Zweiter Teil
Neuntes Buch Seite 27
Indem ich nun aber darauf sinne, was wohl zunächst weiter mitzuteilen wäre, so kommt mir, durch ein seltsames Spiel der Erinnerung, das ehrwürdige Münstergebäude wieder in die Gedanken, dem ich gerade in jenen Tagen eine besondere Aufmerksamkeit widmete und welches überhaupt in der Stadt sowohl als auf dem Lande sich den Augen beständig darbietet.
Je mehr ich die Fassade desselben betrachtete, desto mehr bestärkte und entwickelte sich jener erste Eindruck, daß hier das Erhabene mit dem Gefälligen in Bund getreten sei. Soll das Ungeheuere, wenn es uns als Masse entgegentritt, nicht erschrecken, soll es nicht verwirren, wenn wir sein Einzelnes zu erforschen suchen: so muß es eine unnatürliche, scheinbar unmögliche Verbindung eingehen, es muß sich das Angenehme zugesellen. Da uns nun aber allein möglich wird, den Eindruck des Münsters auszusprechen, wenn wir uns jene beiden unverträglichen Eigenschaften vereinigt denken; so sehen wir schon hieraus, in welchem hohen Wert wir dieses alte Denkmal zu halten haben, und beginnen mit Ernst eine Darstellung, wie so widersprechende Elemente sich friedlich durchdringen und verbinden konnten.
Vor allem widmen wir unsere Betrachtungen, ohne noch an die Türme zu denken, allein der Fassade, die als ein aufrecht gestelltes längliches Viereck unsern Augen mächtig entgegnet. Nähern wir uns derselben in der Dämmerung, bei Mondschein, bei sternheller Nacht, wo die Teile mehr oder weniger undeutlich werden und zuletzt verschwinden; so sehen wir nur eine kolossale Wand, deren Höhe zur Breite ein wohltätiges Verhältnis hat. Betrachten wir sie bei Tage und abstrahieren durch Kraft unseres Geistes vom Einzelnen; so erkennen wir die Vorderseite eines Gebäudes, welche dessen innere Räume nicht allein zuschließt, sondern auch manches Danebenliegende verdeckt. Die Öffnungen dieser ungeheueren Fläche deuten auf innere Bedürfnisse, und nach diesen können wir sie sogleich in neun Felder abteilen. Die große Mitteltüre, die auf das Schiff der Kirche gerichtet ist, fällt uns zuerst in die Augen. Zu beiden Seiten derselben liegen zwei kleinere, den Kreuzgängen angehörig. Über der Haupttüre trifft unser Blick auf das radförmige Fenster, das in die Kirche und deren Gewölbe ein ahndungsvolles Licht verbreiten soll. An den Seiten zeigen sich zwei große senkrechte, länglich-viereckte Öffnungen, welche mit der mittelsten bedeutend kontrastieren und darauf hindeuten, daß sie zu der Base emporstrebender Türme gehören. In dem dritten Stockwerke reihen sich drei Öffnungen an einander, welche zu Glockenstühlen und sonstigen kirchlichen Bedürfnissen bestimmt sind. Zu Oberst sieht man das Ganze durch die Balustrade der Galerie, anstatt eines Gesimses, horizontal abgeschlossen. Jene beschriebenen neun Räume werden durch vier vom Boden aufstrebende Pfeiler gestützt, eingefaßt und in drei große perpendikulare Abteilungen getrennt.
Wie man nun der ganzen Masse ein schönes Verhältnis der Höhe zur Breite nicht absprechen kann, so erhält sie auch durch diese Pfeiler, durch die schlanken Einteilungen dazwischen, im einzelnen etwas gleichmäßig Leichtes.
Verharren wir aber bei unserer Abstraktion und denken uns diese ungeheuere Wand ohne Zieraten mit festen Strebepfeilern, in derselben die nötigen Öffnungen, aber auch nur insofern sie das Bedürfnis fordert; gestehn wir auch diesen Hauptabteilungen gute Verhältnisse zu: so wird das Ganze zwar ernst und würdig, aber doch immer noch lästig unerfreulich und als zierdelos unkünstlich erscheinen. Denn ein Kunstwerk, dessen Ganzes in großen, einfachen, harmonischen Teilen begriffen wird, macht wohl einen edlen und würdigen Eindruck, aber der eigentliche Genuß, den das Gefallen erzeugt, kann nur bei Übereinstimmung aller entwickelten Einzelheiten stattfinden. Hierin aber gerade befriedigt uns das Gebäude, das wir betrachten, im höchsten Grade: denn wir sehen alle und jede Zieraten jedem Teil, den sie schmücken, völlig angemessen, sie sind ihm untergeordnet, sie scheinen aus ihm entsprungen. Eine solche Mannigfaltigkeit gibt immer ein großes Behagen, indem sie sich aus dem Gehörigen herleitet und deshalb zugleich das Gefühl der Einheit erregt, und nur in solchem Falle wird die Ausführung als Gipfel der Kunst gepriesen.
Durch solche Mittel sollte nun eine feste Mauer, eine undurchdringliche Wand, die sich noch dazu als Base zweier himmelhohen Türme anzukündigen hatte, dem Auge zwar als auf sich selbst ruhend, in sich selbst bestehend, aber auch dabei leicht und zierlich erscheinen, und, obgleich tausendfach durchbrochen, den Begriff von unerschütterlicher Festigkeit geben. Dieses Rätsel ist auf das glücklichste gelöst. Die Öffnungen der Mauer, die soliden Stellen derselben, die Pfeiler, jedes hat seinen besonderen Charakter, der aus der eignen Bestimmung hervortritt; dieser kommuniziert sich stufenweis den Unterabteilungen, daher alles im gemäßen Sinne verziert ist, das Große wie das Kleine sich an der rechten Stelle befindet, leicht gefaßt werden kann, und so das Angenehme im Ungeheueren sich darstellt. Ich erinnere nur an die perspektivisch in die Mauerdicke sich einsenkenden, bis ins Unendliche an ihren Pfeilern und Spitzbogen verzierten Türen, an das Fenster und dessen aus der runden Form entspringende Kunstrose, an das Profil ihrer Stäbe, sowie an die schlanken Rohrsäulen der perpendikularen Abteilungen. Man vergegenwärtige sich die stufenweis zurücktretenden Pfeiler, von schlanken, gleichfalls in die Höhe strebenden, zum Schutz der Heiligenbilder baldachinartig bestimmten, leichtsäuligen Spitzgebäudchen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf und Blattreihe, oder als irgend ein anderes im Steinsinn umgeformtes Naturgebilde erscheint. Man vergleiche das Gebäude, wo nicht selbst, doch Abbildungen des Ganzen und des Einzelnen, zu Beurteilung und Belebung meiner Aussage. Sie könnte manchem übertrieben scheinen: denn ich selbst, zwar im ersten Anblicke zur Neigung gegen dieses Werk hingerissen, brauchte doch lange Zeit, mich mit seinem Wert innig bekannt zu machen.
Unter Tadlern der gotischen Baukunst aufgewachsen, nährte ich meine Abneigung gegen die vielfach überladenen, verworrenen Zieraten, die durch ihre Willkürlichkeit einen religios düsteren Charakter höchst widerwärtig machten; ich bestärkte mich in diesem Unwillen, da mir nur geistlose Werke dieser Art, an denen man weder gute Verhältnisse, noch einer eine Konsequenz gewahr wird, vors Gesicht gekommen waren. Hier aber glaubte ich eine neue Offenbarung zu erblicken, indem mir jenes Tadelnswerte keineswegs erschien, sondern vielmehr das Gegenteil davon sich aufdrang.
Wie ich nun aber immer länger sah und überlegte, glaubte ich über das Vorgesagte noch größere Verdienste zu entdecken. Herausgefunden war das richtige Verhältnis der größeren Abteilungen, die so sinnige als reiche Verzierung bis ins kleinste; nun aber erkannte ich noch die Verknüpfung dieser mannigfaltigen Zieraten unter einander, die Hinleitung von einem Hauptteile zum andern, die Verschränkung zwar gleichartiger, aber doch an Gestalt höchst abwechselnder Einzelnheiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer, vom Blatt bis zum Zacken. Je mehr ich untersuchte, desto mehr geriet ich in Erstaunen; je mehr ich mich mit Messen und Zeichnen unterhielt und abmüdete, desto mehr wuchs meine Anhänglichkeit, so daß ich viele Zeit darauf verwendete, teils das Vorhandene zu studieren, teils das Fehlende, Unvollendete, besonders der Türme, in Gedanken und auf dem Blatte wiederherzustellen.
Da ich nun an alter deutscher Stätte dieses Gebäude gegründet und in echter deutscher Zeit so weit gediehen fand, auch der Name des Meisters auf dem bescheidenen Grabstein gleichfalls vaterländischen Klanges und Ursprungs war; so wagte ich, die bisher verrufene Benennung gotische Bauart, aufgefordert durch den Wert dieses Kunstwerks, abzuändern und sie als deutsche Baukunst unserer Nation zu vindizieren, sodann aber verfehlte ich nicht, erst mündlich, und hernach in einem kleinen Aufsatz, D. M. Ervini a Steinbach gewidmet, meine patriotischen Gesinnungen an den Tag zu legen.
Gelangt meine biographische Erzählung zu der Epoche, in welcher gedachter Bogen im Druck erschien, den Herder sodann in sein Heft »Von deutscher Art und Kunst« aufnahm, so wird noch manches über diesen wichtigen Gegenstand zur Sprache kommen. Ehe ich mich aber diesmal von demselben abwende, so will ich die Gelegenheit benutzen, um das dem gegenwärtigen Bande vorgesetzte Motto bei denjenigen zu rechtfertigen, welche einigen Zweifel daranhegen sollten. Ich weiß zwar recht gut, daß gegen das brave und hoffnungsreiche altdeutsche Wort: »Was einer in der Jugend wünscht, hat er im Alter genug!«manche umgekehrte Erfahrung anzuführen, manches daran zu deuteln sein möchte; aber auch viel Günstiges spricht dafür, und ich erkläre, was ich dabei denke.
Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zuleisten imstande sein werden. Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche. Liegt nun eine solche Richtung entschieden in unserer Natur, so wird mit jedem Schritt unserer Entwickelung ein Teil des ersten Wunsches erfüllt, bei günstigen Umständen auf dem geraden Wege, bei ungünstigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem einlenken. So sieht man Menschen durch Beharrlichkeit zu irdischen Gütern gelangen, sie umgeben sich mit Reichtum, Glanz und äußerer Ehre. Andere streben noch sicherer nach geistigen Vorteilen, erwerben sich eine klare Übersicht der Dinge, eine Beruhigung des Gemüts und eine Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft.
Nun gibt es aber eine dritte Richtung, die aus beiden gemischt ist und deren Erfolg am sichersten gelingen muß. Wenn nämlich die Jugend des Menschen in eine prägnante Zeit trifft, wo das Hervorbringen das Zerstören überwiegt, und in ihm das Vorgefühl bei Zeiten erwacht, was eine solche Epoche fordre und verspreche; so wird er, durch äußere Anlässe zu tätiger Teilnahme gedrängt, bald da - bald dorthin greifen, und der Wunsch, nach vielen Seiten wirksam zu sein, wird in ihm lebendig werden. Nun gesellen sich aber zur menschlichen Beschränktheit noch so viele zufällige Hindernisse, daß hier ein Begonnenes liegen bleibt, dort ein Ergriffenes aus der Hand fällt, und ein Wunsch nach dem andern sich verzettelt. Waren aber diese Wünsche aus einem reinen Herzen entsprungen, dem Bedürfnis der Zeit gemäß; so darf man ruhig rechts und links liegen und fallen lassen, und kann versichert sein, daß nicht allein dieses wieder aufgefunden und aufgehoben werden muß, sondern daß auch noch gar manches Verwandte, das man nie berührt, ja woran man nie gedacht hat, zum Vorschein kommen werde. Sehen wir nun während unseres Lebensganges dasjenige von andern geleistet, wozu wir selbst früher einen Beruf fühlten, ihn aber,mit manchen andern, aufgeben mußten; dann tritt das schöne Gefühl ein, daß die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist, und daß der Einzelne nur froh und glücklich sein kann, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen. Diese Betrachtung ist hier recht am Platze; denn wenn ich die Neigung bedenke, die mich zu jenen alten Bauwerken hinzog, wenn ich die Zeit berechne, die ich allein dem Straßburger Münster gewidmet, die Aufmerksamkeit, mit der ich späterhin den Dom zu Köln und den zu Freiburg betrachtet und den Wert dieser Gebäude immer mehr empfunden; so könnte ich mich tadeln, daß ich sie nachher ganz aus den Augen verloren, ja, durch eine entwickeltere Kunst angezogen, völlig im Hintergrunde gelassen. Sehe ich nun aber in der neusten Zeit die Aufmerksamkeit wieder auf jene Gegenstände hingelenkt, Neigung, ja Leidenschaft gegen sie hervortreten und blühen, sehe ich tüchtige junge Leute, von ihr ergriffen, Kräfte, Zeit, Sorgfalt, Vermögen diesen Denkmalen einer vergangenen Welt rücksichtslos widmen; so werde ich mit Vergnügen erinnert, daß das, was ich sonst wollte und wünschte, einen Wert hatte. Mit Zufriedenheit sehe ich, wie man nicht allein das von unsern Vorvordern Geleistete zu schätzen weiß, sondern wie man sogar aus vorhandenen unausgeführten Anfängen, wenigstens im Bilde, die erste Absicht darzustellen sucht, um uns dadurch mit dem Gedanken, welcher doch das Erste und Letzte alles Vornehmens bleibt, bekannt zumachen, und eine verworren scheinende Vergangenheit mit besonnenem Ernst aufzuklären und zu beleben strebt. Vorzüglich belobe ich hier den wackern Sulpiz Boisserée, der unermüdet beschäftigt ist, in einem prächtigen Kupferwerke, den Kölnischen Dom aufzustellen als Musterbild jener ungeheuren Konzeptionen, deren Sinn babylonisch in den Himmel strebte, und die zu den irdischen Mitteln dergestalt außer Verhältnis waren, daß sie notwendig in der Ausführung stocken mußten. Haben wir bisher gestaunt, daß solche Bauwerke nur so weit gediehen, so werden wir mit der größten Bewunderung erfahren, was eigentlich zu leisten die Absicht war.
Möchten doch literarisch-artistische Unternehmungen dieser Art durch alle, welche Kraft, Vermögen und Einfluß haben, gebührend befördert werden, damit uns die große und riesenmäßige Gesinnung unserer Vorfahren zur Anschauung gelange und wir uns einen Begriff machen können von dem, was sie wollen durften. Die hieraus entspringende Einsicht wird nicht unfruchtbar bleiben und das Urteil sich endlich einmal mit Gerechtigkeit an jenen Werken zu üben imstande sein. Ja, dieses wird auf das gründlichste geschehen, wenn unser tätiger junger Freund, außer der dem Kölnischen Dome gewidmeten Monographie, die Geschichte der Baukunst unserer Mittelzeit bis ins einzelne verfolgt. Wird ferner an den Tag gefördert, was irgend über werkmäßige Ausübung dieser Kunst zu erfahren ist, wird sie durch Vergleichung mit der griechisch-römischen und der orientalisch-ägyptischen in allen Grundzügen dargestellt; so kann in diesem Fache wenig zu tun übrig bleiben. Ich aber werde, wenn die Resultate solcher vaterländischen Bemühungen öffentlich vorliegen, so wie jetzt bei freundlichen Privatmitteilungen, mit wahrer Zufriedenheit jenes Wort im besten Sinne wiederholen können:»Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter genug.«
Kann man aber bei solchen Wirkungen, welche Jahrhunderten angehören, sich auf die Zeit verlassen und die Gelegenheit erharren; so gibt es dagegen andere Dinge, die in der Jugend, frisch, wie reife Früchte, weggenossen werden müssen. Es sei mir erlaubt, mit dieser raschen Wendung, des Tanzes zu erwähnen, an den das Ohr, so wie das Auge an den Münster, jeden Tag, jede Stunde in Straßburg, im Elsaß erinnert wird. Von früher Jugend an hatte mir und meiner Schwester der Vater selbst im Tanzen Unterricht gegeben, welches einen so ernsthaften Mann wunderlich genug hätte kleiden sollen; allein er ließ sich auch dabei nicht aus der Fassung bringen, unterwies uns auf das bestimmteste in den Positionen und Schritten, und als er uns weit genug gebracht hatte, um eine Menuett zu tanzen, so blies er auf einer Flûte-douce uns etwas Faßliches im Dreivierteltakt vor, und wir bewegten uns darnach, so gut wir konnten. Auf dem französischen Theater hatte ich gleichfalls von Jugend auf, wo nicht Ballette, doch Solos und Pas-de-deux gesehn und mir davon mancherlei wunderliche Bewegungen der Füße und allerlei Sprünge gemerkt. Wenn wir nun der Menuett genug haben, so ersuchte ich den Vater um andere Tanzmusiken, dergleichen die Notenbücher in ihren Giguen und Murkis reichlich darboten, und ich erfand mir sogleich die Schritte und übrigen Bewegungen dazu, indem der Takt meinen Gliedern ganz gemäß und mit denselben geboren war. Dies belustigte meinen Vater bis auf einen gewissen Grad, ja er machte sich und uns manchmal den Spaß, die Affen auf diese Weise tanzen zu lassen. Nach meinem Unfall mit Gretchen und während meines ganzen Aufenthalts in Leipzig kam ich nicht wieder auf den Plan; vielmehr weiß ich noch, daß, als man mich auf einem Balle zu einer Menuett nötigte, Takt und Bewegung aus meinen Gliedern gewichen schien, und ich mich weder der Schritte noch der Figuren mehr erinnerte; so daß ich mit Schimpf und Schanden bestanden wäre, wenn nicht der größere Teil der Zuschauer behauptet hätte, mein ungeschicktes Betragen sei bloßer Eigensinn, in der Absicht, den Frauenzimmern alle Lust zu benehmen, mich wider Willen aufzufordern und in ihre Reihen zu ziehen. Während meines Aufenthalts in Frankfurt war ich von solchen Freuden ganz abgeschnitten; aber in Straßburg regte sich bald, mit der übrigen Lebenslust, die Taktfähigkeit meiner Glieder. An Sonn- und Werkeltagen schlenderte man keinen Lustort vorbei, ohne daselbst einen fröhlichen Haufen zum Tanze versammelt, und zwar meistens im Kreise drehend zu finden. Ingleichen waren auf den Landhäusern Privatbälle, und man sprach schon von den brillanten Redouten des zukommenden Winters. Hier wäre ich nun freilich nicht an meinem Platz und der Gesellschaft unnütz gewesen; da riet mir ein Freund, der sehr gut walzte, mich erst in minder guten Gesellschaften zu üben, damit ich hernach in der besten etwas gelten könnte. Er brachte mich zu einem Tanzmeister, der für geschickt bekannt war; dieser versprach mir, wenn ich nur einigermaßen die ersten Anfangsgründe wiederholt und mir zu eigen gemacht hätte, mich dann weiter zu leiten. Er war eine von den trockenen, gewandten französischen Naturen, und nahm mich freundlich auf. Ich zahlte ihm den Monat voraus, und erhielt zwölf Billette, gegen die er mir gewisse Stunden Unterricht zusagte. Der Mann war streng, genau, aber nicht pedantisch; und da ich schon einige Vorübung hatte, so machte ich es ihm bald zu Danke und erhielt seinen Beifall.
Den Unterricht dieses Lehrers erleichterte jedoch ein Umstand gar sehr: er hatte nämlich zwei Töchter, beide hübsch und noch unter zwanzig Jahren. Von Jugend auf in dieser Kunst unterrichtet, zeigten sie sich darin sehr gewandt und hätten als Moitié auch dem ungeschicktesten Scholaren bald zu einiger Bildung verhelfen können. Sie waren beide sehr artig, sprachen nur französisch, und ich nahm mich von meiner Seite zusammen, um vor ihnen nicht linkisch und lächerlich zu erscheinen. Ich hatte das Glück, daß auch sie mich lobten, immer willig waren, nach der kleinen Geige des Vaters eine Menuett zu tanzen, ja sogar, was ihnen freilich beschwerlicher ward, mir nach und nach das Walzen und Drehen einzulernen. Übrigens schien der Vater nicht viele Kunden zu haben, und sie führten ein einsames Leben. Deshalb ersuchten sie mich manchmal nach der Stunde, bei ihnen zu bleiben und die Zeit ein wenig zu verschwätzen; das ich denn auch ganz gerne tat, um so mehr, als die jüngere mir wohl gefiel und sie sich überhaupt sehr anständig betrugen. Ich las manchmal aus einem Roman etwas vor, und sie taten das gleiche. Die ältere, die so hübsch, vielleicht noch hübscher war als die zweite, mir aber nicht so gut wie diese zusagte, betrug sich durchaus gegen mich verbindlicher und in allem gefälliger. Sie war in der Stunde immer bei der Hand und zog sie manchmal in die Länge; daher ich mich einigemal verpflichtet glaubte, dem Vater zwei Billette
anzubieten, die er jedoch nicht annahm. Die jüngere hingegen, ob sie gleich nicht unfreundlich gegen mich tat, war doch eher still für sich, und ließ sich durch den Vater herbeirufen, um die ältere abzulösen.
Die Ursache davon ward mir eines Abends deutlich. Denn als ich mit der ältesten, nach vollendetem Tanz, in das Wohnzimmer gehen wollte, hielt sie mich zurück und sagte: »Bleiben wir noch ein wenig hier; denn ich will es Ihnen nur gestehen, meine Schwester hat eine Kartenschlägerin bei sich, die ihr offenbaren soll, wie es mit einem auswärtigen Freund beschaffen ist, an dem ihr ganzes Herz hängt, auf den sie alle ihre Hoffnung gesetzt hat. Das meinige ist frei«, fuhr sie fort, »und ich werde mich gewöhnen müssen, es verschmäht zu sehen.« Ich sagte ihr darauf einige Artigkeiten, indem ich versetzte, daß sie sich, wie es damit stehe, am ersten überzeugen könne, wenn sie die weise Frau gleichfalls befragte; ich wolle es auch tun, denn ich hätte schon längst so etwas zu erfahren gewünscht, woran mir bisher der Glaube gefehlt habe. Sie tadelte mich deshalb und beteuerte, daß nichts in der Welt sichrer sei, als die Aussprüche dieses Orakels, nur müsse man es nicht aus Scherz und Frevel, sondern nur in wahren Anliegenheiten befragen. Ich nötigte sie jedoch zuletzt, mit mir in jenes Zimmer zu gehen, sobald sie sich versichert hatte, daß die Funktion vorbei sei. Wir fanden die Schwester sehr aufgeräumt, und auch gegen mich war sie zutulicher als sonst, scherzhaft und beinahe geistreich: denn da sie eines abwesenden Freundes sicher geworden zu sein schien, so mochte sie es für unverfänglich halten, mit einem gegenwärtigen Freund ihrer Schwester, denn dafür hielt sie mich, ein wenig artig zu tun.
Der Alten wurde nun geschmeichelt und ihr gute Bezahlung zugesagt, wenn sie der älteren Schwester und auch mir das Wahrhafte sagen wollte. Mit den gewöhnlichen Vorbereitungen und Zeremonien legte sie nun ihren Kram aus, und zwar, um der Schönen zuerst zu weissagen. Sie betrachtete die Lage der Karten sorgfältig, schien aber zu stocken und wollte mit der Sprache nicht heraus. - »Ich sehe schon«, sagte die jüngere, die mit der Auslegung einer solchen magischen Tafel schon näher bekannt war, »Ihr zaudert und wollt meiner Schwester nichts Unangenehmes eröffnen; aber das ist eine verwünschte Karte!« Die ältere wurde blaß, doch faßte sie sich und sagte: »so sprecht nur; es wird ja den Kopf nicht kosten!« Die Alte, nach einem tiefen Seufzer, zeigte ihr nun an, daß sie liebe, daß sie nicht geliebt werde, daß eine andere Person dazwischen stehe, und was dergleichen Dinge mehr waren. Man sah dem guten Mädchen die Verlegenheit an. Die Alte glaubte die Sache wieder etwas zu verbessern, indem sie auf Briefe und Geld Hoffnung machte. - »Briefe«, sagte das schöne Kind,»erwarte ich nicht, und Geld mag ich nicht. Wenn es wahr ist, wie Ihr sagt, daß ich liebe, so verdiene ich ein Herz, das mich wieder liebt.« - »Wir wollen sehen, ob es nicht besser wird«, versetzte die Alte, indem sie die Karten mischte und zum zweiten mal auflegte; allein es war vor unser aller Augen nur noch schlimmer geworden. Die Schöne stand nicht allein einsamer, sondern auch mit mancherlei Verdruß umgeben; der Freund war etwas weiter und die Zwischenfiguren näher gerückt. Die Alte wollte zum dritten mal auslegen, in Hoffnung einer bessern Ansicht; allein das schöne Kind hielt sich nicht länger, sie brach in unbändiges Weinen aus, ihr holder Busen bewegte sich auf eine gewaltsame Weise, sie wandte sich um und rannte zum Zimmer hinaus. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Die Neigung hielt mich beider Gegenwärtigen, das Mitleid trieb mich zu jener; meine Lage war peinlich genug. - »Trösten Sie Lucinden«, sagte die jüngere, »gehen Sie ihr nach.«Ich zauderte; wie durfte ich sie trösten, ohne sie wenigsten seiner Art von Neigung zu versichern, und konnte ich das wohl in einem solchen Augenblick auf eine kalte mäßige Weise! - »Lassen Sie uns zusammen gehn«, sagte ich zu Emilien. - »Ich weiß nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl tun wird«, versetzte diese. Doch gingen wir, fanden aber die Tür verriegelt. Lucinde antwortete nicht, wir mochten pochen, rufen, bitten wie wir wollten. - »Wir müssen sie gewähren lassen«, sagte Emilie, »sie will nun nicht anders!« Und wenn ich mir freilich ihr Wesen von unserer ersten Bekanntschaft an erinnerte, so hatte sie immer etwas Heftiges und Ungleiches, und ihre Neigung zu mir zeigte sie am meisten dadurch, daß sie ihre Unart nicht an mir bewies. Was wollte ich tun! Ich bezahlte die Alte reichlich für das Unheil, das sie gestiftet hatte, und wollte gehen, als Emilie sagte:»Ich bedinge mir, daß die Karte nun auch auf Sie geschlagen werde.« Die Alte war bereit. - »Lassen Sie mich nicht dabei sein!« rief ich, und eilte die Treppe hinunter. Den andern Tag hatte ich nicht Mut hinzugehen. Den dritten ließ mir Emilie durch einen Knaben, der mir schon manche Botschaft von den Schwestern gebracht und Blumen und Früchte dagegen an sie getragen hatte, in aller Frühe sagen, ich möchte heute ja nicht fehlen. Ich kam zur gewöhnlichen Stunde und fand den Vater allein, der an meinen Tritten und Schritten, an meinem Gehen und Kommen, an meinem Tragen und Behaben noch manches ausbesserte und übrigens mit mir zufrieden schien. Die jüngste kam gegen das Ende der Stunde und tanzte mit mir eine sehr graziöse Menuett, in der sie sich außerordentlich angenehm bewegte, und der Vater versicherte, nicht leicht ein hübscheres und gewandteres Paar auf seinem Plane gesehen zu haben. Nach der Stunde ging ich wie gewöhnlich ins Wohnzimmer; der Vater ließ uns allein, ich vermißte Lucinden. - »sie liegt im Bette«, sagte Emilie, »und ich sehe es gern: haben Sie deshalb keine Sorge. Ihre Seelenkrankheit lindert sich am ersten, wenn sie sich körperlich für krank hält; sterben mag sie nicht gern, und so tut sie alsdann, was wir wollen. Wir haben gewisse Hausmittel, die sie zu sich nimmt und ausruht; und so legen sich nach und nach die tobenden Wellen. Sie ist gar zu gut und liebenswürdig bei so einer eingebildeten Krankheit, und da sie sich im Grunde recht wohl befindet und nur von Leidenschaft angegriffen ist, so sinnt sie sich allerhand romananhafte Todesarten aus, vor denen sie sich auf eine angenehme Weise fürchtet, wie Kinder, denen man von Gespenstern erzählt. So hat sie mir gestern abend noch mit großer Heftigkeit erklärt, daß sie diesmal gewiß sterben würde, und man sollte den undankbaren falschen Freund, der ihr erst so schön getan und sie nun so übel behandle, nur dann wieder zu ihr führen, wenn sie wirklich ganz nahe am Tode sei: sie wolle ihm recht bittre Vorwürfe machen und auch sogleich den Geist aufgeben.« - »Ich weiß mich nicht schuldig!« rief ich aus, »daß ich irgend eine Neigung zu ihr geäußert. Ich kenne jemand, der mir dieses Zeugnis am besten erteilen kann.« Emilie lächelte und versetzte: »Ich verstehe Sie, und wenn wir nicht klug und entschlossen sind, so kommen wir alle zusammen in eine üble Lage. Was werden Sie sagen, wenn ich Sie ersuche, Ihre Stunden nicht weiter fortzusetzen? Sie haben von dem letzten Monat allenfalls noch vier Billette, und mein Vater äußerte schon, daß er es unverantwortlich finde, Ihnen noch länger Geld abzunehmen: es müßte denn sein, daß Sie sich der Tanzkunst auf eine ernstlichere Weise widmen wollten; was ein junger Mann in der Welt brauchte, besäßen Sie nun.« - »Und diesen Rat, Ihr Haus zu meiden, geben Sie mir, Emilie?« versetzte ich. - »Eben ich«, sagte sie, »aber nicht aus mir selbst. Hören Sie nur. Als Sie vorgestern wegeilten, ließ ich die Karte auf Sie schlagen, und derselbe Ausspruch wiederholte sich dreimal und immer stärker. Sie waren umgeben von allerlei Gutem und Vergnüglichem, von Freunden und großen Herren, an Geld fehlte es auch nicht. Die Frauen hielten sich in einiger Entfernung. Meine arme Schwester besonders stand immer am weitesten; eine andere rückte Ihnen immer näher, kam aber nie an Ihre Seite: denn es stellte sich ein Dritter dazwischen. Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich mich unter der zweiten Dame gedacht hatte, und nach diesem Bekenntnisse werden Sie meinen wohlmeinenden Rat am besten begreifen. Einem entfernten Freund habe ich mein Herz und meine Hand zugesagt, und bis jetzt liebt' ich ihn über alles; doch es wäre möglich, daß Ihre Gegenwart mir bedeutender würde als bisher, und was würden Sie für einen Stand zwischen zwei Schwestern haben, davon Sie die eine durch Neigung und die andere durch Kälte unglücklich gemacht hätten, und alle diese Qual um nichts und auf kurze Zeit. Denn wenn wir nicht schon wüßten, wer Sie sind und was Sie zu hoffen haben, so hätte mir es die Karte aufs deutlichste vor Augen gestellt. Leben Sie wohl«, sagte sie, und reichte mir die Hand. Ich zauderte. -»Nun«, sagte sie, indem sie mich gegen die Türe führte,»damit es wirklich das letzte mal sei, daß wir uns sprechen, so nehmen Sie, was ich Ihnen sonst versagen würde.« Sie fiel mir um den Hals und küßte mich aufs zärtlichste. Ich umfasste sie und drückte sie an mich.
In diesem Augenblicke flog die Seitentür auf, und die Schwester sprang in einem leichten aber anständigen Nachtkleide hervor und rief: »Du sollst nicht allein von ihm Abschied nehmen!« Emilie ließ mich fahren, und Lucinde ergriff mich, schloß sich fest an mein Herz, drückte ihre schwarzen Locken an meine Wangen und blieb eine Zeitlang in dieser Lage. Und so fand ich mich denn in der Klemme zwischen beiden Schwestern, wie mir's Emilie einen Augenblick vorher geweissagt hatte. Lucinde ließ mich los und sah mir ernst ins Gesicht. Ich wollte ihre Hand ergreifen und ihr etwas Freundliches sagen; allein sie wandte sich weg, ging mit starken Schritten einigemal im Zimmer auf und ab und warf sich dann in die Ecke des Sofas. Emilie trat zu ihr, ward aber sogleich weggewiesen, und hier entstand eine Szene, die mir noch in der Erinnerung peinlich ist, und die, ob sie gleich in der Wirklichkeit nichts Theatralisches hatte, sondern einer lebhaften jungen Französin ganz angemessen war, dennoch nur von einer guten empfindenden Schauspielerin auf dem Theater würdig wiederholt werden könnte.
Lucinde überhäufte ihre Schwester mit tausend Vorwürfen. »Es ist nicht das erste Herz«, rief sie aus,»das sich zu mir neigt, und das du mir entwendest. War es doch mit dem Abwesenden ebenso, der sich zuletzt unter meinen Augen mit dir verlobte. Ich mußte es ansehen, ich ertrug's; ich weiß aber, wieviele tausend Tränen es mich gekostet hat. Diesen hast du mir nun auch weggefangen, ohne jenen fahren zu lassen, und wie viele verstehst du nicht auf einmal zu halten. Ich bin offen und gutmütig, und jedermann glaubt, mich bald zu kennen und mich vernachlässigen zu dürfen; du bist versteckt und still, und die Leute glauben wunder was hinter dir verborgen sei. Aber es ist nichts dahinter als ein kaltes, selbstisches Herz, das sich alles aufzuopfern weiß; das aber kennt niemand so leicht, weil es tief in deiner Brust verborgen liegt, so wenig als mein warmes treues Herz, das ich offen trage, wie mein Gesicht.«
Emilie schwieg und hatte sich neben ihre Schwester gesetzt, die sich im Reden immer mehr erhitzte, und sich über gewisse besondere Dinge herausließ, die mir zu wissen eigentlich nicht frommte. Emilie dagegen, die ihre Schwester zu begütigen suchte, gab mir hinterwärts ein Zeichen, daß ich mich entfernen sollte; aber wie Eifersucht und Argwohn mit tausend Augen sehen, so schien auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie sprang auf und ging auf mich los, aber nicht mit Heftigkeit. Sie stand vor mir und schien auf etwas zu sinnen. Drauf sagte sie: »Ich weiß, daß ich Sie verloren habe; ich mache keine weitern Ansprüche auf Sie. Aber du sollst ihn auch nicht haben, Schwester!« Sie faßte mich mit diesen Worten ganz eigentlich beim Kopf, indem sie mir mit beiden Händen in die Locken fuhr, mein Gesicht an das ihre drückte und mich zu wiederholten Malen auf den Mund küßte. »Nun«, rief sie aus, »fürchte meine Verwünschung. Unglück über Unglück für immer und immer auf diejenige, die zum ersten Male nach mir diese Lippen küßt! Wage es nun wieder mit ihm anzubinden; ich weiß, der Himmel erhört mich diesmal. Und Sie, mein Herr, eilen Sie nun, eilen Sie, was Sie können!«Ich flog die Treppe hinunter mit dem festen Vorsatze, das Haus nie wieder zu betreten.

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