> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 2.Teil/7.Buch S 21

2015-04-10

J.W.v.Goethe: Dichtung u.Wahrheit- 2.Teil/7.Buch S 21


Zweiter Teil

Siebentes Buch Seite 21

Zum Schlusse werden sodann, damit der ganze Mensch geheiligt sei, auch die Füße gesalbt und gesegnet. Sie sollen, selbst bei möglicher Genesung, einen Widerwillen empfinden, diesen irdischen, harten, undurchdringlichen Boden zu berühren. Ihnen soll eine wundersame Schnellkraft mitgeteilt werden, wodurch sie den Erdschollen, der sie bisher anzog, unter sich abstoßen. Und so ist durch einen glänzenden Zirkel gleichwürdig heiliger Handlungen, deren Schönheit von uns nur kurz angedeutet worden, Wiege und Grab, sie mögen zufällig noch so weit auseinander gerückt liegen, in einem stetigen Kreise verbunden.


Aber alle diese geistigen Wunder entsprießen nicht, wie andere Früchte, dem natürlichen Boden, da können sie weder gesäet noch gepflanzt noch gepflegt werden. Aus einer anderen Region muß man sie herüberflehen, welches nicht jedem, noch zu jeder Zeit gelingen würde. Hier entgegnet uns nun das höchste dieser Symbole aus alter frommer Überlieferung. Wir hören, daß ein Mensch vor dem andern von oben begünstigt, gesegnet und geheiligt werden könne. Damit aber dies ja nicht als Naturgabe erscheine, so muß diese große, mit einer schweren Pflicht verbundene Gunst von einem Berechtigten auf den anderen übergetragen, und das größte Gut, was ein Mensch erlangen kann, ohne daß er jedoch dessen Besitz von sich selbst weder erringen, noch ergreifen könne, durch geistige Erbschaft auf Erden erhalten und verewigt werden. Ja, in der Weihe des Priesters ist alles zusammengefaßt, was nötig ist, um diejenigen heiligen Handlungen wirksam zu begehen, wodurch die Menge begünstigt wird, ohne daß sie irgend eine andere Tätigkeit dabei nötig hätte, als die des Glaubens und des unbedingten Zutrauens. Und so tritt der Priester in der Reihe seiner Vorfahren und Nachfolger, in dem Kreise seiner Mitgesalbten, den höchsten Segnenden darstellend, um so herrlicher auf, als es nicht er ist, den wir verehren, sondern sein Amt, nicht sein Wink, vor dem wir die Kniee beugen, sondern der Segen, den er erteilt, und der um desto heiliger, unmittelbarer vom Himmel zu kommen scheint, weil ihn das irdische Werkzeug nicht einmal durch sündhaftes, ja lasterhaftes Wesen schwächen oder gar entkräften könnte.


Wie ist nicht dieser wahrhaft geistige Zusammenhang im Protestantismus zersplittert! indem ein Teil gedachter Symbole für apokryphisch und nur wenige für kanonisch erklärt werden, und wie will man uns durch das Gleichgültige der einen zu der hohen Würde der anderen vorbereiten?


Ich ward zu meiner Zeit bei einem guten, alten, schwachen Geistlichen, der aber seit vielen Jahren der Beichtvater des Hauses gewesen, in den Religionsunterricht gegeben. Den Katechismus, eine Paraphrase desselben, die Heilsordnung wußte ich an den Fingern herzuerzählen, von den kräftig beweisenden biblischen Sprüchen fehlte mir keiner; aber von alledem erntete ich keine Frucht; denn als man mir versicherte, daß der brave alte Mann seine Hauptprüfung nach einer alten Formel einrichte, so verlor ich alle Lust und Liebe zur Sache, ließ mich die letzten acht Tage in allerlei Zerstreuungen ein, legte die von einem älteren Freund erborgten, dem Geistlichen abgewonnenen Blätter in meinen Hut und las gemüt- und sinnlos alles dasjenige her, was ich mit Gemüt und Überzeugung wohl zu äußern gewußt hätte.


Aber ich fand meinen guten Willen und mein Aufstreben in diesem wichtigen Falle durch trocknen, geistlosen Schlendrian noch schlimmer paralysiert, als ich mich nunmehr dem Beichtstuhle nahen sollte. Ich war mir wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner großen Fehler bewußt, und gerade das Bewußtsein verringerte sie, weil es mich auf die moralische Kraft wies, die in mir lag und die mit Vorsatz und Beharrlichkeit doch wohl zuletzt über den alten Adam Herr werden sollte. Wir waren belehrt, daß wir eben darum viel besser als die Katholiken seien, weil wir im Beichtstuhl nichts Besonderes zu bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht einmal schicklich wäre, selbst wenn wir es tun wollten. Dieses letzte war mir gar nicht recht: denn ich hatte die seltsamsten religiösen Zweifel, die ich gern bei einer solchen Gelegenheit berichtiget hätte. Da nun dieses nicht sein sollte, so verfaßte ich mir eine Beichte, die, indem sie meine Zustände wohl ausdrückte, einem verständigen Manne dasjenige im allgemeinen bekennen sollte, was mir im einzelnen zu sagen verboten war. Aber als ich in das alte Barfüßerchor hineintrat, mich den wunderlichen vergitterten Schränken näherte, in welchen die geistlichen Herren sich zu diesem Akte einzufinden pflegten, als mir der Glöckner die Türe eröffnete und ich mich nun gegen meinen geistlichen Großvater in dem engen Raume eingesperrt sah, und er mich mit seiner schwachen, näselnden Stimme willkommen hieß, erlosch auf einmal alles Licht meines Geistes und Herzens, die wohl memorierte Beichtrede wollte mir nicht über die Lippen, ich schlug in der Verlegenheit das Buch auf, das ich in Händen haue, und las daraus die erste beste kurze Formel, die so allgemein war, daß ein jeder sie ganz geruhig hätte aussprechen können. Ich empfing die Absolution und entfernte mich weder warm noch kalt, ging den andern Tag mit meinen Eltern zu dem Tische des Herrn, und betrug mich ein paar Tage, wie es sich nach einer so heiligen Handlung wohl ziemte.


In der Folge trat jedoch bei mir das Übel hervor, welches aus unserer durch mancherlei Dogmen komplizierten, auf Bibelsprüche, die mehrere Auslegungen zulassen, gegründeten Religion bedenkliche Menschen dergestalt anfällt, daß es hypochondrische Zustände nach sich zieht und diese, bis zu ihrem höchsten Gipfel, zu fixen Ideen steigert. Ich habe mehrere Menschen gekannt, die, bei einer ganz verständigen Sinnes- und Lebensweise, sich von dem Gedanken an die Sünde in den heiligen Geist und von der Angst, solche begangen zu haben, nicht losmachen konnten. Ein gleiches Unheil drohte mir in der Materie von dem Abendmahl. Es hatte nämlich schon sehr früh der Spruch, daß einer, der das Sakrament unwürdig genieße, sich selbst das Gericht esse und trinke, einen ungeheueren Eindruck auf mich gemacht. Alles Furchtbare was ich in den Geschichten der Mittelzeit von Gottesurteilen, den seltsamsten Prüfungen durch glühendes Eisen, flammendes Feuer, schwellendes Wasser gelesen hatte, selbst was uns die Bibel von der Quelle erzählt, die dem Unschuldigen wohl bekommt, den Schuldigen aufbläht und bersten macht, das alles stellte sich meiner Einbildungskraft dar und vereinigte sich zu dem höchsten Furchtbaren, indem falsche Zusage, Heuchelei, Meineid, Gotteslästerung, alles beider heiligsten Handlung auf dem Unwürdigen zu lasten schien, welches um so schrecklicher war, als ja niemand sich für würdig erklären durfte, und man die Vergebung der Sünden, wodurch zuletzt alles ausgeglichen werden sollte, doch auf so manche Weise bedingt fand, daß man nicht sicher war, sie sich mit Freiheit zueignen zu dürfen. Dieser düstre Skrupel quälte mich dergestalt, und die Auskunft, die man mir als hinreichend vorstellen wollte, schien mir so kahl und schwach, daß jenes Schreckbild nur an furchtbarem Ansehen dadurch gewann und ich mich, sobald ich Leipzig erreicht hatte, von der kirchlichen Verbindung ganz und gar loszuwinden suchte. Wie drückend mußten mir daher Gellerts Anmahnungen werden! den ich, bei seiner ohnehin lakonischen Behandlungsart, womit er unsere Zudringlichkeit abzulehnen genötigt war, mit solchen wunderlichen Fragen nicht belästigen wollte, um soweniger, als ich mich derselben in heiteren Stunden selbst schämte, und zuletzt diese seltsame Gewissensangst mit Kirche und Altar völlig hinter mir ließ.


Gellert hatte sich nach seinem frommen Gemüt eine Moral aufgesetzt, welche er von Zeit zu Zeit öffentlich ablas und sich dadurch gegen das Publikum auf eine ehrenvolle Weise seiner Pflicht entledigte. Gellerts Schriften waren so lange Zeit schon das Fundament der deutschen sittlichen Kultur, und jedermann wünschte sehnlich, jenes Werk gedruckt zu sehen, und da dieses nur nach des guten Mannes Tode geschehen sollte, so hielt man sich sehr glücklich, es bei seinem Leben von ihm selbst vortragen zu hören. Das philosophische Auditorium war in solchen Stunden gedrängt voll, und die schöne Seele, der reine Wille, die Teilnahme des edlen Mannes an unserem Wohl, seine Ermahnungen, Warnungen und Bitten, in einem etwas hohlen und traurigen Tone vorgebracht, machten wohl einen augenblicklichen Eindruck; allein erhielt nicht lange nach, um so weniger, als sich doch manche Spötter fanden, welche diese weiche und, wie sie glaubten, entnervende Manier uns verdächtig zumachen wußten. Ich erinnere mich eines durchreisenden Franzosen, der sich nach den Maximen und Gesinnungen des Mannes erkundigte, welcher einen so ungeheueren Zulauf hatte. Als wir ihm den nötigen Bericht gegeben, schüttelte er den Kopf und sagte lächelnd:»Laissez le faire, il nous forme des dupes.«


Und so wußte denn auch die gute Gesellschaft, die nicht leicht etwas Würdiges in ihrer Nähe dulden kann, den sittlichen Einfluss, welchen Gellert auf uns haben mochte, gelegentlich zu verkümmern. Bald wurde es ihm übel genommen, daß er die vornehmen und reichen Dänen, die ihm besonders empfohlen waren, besser als die übrigen Studierenden unterrichte, und eine ausgezeichnete Sorge für sie trage; bald wurde es ihm als Eigennutz und Nepotismus angerechnet, daß er eben für diese jungen Männer einen Mittagstisch bei seinem Bruder einrichten lassen. Dieser, ein großer, ansehnlicher, derber, kurz gebundener, etwas roher Mann, sollte Fechtmeister gewesen sein und, bei allzu großer Nachsicht seines Bruders, die edlen Tischgenossen manchmal hart und rauh behandeln; daher glaubte man nun wieder sich dieser jungen Leute annehmen zu müssen, und zerrte so den guten Namen des trefflichen Gellert dergestalt hin und wider, daß wir zuletzt, um nicht irre an ihm zu werden, gleichgültig gegen ihn wurden und uns nicht mehr vor ihm sehen ließen; doch grüßten wir ihn immer auf das beste, wenn er auf seinem zahmen Schimmel einher geritten kam. Dieses Pferd hatte ihm der Kurfürst geschenkt, um ihn zu einer seiner Gesundheit so nötigen Bewegung zu verbinden; eine Auszeichnung, die ihm nicht leicht zu verzeihen war.


Und so rückte nach und nach der Zeitpunkt heran, wo mir alle Autorität verschwinden und ich selbst an den größten und besten Individuen, die ich gekannt oder mir gedacht hatte, zweifeln, ja verzweifeln sollte.


Friedrich der Zweite stand noch immer über allen vorzüglichen Männern des Jahrhunderts in meinen Gedanken, und es mußte mir daher sehr befremdend vorkommen, daß ich ihn so wenig vor den Einwohnern von Leipzig als sonst in meinem großväterlichen Hause loben durfte. Sie hatten freilich die Hand des Krieges schwer gefühlt, und es war ihnen deshalb nicht zu verargen, daß sie von demjenigen, der ihn begonnen und fortgesetzt, nicht das Beste dachten. Sie wollten ihn daher wohl für einen vorzüglichen, aber keineswegs für einen großen Mann gelten lassen. Es sei keine Kunst, sagten sie, mit großen Mitteln einiges zu leisten; und wenn man weder Länder, noch Geld, noch Blut schone, so könne man zuletzt schon seinen Vorsatz ausführen. Friedrich habe sich in keinem seiner Plane und in nichts, was er sich eigentlich vorgenommen, groß bewiesen. So lange es von ihm abgehangen, habe er nur immer Fehler gemacht, und das Außerordentliche sei nur alsdann zum Vorschein gekommen, wenn er genötigt gewesen, eben diese Fehler wieder gutzumachen; und bloß daher sei er zudem großen Rufe gelangt, weil jeder Mensch sich dieselbige Gabe wünsche, die Fehler, die man häufig begeht, auf eine geschickte Weise wieder ins gleiche zubringen. Man dürfe den Siebenjährigen Krieg nur Schritt vor Schritt durchgehen, so werde man finden, daß der König seine treffliche Armee ganz unnützer Weise aufgeopfert und selbst schuld daran gewesen, daß diese verderbliche Fehde sich so sehr in die Länge gezogen. Ein wahrhaft großer Mann und Heerführer wäre mit seinen Feinden viel geschwinder fertig geworden. Sie hatten, um diese Gesinnungen zu behaupten, ein unendliches Detail anzuführen, welche sich nicht zu leugnen wußte, und nach und nach die unbedingte Verehrung erkalten fühlte, die ich diesem merkwürdigen Fürsten von Jugend auf gewidmet hatte.


Wie mich nun die Einwohner von Leipzig um das angenehme Gefühl brachten, einen großen Mann zu verehren, so verminderte ein neuer Freund, den ich zu der Zeit gewann, gar sehr die Achtung, welche ich für meine gegenwärtigen Mitbürger hegte. Dieser Freund war einer der wunderliebsten Käuze, die es auf der Welt geben kann. Er hieß Behrisch und befand sich als Hofmeister bei dem jungen Grafen Lindenau. Schon sein Äußeres war sonderbar genug. Hager und wohlgebaut, weit in den Dreißigen, eine sehr große Nase und überhaupt markierte Züge; eine Haartour, die man wohl eine Perücke hätte nennen können, trug er vom Morgen bis in die Nacht, kleidete sich sehr nett und ging niemals aus, als den Degen an der Seite und den Hut unter dem Arm. Er war einer von den Menschen, die eine ganz besondere Gabe haben, die Zeit zu verderben, oder vielmehr, die aus nichts etwas zu machen wissen, um sie zu vertreiben. Alles, was er tat, mußte mit Langsamkeit und einem gewissen Anstand geschehen, den man affektiert hätte nennen können, wenn Behrisch nicht schon von Natur etwas Affektiertes in seiner Art gehabt hätte. Er ähnelte einem alten Franzosen, auch sprach und schrieb er sehr gut und leicht französisch. Seine größte Lust war, sich ernsthaft mit possenhaften Dingen zu beschäftigen, und irgend einen albernen Einfall bis ins Unendliche zu verfolgen. So trug er sich beständig grau, und weil die verschiedenen Teile seines Anzugs von verschiedenen Zeugen und also auch Schattierungen waren, so konnte er tagelang daraufsinnen, wie er sich noch ein Grau mehr auf den Leib schaffen wollte, und war glücklich, wenn ihm das gelang und er uns beschämen konnte, die wir daran gezweifelt oder es für unmöglich erklärt hatten. Alsdann hielt er uns lange Strafpredigten über unseren Mangel an Erfindungskraft und über unsern Unglauben an seine Talente.


Übrigens hatte er gute Studien, war besonders in den neueren Sprachen und ihren Literaturen bewandert und schrieb eine vortreffliche Hand. Mir war er sehr gewogen, und ich, der ich immer gewohnt und geneigt war, mit älteren Personen umzugehen, attackierte mich bald an ihn. Mein Umgang diente auch ihm zur besonderen Unterhaltung, indem er Vergnügen daran fand, meine Unruhe und Ungeduld zu zähmen, womit ich ihm dagegen auch genug zu Schaffen machte. In der Dichtkunst hatte er dasjenige, was man Geschmack nannte, ein gewisses allgemeines Urteil über das Gute und Schlechte, das Mittelmäßige und Zulässige; doch war sein Urteil mehr tadelnd, und er zerstörte noch den wenigen Glauben, den ich an gleichzeitige Schriftsteller bei mir hegte, durch lieblose Anmerkungen, die er über die Schriften und Gedichte dieses und jenes mit Witz und Laune vorzubringen wußte. Meine eigenen Sachen nahm er mit Nachsicht auf und ließ mich gewähren; nur unter der Bedingung, daß ich nichts sollte drucken lassen. Er versprach mir dagegen, daß er diejenigen Stücke, die er für gut hielt, selbst abschreiben und in einem schönen Bande mir verehren wolle. Dieses Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem größtmöglichsten Zeitverderb. Denn eh er das rechte Papier finden, ehe er mit sich über das Format einig werden konnte, ehe er die Breite des Randes und die innere Form der Schrift bestimmt hatte, ehe die Rabenfedern herbeigeschafft, geschnitten und Tusche eingerieben war, vergingen ganze Wochen, ohne daß auch das mindeste geschehen wäre. Mit eben solchen Umständen begab er sich denn jedesmal ans Schreiben, und brachte wirklich nach und nach ein allerliebstes Manuskript zusammen. Die Titel der Gedichte waren Fraktur, die Verse selbst von einer stehenden sächsischen Handschrift, an dem Ende eines jeden Gedichtes eine analoge Vignette, die er entweder irgendwo ausgewählt oder auch wohl selbst erfunden hatte, wobei er die Schraffuren der Holzschnitte und Druckerstöcke, die man bei solcher Gelegenheit braucht, gar zierlich nachzuahmen wußte. Mir diese Dinge, indem er fortrückte, vorzuzeigen, mir das Glück auf eine komisch pathetische Weise vorzurühmen, daß ich mich in so vortrefflicher Handschrift verewigt sah, und zwar auf eine Art, die keine Druckerpresse zu erreichen imstande sei, gab abermals Veranlassung, die schönsten Stunden durchzubringen. Indessen war sein Umgang wegen der schönen Kenntnisse, die er besaß, doch immer im Stillen lehrreich, und, weil er mein unruhiges, heftiges Wesen zu dämpfen wußte, auch im sittlichen Sinne für mich ganz heilsam. Auch hatte er einen ganz besonderen Widerwillen gegen alles Rohe, und seine Späße waren durchaus barock, ohne jemals ins Derbe oder Triviale zu fallen. Gegen seine Landsleute erlaubte er sich eine fratzenhafte Abneigung, und schilderte, was sie auch vornehmen mochten, mit lustigen Zügen. Besonders war er unerschöpflich, einzelne Menschen komisch darzustellen; wie er denn an dem Äußeren eines jeden etwas auszusetzen fand. So konnte er sich, wenn wir zusammen am Fenster lagen, stundenlang beschäftigen, die Vorübergehenden zu rezensieren und, wenn er genugsam an ihnen getadelt, genau und umständlich anzuzeigen, wie sie sich eigentlich hätten kleiden sollen, wie sie gehen, wie sie sich betragen müßten, um als ordentliche Leute zu erscheinen. Dergleichen Vorschläge liefen meistenteils auf etwas Ungehöriges und Abgeschmacktes hinaus, so daß man nicht sowohl lachte über das, wie der Mensch aussah, sondern darüber, wie er allenfalls hätte aussehen können, wenn er verrückt genug gewesen wäre, sich zu verbilden. In allen solchen Dingen ging er ganz unbarmherzig zu Werk, ohne daß er nur im mindesten boshaft gewesen wäre. Dagegen wußten wir ihn von unserer Seite zu quälen, wenn wir versicherten, daß man ihn nach seinem Äußeren, wo nicht für einen französischen Tanzmeister, doch wenigstens für den akademischen Sprachmeister ansehen müsse. Dieser Vorwurf war denn gewöhnlich das Signal zu stundenlangen Abhandlungen, worin er den himmelweiten Unterschied herauszusetzen pflegte, der zwischen ihm und einem alten Franzosen obwalte. Hierbei bürdete er uns gewöhnlich allerlei ungeschickte Vorschläge auf, die wir ihm zu Veränderung und Modifizierung seiner Garderobe hätten tun können. Die Richtung meines Dichtens, das ich nur um desto eifriger trieb, als die Abschrift schöner und sorgfältiger vorrückte, neigte sich nunmehr gänzlich zum Natürlichen, zum Wahren; und wenn die Gegenstände auch nicht immer bedeutend sein konnten, so suchte ich sie doch immer rein und scharf auszudrücken, um so mehr, als mein Freund mir öfters zu bedenken gab, was das heißen wolle, einen Vers mit der Rabenfeder und Tusche auf holländisch Papier schreiben, was dazu für Zeit, Talent und Anstrengung gehöre, die man an nichts Leeres und Überflüssiges verschwenden dürfe. Dabei pflegte er gewöhnlich ein fertiges Heft aufzuschlagen und umständlich auseinander zu setzen, was an dieser oder jener Stelle nicht stehen dürfe, und uns glücklich zu preisen, daß es wirklich nicht da stehe. Er sprach hierauf mit großer Verachtung von der Buchdruckerei, agierte den Setzer, spottete über dessen Gebärden, über das eilige Hin- und Widergreifen, und leitete aus diesem Manoeuvre alles Unglück der Literatur her. Dagegen erhob er den Anstand und die edle Stellung eines Schreibenden, und setzte sich sogleich hin, um sie uns vorzuzeigen, wobei er uns denn freilich ausschalt, daß wir uns nicht nach seinem Beispiel und Muster ebenso am Schreibtisch betrügen. Nun kam er wieder auf den Kontrast mit dem Setzer zurück, kehrte einen angefangenen Brief das Oberste zu unterst, und zeigte, wie unanständig es sei, etwa von unten nach oben oder von der Rechten zur Linken zu schreiben, und was dergleichen Dinge mehr waren, womit man ganze Bände anfüllen könnte.


Mit solchen unschädlichen Torheiten vergeudeten wir die schöne Zeit, wobei keinem eingefallen wäre, daß aus unserem Kreis zufällig etwas ausgehen würde, welches allgemeine Sensation erregen und uns nicht in den besten Leumund bringen sollte.


Gellert mochte wenig Freude an seinem Praktikum haben, und wenn er allenfalls Lust empfand, einige Anleitung im prosaischen und poetischen Stil zugeben, so tat er es privatissime nur wenigen, unter die wir uns nicht zählen durften. Die Lücke, die sich dadurch in dem öffentlichen Unterricht ergab, gedachte Professor Clodius auszufüllen, der sich im Literarischen, Kritischen und Poetischen einigen Ruf erworben hatte und als ein junger, munterer, zutätiger Mann sowohl bei der Akademie als in der Stadt viel Freunde fand. An die nunmehr von ihm übernommene Stunde wies uns Gellert selbst, und was die Hauptsache betraf, so merkten wir wenig Unterschied. Auch er kritisierte nur das einzelne, korrigierte gleichfalls mit roter Tinte, und man befand sich in Gesellschaft von lauter Fehlern, ohne eine Aussicht zu haben, worin das Rechte zu suchen sei? Ich hatte ihm einige von meinen kleinen Arbeiten gebracht, die er nicht übel behandelte. Allein gerade zu jener Zeit schrieb man mir von Hause, daß ich auf die Hochzeit meines Oheims notwendig ein Gedicht liefern müsse. Ich fühlte mich so weit von jener leichten und leichtfertigen Periode entfernt, in welcher mir ein Ähnliches Freude gemacht hätte, und da ich der Lage selbst nichts abgewinnen konnte, so dachte ich meine Arbeit mit äußerlichem Schmuck auf das beste herauszustutzen. Ich versammelte daher den ganzen Olymp, um über die Heirat eines Frankfurter Rechtsgelehrten zu ratschlagen; und zwar ernsthaft genug, wie es sich zum Feste eines solchen Ehrenmanns wohl schickte. Venus und Themis hatten sich um seinetwillen überworfen; doch ein schelmischer Streich, den Amor der letzteren spielte, ließ jene den Prozeß gewinnen, und die Götter entschieden für die Heirat.


Die Arbeit mißfiel mir keineswegs. Ich erhielt von Hause darüber ein schönes Belobungsschreiben, bemühte mich mit einer nochmaligen guten Abschrift und hoffte meinem Lehrer doch auch einigen Beifall abzunötigen. Allein hier hatte ich's schlecht getroffen. Er nahm die Sache streng, und indem er das Parodistische, was denn doch in dem Einfall lag, gar nicht beachtete, so erklärte er den großen Aufwand von göttlichen Mitteln zu einem so geringen menschlichen Zweck für äußerst tadelnswert, verwies den Gebrauch und Mißbrauch solcher mythologischen Figuren als eine falsche, aus pedantischen Zeiten sich herschreibende Gewohnheit, fand den Ausdruck bald zu hoch, bald zu niedrig, und hatte zwar im einzelnen der roten Tinte nicht geschont, versicherte jedoch, daß er noch zu wenig getan habe.


Solche Stücke wurden zwar anonym vorgelesen und rezensiert; allein man paßte einander auf, und es blieb kein Geheimnis, daß diese verunglückte Götterversammlung mein Werk gewesen sei. Da mir jedoch seine Kritik, wenn ich seinen Standpunkt annahm, ganz richtig zu sein schien, und jene Gottheiten, näher besehen, freilich nur hohle Scheingestalten waren, so verwünschte ich den gesamten Olymp, warf das ganze mythische Pantheon weg, und seit jener Zeit sind Amor und Luna die einzigen Gottheiten, die in meinen kleinen Gedichten allenfalls auftreten.


Unter den Personen, welche sich Behrisch zu Zielscheiben seines Witzes erlesen hatte, stand gerade Clodius obenan; auch war es nicht schwer, ihm eine komische Seite abzugewinnen. Als eine kleine, etwas starke, gedrängte Figur war er in seinen Bewegungen heftig, etwas fahrig in seinen Äußerungen und unstet in seinem Betragen. Durch alles dies unterschied er sich von seinen Mitbürgern, die ihn jedoch, wegen seiner guten Eigenschaften und der schönen Hoffnungen, die er gab, recht gern gelten ließen.


Man übertrug ihm gewöhnlich die Gedichte, welche sich bei feierlichen Gelegenheiten notwendig machten. Er folgte in der sogenannten Ode der Art, deren sich Ramler bediente, den sie aber auch ganz allein kleidete. Clodius aber hatte sich als Nachahmer besonders die fremden Worte gemerkt, wodurch jene Ramlerschen Gedichte mit einem majestätischen Pompe auftreten, der, weil er der Größe seines Gegenstandes und der übrigen poetischen Behandlunggemäß ist, auf Ohr, Gemüt und Einbildungskraft eine sehr gute Wirkung tut. Bei Clodius hingegen erschienen diese Ausdrücke fremdartig, indem seine Poesie übrigens nicht geeignet war, den Geist auf irgend eine Weise zu erheben.


Solche Gedichte mußten wir nun oft schön gedruckt und höchlich gelobt vor uns sehen, und wir fanden es höchst anstößig, daß er, der uns die heidnischen Götter verkümmert hatte, sich nun eine andere Leiter auf den Parnaß aus griechischen und römischen Wortsprossen zusammenzimmern wollte. Diese oft wiederkehrenden Ausdrücke prägten sich fest in unser Gedächtnis, und zu lustiger Stunde, da wir in den Kohlgärten den trefflichsten Kuchen verzehrten, fiel mir auf einmal ein, jene Kraft- und Machtworte in ein Gedicht an den Kuchenbäcker Hendel zu versammeln. Gedacht, getan! Und so stehe es denn auch hier, wie es an eine Wand des Hauses mit Bleistift angeschrieben wurde.


O Hendel, dessen Ruhm vom Süd zum Norden reicht,
Vernimm den Päan, der zu deinen Ohren steigt!
Du bäckst, was Gallier und Briten emsig suchen,
Mit schöpffrischem Genie, originelle Kuchen.
Des Kaffees Ozean, der sich vor dir ergießt,
Ist süßer als der Saft, der vom Hymettus fließt.
Dein Haus, ein Monument, wie wir den Künsten lohnen,
Umhangen mit Trophän, erzählt den Nationen:
Auch ohne Diadem fand Hendel hier sein Glück,
Und raubte dem Kothurn gar manch Achtgroschenstück.
Glänzt deine Urn dereinst in majestätischem Pompe,
Dann weint der Patriot an deiner Katakombe.
Doch leb! dein Torus sei von edler Brut ein Nest,
Steh hoch wie der Olymp, wie der Parnassus fest!
Kein Phalanx Griechenlands mit römischen Ballisten
Vermög Germanien und Hendeln zu verwüsten.
Dein Wohl ist unser Stolz, dein Leiden unser Schmerz,
Und Hendels Tempel ist der Musensöhne Herz.


Dieses Gedicht stand lange Zeit unter so vielen anderen, welche die Wände jener Zimmer verunzierten, ohne bemerkt zu werden, und wir, die wir uns genugsam daran ergetzt hatten, vergaßen es ganz und gar über anderen Dingen. Geraume Zeit hernach trat Clodius mit seinem »Medon« hervor, dessen Weisheit, Großmut und Tugend wir unendlich lächerlich fanden, so sehr auch die erste Vorstellung des Stücks beklatscht wurde. Ich machte gleich abends, als wir zusammen in unser Weinhaus kamen, einen Prolog in Knittelversen, wo Arlekin mit zwei großen Säcken auftritt, sie an beide Seiten des Proszeniums stellt und nach verschiedenen vorläufigen Späßen den Zuschauern vertraut, daß in den beiden Säcken moralisch-ästhetischer Sand befindlich sei, den ihnen die Schauspieler sehr häufig in die Augen werfen würden. Der eine sei nämlich mit Wohltaten gefüllt, die nichts kosteten, und der andere mit prächtig ausgedrückten Gesinnungen, die nichts hinter sich hätten. Er entfernte sich ungern und kam einigemal wieder, ermahnte die Zuschauer ernstlich, sich an seine Warnung zu kehren und die Augen zuzumachen, erinnerte sie, wie er immer ihr Freund gewesen und es gut mit ihnen gemeint, und was dergleichen Dinge mehr waren. Dieser Prolog wurde auf der Stelle von Freund Horn im Zimmer gespielt, doch blieb der Spaß ganz unter uns, es ward nicht einmal eine Abschrift genommen und das Papier verlor sich bald. Horn jedoch, der den Arlekin ganz artig vorgestellt hatte, ließ sichs einfallen, mein Gedicht an Hendel um mehrere Verse zu erweitern und es zunächst auf den »Medon« zu beziehen. Er las es uns vor, und wir konnten keine Freude daran haben, weil wir die Zusätze nicht eben geistreich fanden, und das erste, in einem ganz anderen Sinn geschriebene Gedicht uns entstellt vorkam. Der Freund, unzufrieden über unsere Gleichgültigkeit, ja unseren Tadel, mochte es anderen vorgezeigt haben, die es neu und lustig fanden. Nun machte man Abschriften davon, denen der Ruf des Clodiusischen »Medons«sogleich eine schnelle Publizität verschaffte. Allgemeine Mißbilligung erfolgte hierauf, und die Urheber (man hatte bald erfahren, daß es aus unserer Clique hervorgegangen war) wurden höchlich getadelt: denn seit Cronegks und Rosts Angriffen auf Gottsched war dergleichen nicht wieder vorgekommen. Wir hatten uns ohnehin früher schon zurückgezogen, und nun befanden wir uns gar im Falle der Schuhus gegen die übrigen Vögel. Auch in Dresden mochte man die Sache nicht gut finden, und hatte sie für uns, wo nicht unangenehme, doch ernste Folgen. Der Graf Lindenau war schon eine Zeitlang mit dem Hofmeister seines Sohnes nicht ganz zufrieden. Denn obgleich der junge Mann keineswegs vernachlässigt wurde und Behrisch sich entweder in dem Zimmer des jungen Grafen oder wenigstens daneben hielt, wenn die Lehrmeister ihre täglichen Stunden gaben, die Kollegja mit ihm sehr ordentlich frequentierte, bei Tage nicht ohne ihn ausging, auch denselben auf allen Spaziergängen begleitete; so waren wir andern doch auch immer in Apels Hause zu finden und zogen mit, wenn man lustwandelte; das machte schon einiges Aufsehen. Behrisch gewöhnte sich auch an uns, gab zuletzt meistenteils abends gegen neun Uhr seinen Zögling in die Hände des Kammerdieners und suchte uns im Weinhause auf, wohin er jedoch niemals anders als in Schuhen und Strümpfen, den Degen an der Seite und gewöhnlich den Hut unterm Arm zu kommen pflegte. Die Späße und Torheiten, die er insgemein angab, gingen ins Unendliche. So hatte z.B. einer unserer Freunde die Gewohnheit, Punkt zehne wegzugehen, weil er mit einem hübschen Kinde in Verbindung stand, mit welchem er sich nur um diese Zeit unterhalten konnte. Wir vermißten ihn ungern, und Behrisch nahm sich eines Abends, wo wir sehr vergnügt zusammen waren, im stillen vor, ihn diesmal nicht wegzulassen. Mit dem Schlage zehn stand jener auf und empfahl sich. Behrisch rief ihn an und bat, einen Augenblick zu warten, weil er gleich mitgehen wolle. Nun begann er auf die unmutigste Weise erst nach seinem Degen zu suchen, der doch ganz vor den Augen stand, und gebärdete sich beim Aufschnallen desselben so ungeschickt, daß er damit niemals zustande kommen konnte. Er machte es auch anfangs so natürlich, daß niemand ein Arges dabei hatte. Als er aber, um das Thema zu variieren, zuletzt weiter ging, daß der Degen bald auf die rechte Seite, bald zwischen die Beine kam, so entstand ein allgemeines Gelächter, in das der Forteilende, welcher gleichfalls ein lustiger Geselle war, mit einstimmte, und Behrisch so lange gewähren ließ, bis die Schäferstunde vorüber war da denn nun erst eine gemeinsame Lust und vergnügliche Unterhaltung bis tief in die Nacht erfolgte.


Unglücklicherweise hatte Behrisch, und wir durch ihn, noch einen gewissen anderen Hang zu einigen Mädchen, welche besser waren als ihr Ruf; wodurch denn aber unser Ruf nicht gefördert werden konnte. Man hatte uns manchmal in ihrem Garten gesehen, und wir lenkten auch wohl unsern Spaziergang dahin, wenn der junge Graf dabei war. Dieses alles mochte zusammen aufgespart und dem Vater zuletzt berichtet worden sein: genug, er suchte auf eine glimpfliche Weise den Hofmeister los zu werden, dem es jedoch zum Glück gereichte. Sein gutes Äußere, seine Kenntnisse und Talente, seine Rechtschaffenheit, an der niemand etwas auszusetzen wußte, hatten ihm die Neigung und Achtung vorzüglicher Personen erworben, auf deren Empfehlung er zu dem Erbprinzen von Dessau als Erzieher berufen wurde, und an dem Hofe eines in jeder Rücksicht trefflichen Fürsten ein solides Glück fand.


Der Verlust eines Freundes, wie Behrisch, war für mich von der größten Bedeutung. Er hatte mich verzogen, indem er mich bildete, und seine Gegenwart war nötig, wenn das einigermaßen für die Sozietät Frucht bringen sollte, was er an mich zu wenden für gut gefunden hatte. Er wußte mich zu allerlei Artigem und Schicklichem zu bewegen, was gerade am Platz war, und meine geselligen Talente herauszusetzen. Weil ich aber in solchen Dingen keine Selbständigkeit erworben hatte, so fiel ich gleich, da ich wieder allein war, in mein wirriges, störrisches Wesen zurück, welches immer zunahm, je unzufriedener ich über meine Umgebung war, indem ich mir einbildete, daß sie nicht mit mir zufrieden sei. Mit der willkürlichsten Laune nahm ich übel auf, was ich mir hätte zum Vorteil rechnen können, entfernte manchen dadurch, mit dem ich bisher in leidlichem Verhältnis gestanden hatte, und mußte bei mancherlei Widerwärtigkeiten, die ich mir und anderen, es sei nun im Tun oder Unterlassen, im Zuviel oder Zuwenig, zugezogen hatte, von Wohlwollenden die Bemerkung hören, daß es mir an Erfahrung fehle. Das gleiche sagte mir wohl irgend ein Gutdenkender, der meine Produktionen sah, besonders wenn sie sich auf die Außenwelt bezogen. Ich beobachtete diese, so gut ich konnte, fand aber daran wenig Erbauliches, und mußte noch immer genug von dem Meinigen hinzutun, um sie nur erträglich zu finden. Auch meinem Freunde Behrisch hatte ich manchmal zugesetzt, er solle mir deutlich machen, was Erfahrung sei? Weil er aber voller Torheiten steckte, so vertröstete er mich von einem Tage zum anderen und eröffnete mir zuletzt, nach so großen Vorbereitungen: die wahre Erfahrung sei ganz eigentlich, wenn man erfahre, wie ein Erfahrner die Erfahrung erfahrend erfahren müsse. Wenn wir ihn nun hierüber äußerst ausschalten und zur Rede setzten, so versicherte er, hinter diesen Worten stecke ein großes Geheimnis, das wir alsdann erst begreifen würden, wenn wir erfahren hätten, - und immer so weiter: denn es kostete ihm nichts, Viertelstunden lang sofort zusprechen; da denn das Erfahren immer erfahrner und zuletzt zur wahrhaften Erfahrung werden würde. Wollten wir über solche Possen verzweifeln, so beteuerte er, daß er diese Art, sich deutlich und eindrücklich zu machen, von den neusten und größten Schriftstellern gelernt, welche uns aufmerksam gemacht, wie man eine ruhige Ruhe ruhen und wie die Stille im Stillen immer stiller werden könnte.


Zufälligerweise rühmte man in guter Gesellschaft einen Offizier, der sich unter uns auf Urlaub befand, als einen vorzüglich wohldenkenden und erfahrnen Mann, der den Siebenjährigen Krieg mitgefochten und sich ein allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel nicht schwer, mich ihm zu nähern, und wir spazierten öfters miteinander. Der Begriff von Erfahrung war beinah fix in meinem Gehirne geworden, und das Bedürfnis, mir ihn klar zu machen, leidenschaftlich. Offenmütig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unruhe, in der ich mich befand. Er lächelte und war freundlich genug, mir, im Gefolg meiner Fragen, etwas von seinem Leben und von der nächsten Welt überhaupt zu erzählen, wobei freilich zuletzt wenig Besseres herauskam, als daß die Erfahrung uns überzeuge, daß unsere besten Gedanken, Wünsche und Vorsätze unerreichbar seien, und daß man denjenigen, welcher dergleichen Grillen hege und sie mit Lebhaftigkeit äußere, vornehmlich für einen unerfahrnen Menschen halte.


Da er jedoch ein wackerer, tüchtiger Mann war, so versicherte er mir, er habe diese Grillen selbst noch nicht ganz aufgegeben, und befinde sich bei dem wenigen Glaube, Liebe und Hoffnung, was ihm übrig geblieben, noch ganz leidlich. Er mußte mir darauf vieles vom Krieg erzählen, von der Lebensweise im Feld, von Scharmützeln und Schlachten, besonders insofern er Anteil daran genommen; da denn diese ungeheueren Ereignisse, indem sie auf ein einzelnes Individuum bezogen wurden, ein gar wunderliches Ansehen gewannen. Ich bewog ihn alsdann zu einer offenen Erzählung der kurz vorher bestandenen Hofverhältnisse, welche ganz märchenhaft zu sein schienen. Ich hörte von der körperlichen Stärke Augusts des Zweiten, den vielen Kindern desselben und seinem ungeheueren Aufwand, sodann von des Nachfolgers Kunst- und Sammlungslust, vom Grafen Brühl und dessen grenzenloser Prunkliebe, deren einzelnes beinahe abgeschmackt erschien, von so viel Festen und Prachtergetzungen, welche sämtlich durch den Einfall Friedrichs in Sachsen abgeschnitten worden. Nun lagen die königlichen Schlösser zerstört, die Brühlschen Herrlichkeiten vernichtet, und es war von allem nur ein sehr beschädigtes herrliches Land übrig geblieben.


Als er mich über jenen unsinnigen Genuß des Glücks verwundert, und sodann über das erfolgte Unglück betrübt sah, und mich bedeutete, wie man von einem erfahrnen Manne geradezu verlange, daß er über keins von beiden erstaunen, noch daran einen zu lebhaften Anteil nehmen solle; so fühlte ich große Lust, in meiner bisherigen Unerfahrenheit noch eine Weile zu verharren, worin er mich denn bestärkte und recht ungelegentlich bat, ich möchte mich, bis auf weiteres, immer an die angenehmen Erfahrungen halten und die unangenehmen so viel als möglich abzulehnen suchen, wenn sie sich mir aufdringen sollten. Einst aber, als wieder im allgemeinen die Rede von Erfahrung war, und ich ihm jene possenhaften Phrasen des Freundes Behrisch erzählte, schüttelte er lächelnd den Kopf und sagte: »Da sieht man, wie es mit Worten geht, die nur einmal ausgesprochen sind! Diese da klingen so neckisch, ja so albern, daß es fast unmöglich scheinen dürfte, einen vernünftigen Sinn hineinzulegen; und doch ließe sich vielleicht ein Versuch machen.«


Und als ich in ihn drang, versetzte er mit seiner verständig heiteren Weise: »Wenn Sie mir erlauben, indem ich Ihren Freund kommentiere und suppliere, in seiner Art fortzufahren, so dünkt mich, er habe sagen wollen, daß die Erfahrung nichts anderes sei, als daß man erfährt, was man nicht zu erfahren wünscht, worauf es wenigstens in dieser Welt meistens hinausläuft.«





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