an, und ihm wird da, wo jede irdische Garantie verschwindet, durch eine himmlische für alle Ewigkeit ein seliges Dasein zugesichert. Er fühlt sich entschieden überzeugt, daß weder ein feindseliges Element, noch ein mißwollender Geist ihn hindern könne, sich mit einem verklärten Leibe zu umgeben, um in unmittelbaren Verhältnissen zur Gottheit an den unermeßlichen Seligkeiten teilzunehmen, die von ihr ausfließen.
                                                                      




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