Als ich nun mancherlei Vorschläge, wie ich dies anzufangen gedächte, Mercken vorzutragen anfing, spottete er mein und fragte, was denn das ewige Arbeiten und Umarbeiten heißen solle? Die Sache werde dadurch nur anders und selten besser; man müsse sehn, was das eine für Wirkung tue, und dann immer wieder was Neues unternehmen. - »Bei Zeit auf die Zäun’, so trocknen die Windeln!« rief er spruchwörtlich aus; das Säumen und Zaudern mache nur unsichere Menschen. Ich erwiderte ihm dagegen, das es unangenehm sein würde, eine Arbeit, an die ich so viele Neigung verwendet, einem Buchhändler anzubieten, und mir vielleicht gar eine abschlägige Antwort zu holen: denn wie sollten sie einen jungen, namenlosen und noch dazu verwegenen Schriftsteller beurteilen? Schon meine »Mitschuldigen«, auf die ich etwas hielt, hätte ich, als meine Scheu vor der Presse nach und nach verschwand, gern gedruckt gesehn; allein ich fand keinen geneigten Verleger.
Hier ward nun meines Freundes technisch-merkantilische Lust auf einmal rege. Durch die Frankfurter Zeitung hatte er sich schon mit Gelehrten und Buchhändlern in Verbindung gesetzt, wir sollten daher, wie er meinte, dieses seltsame und gewiss auffallende Werk auf eigne Kosten herausgeben, und es werde davon ein guter Vorteil zu ziehen sein; wie er denn, mit so vielen andern, öfters den Buchhändlern ihren Gewinn nachzurechnen pflegte, der bei manchen Werken freilich groß war, besonders wenn man außer acht ließ, wie viel wieder an anderen Schriften und durch sonstige Handelsverhältnisse verloren geht. Genug, es ward ausgemacht, daß ich das Papier anschaffen, er aber für den Druck sorgen solle; und somit ging es frisch ans Werk, und mir gefiel es gar nicht übel, meine wilde dramatische Skizze nach und nach in saubern Aushängebogen zu sehen: sie nahm sich wirklich reinlicher aus, als ich selbst gedacht. Wir vollendeten das Werk, und es ward in vielen Paketen versendet. Nun dauerte es nicht lange, so entstand überall eine große Bewegung; das Aufsehen, das es machte, ward allgemein. Weil wir aber, bei unsern beschränkten Verhältnissen, die Exemplare nicht schnell genug nach allen Orten zu verteilen vermochten, so erschien plötzlich ein Nachdruck; und da überdies gegen unsere Aussendungen freilich so bald keine Erstattung, am allerwenigsten eine bare, zurückerfolgen konnte: so war ich, als Haussohn, dessen Kasse nicht in reichlichen Umständen sein konnte, zu einer Zeit, wo man mir von allen Seiten her viel Aufmerksamkeit, ja sogar vielen Beifall erwies, höchst verlegen, wie ich nur das Papier bezahlen sollte, auf welchem ich die Welt mit meinem Talent bekannt gemacht hatte. Merck, der sich schon eher zu helfen wusste, hegte dagegen die besten Hoffnungen, daß sich nächstens alles wieder ins gleiche stellen würde, ich bin aber nichts davon gewahr worden.
Schon bei den kleinen Flugschriften, die ich ungenannt herausgab, hatte ich das Publikum und die Rezensenten auf meine eignen Kosten kennen lernen, und ich war auf Lob und Tadel so ziemlich vorbereitet, besonders da ich seit mehreren Jahren immer nachging und beobachtete, wie man die Schriftsteller behandle, denen ich eine vorzügliche Aufmerksamkeit gewidmet hatte.
Hier konnte ich selbst in meiner Unsicherheit deutlich bemerken, wie doch so vieles grundlos, einseitig und willkürlich in den Tag hinein gesagt wurde. Mir begegnete nun dasselbe, und wenn ich nicht schon einigen Grund gehabt hätte, wie irre hätten mich die Widersprüche gebildeter Menschen machen müssen! So stand z.B. im »Deutschen Merkur« eine weitläuftige wohlgemeinte Rezension, verfasst von irgend einem beschränkten Geiste. Wo er tadelte, konnte ich nicht mit ihm einstimmen, noch weniger, wenn er angab, wie die Sache hätte können anders gemacht werden. Erfreulich war es mir daher, wenn ich unmittelbar hinterdrein eine heitere Erklärung Wielands antraf, der im allgemeinen dem Rezensenten widersprach und sich meiner gegen ihn annahm. Indessen war doch jenes auch gedruckt, ich sah ein Beispiel von der dumpfen Sinnesart unterrichteter und gebildeter Männer; wie mochte es erst im großen Publikum aussehn!
Das Vergnügen, mich mit Mercken über solche Dinge zu besprechen und aufzuklären, war von kurzer Dauer: denn die einsichtsvolle Landgräfin von Hessen -Darmstadt nahm ihn, auf ihrer Reise nach Petersburg, in ihr Gefolge. Die ausführlichen Briefe, die er mir schrieb, gaben mir eine weitere Aussicht in die Welt, die ich mir um so mehr zu eigen machen konnte, als die Schilderungen von einer bekannten und befreundeten Hand gezeichnet waren. Allein ich blieb dem ungeachtet dadurch auf längere Zeit sehr einsam, und entbehrte gerade in dieser wichtigen Epoche seiner aufklärenden Teilnahme, deren ich denn doch so sehr bedurfte.
Denn wie man wohl den Entschluss faßt, Soldat zu werden und in den Krieg zu gehen, sich auch mutig vorsetzt, Gefahr und Beschwerlichkeiten zu ertragen, sowie auch Wunden und Schmerzen, ja den Tod zu erdulden, aber sich dabei keineswegs die besonderen Fälle vorstellt, unter welchen diese im allgemeinen erwarteten Übel uns äußerst unangenehm überraschen können: so ergeht es einem jeden, der sich in die Welt wagt, und besonders dem Autor, und so ging es auch mir. Da der größte Teil des Publikums mehr durch den Stoff als durch die Behandlung angeregt wird, so war die Teilnahme junger Männer an meinen Stücken meistens stoffartig. Sie glaubten daran ein Panier zu sehn, unter dessen Vorschritt alles, was in der Jugend Wildes und Ungeschlachtes lebt, sich wohl Raum machen dürfte, und gerade die besten Köpfe, in denen schon vorläufig etwas Ähnliches spukte, wurden davon hingerissen. Ich besitze noch von dem trefflichen und in manchem Betracht einzigen Bürger einen Brief, ich weiß nicht an wen, der als wichtiger Beleg dessen gelten kann, was jene Erscheinung damals gewirkt und aufgeregt hat. Von der Gegenseite tadelten mich gesetzte Männer, das ich das Faustrecht mit zu günstigen Farben geschildert habe, ja sie legten mir die Absicht unter, daß ich jene unregelmäßigen Zeiten wieder einzuführen gedächte. Noch andere hielten mich für einen grundgelehrten Mann, und verlangten, ich sollte die Originalerzählung des guten Götz neu mit Noten herausgeben; wozu ich mich keineswegs geschickt fühlte, ob ich es mir gleich gefallen ließ, daß man meinen Namen auf den Titel des frischen Abdrucks zu setzen beliebte. Man hatte, weil ich die Blumen eines großen Daseins abzupflücken verstand, mich für einen sorgfältigen Kunstgärtner gehalten. Diese meine Gelehrtheit und gründliche Sachkenntnis wurde jedoch wieder von andern in Zweifel gezogen. Ein angesehener Geschäftsmann macht mir ganz unvermutet die Visite. Ich sehe mich dadurch höchst geehrt, und um so mehr, als er sein Gespräch mit dem Lobe meines »Götz von Berlichingen« und meiner guten Einsichten in die deutsche Geschichte anfängt; allein ich finde mich doch betroffen, als ich bemerke, er sei eigentlich nur gekommen, um mich zu belehren, daß Götz von Berlichingen kein Schwager von Franz von Sickingen gewesen sei, und daß ich also durch dieses poetische Ehebündnis gar sehr gegen die Geschichte verstoßen habe. Ich suchte mich dadurch zu entschuldigen, daß Götz ihn selber so nenne; allein mir ward erwidert, daß dieses eine Redensart sei, welche nur ein näheres freundschaftliches Verhältnis ausdrücke, wie man ja in der neueren Zeit die Postillone auch Schwager nenne, ohne daß ein Familienband sie an uns knüpfe. Ich dankte, so gut ich konnte für diese Belehrung und bedauerte nur, daß dem Übel nicht mehr abzuhelfen sei. Dieses ward von seiner Seite gleichfalls bedauert, wobei er mich freundlichst zu fernerem Studium der deutschen Geschichte und Verfassung ermahnte, und mir dazu seine Bibliothek anbot, von der ich auch in der Folge guten Gebrauch machte. Das Lustigste jedoch, was mir in dieser Art begegnete, war der Besuch eines Buchhändlers, der, mit einer heiteren Freimütigkeit, sich ein Dutzend solcher Stücke ausbat, und sie gut zu honorieren versprach. Das wir uns darüber sehr lustig machten, läßt sich denken, und doch hatte er im Grunde so unrecht nicht denn ich war schon im Stillen beschäftigt, von diesem Wendepunkt der deutschen Geschichte mich vor- und rückwärts zu bewegen und die Hauptereignisse in gleichem Sinn zu bearbeiten. Ein löblicher Vorsatz, der, wie so manche andere, durch die flüchtig vorbeirauschende Zeit vereitelt worden.
Jenes Schauspiel jedoch beschäftigte bisher den Verfasser nicht allein, sondern während es ersonnen, geschrieben, umgeschrieben, gedruckt und verarbeitet wurde, bewegten sich noch viele andere Bilder und Vorschläge in seinem Geiste. Diejenigen, welche dramatisch zu behandeln waren, erhielten den Vorzug, am öftersten durchgedacht und der Vollendung angenähert zu werden; allein zu gleicher Zeit entwickelte sich ein Übergang zu einer andern Darstellungsart, welche nicht zu den dramatischen gerechnet zu werden pflegt und doch mit ihnen große Verwandtschaft hat. Dieser Übergang geschah hauptsächlich durch eine Eigenheit des Verfassers, die sogar das Selbstgespräch zum Zwiegespräch umbildete.
Gewöhnt, am liebsten seine Zeit in Gesellschaft zuzubringen, verwandelte er auch das einsame Denken zur geselligen Unterhaltung, und zwar auf folgende Weise. Er pflegte nämlich, wenn er sich allein sah, irgend eine Person seiner Bekanntschaft im Geiste zu sich zu rufen. Er bat sie, nieder zu sitzen, ging an ihr auf und ab, blieb vor ihr stehen, und verhandelte mit ihr den Gegenstand, der ihm eben im Sinne lag. Hierauf antwortete sie gelegentlich, oder gab durch die gewöhnliche Mimik ihr Zu- oder Abstimmen zu erkennen; wie denn jeder Mensch hierin etwas Eignes hat. Sodann fuhr der Sprechende fort, dasjenige, was dem Gaste zu gefallen schien, weiter auszuführen oder, was derselbe mißbilligte, zu bedingen, näher zu bestimmen, und gab auch wohl zuletzt seine These gefällig auf. Das Wunderlichste war dabei, daß er niemals Personen seiner näheren Bekanntschaft wählte, sondern solche, die er nur selten sah, ja mehrere, die weit in der Welt entfernt lebten, und mit denen er nur in einem vorübergehenden Verhältnis gestanden; aber es waren meist Personen, die, mehr empfänglicher als ausgebender Natur, mit reinem Sinne einen ruhigen Anteil an Dingen zu nehmen bereit sind, die in ihrem Gesichtskreise liegen, ob er sich gleich manchmal zu diesen dialektischen Übungen widersprechende Geister herbeirief. Hiezu bequemten sich nun Personen beiderlei Geschlechts, jedes Alters und Standes, und erwiesen sich gefällig und anmutig, da man sich nur von Gegenständen unterhielt, die ihnen deutlich und lieb waren. Höchst wunderbar würde es jedoch manchen vorgekommen sein, wenn sie hätten erfahren können, wie oft sie zu dieser ideellen Unterhaltung berufen wurden, da sich manche zu einer wirklichen wohl schwerlich eingefunden hätten.
Wie nahe ein solches Gespräch im Geiste mit dem Briefwechsel verwandt sei, ist klar genug, nur das man hier ein hergebrachtes Vertrauen erwidert sieht, und dort ein neues, immer wechselnder, unerwidertes sich selbst zu schaffen weiß. Als daher jener Überdruß zu schildern war, mit welchem die Menschen, ohne durch Not gedrungen zu sein, das Leben empfinden, mußte der Verfasser sogleich darauf fallen, seine Gesinnung in Briefen darzustellen: denn jeder Unmut ist eine Geburt, ein Zögling der Einsamkeit; wer sich ihm ergibt, flieht allen Widerspruch, und was widerspricht ihm mehr als jede heitere Gesellschaft? Der Lebensgenuß anderer ist ihm ein peinlicher Vorwurf, und so wird er durch das, was ihn aus sich selbst herauslocken sollte, in sein Innerstes zurückgewiesen. Mag er sich allenfalls darüber äußern, so wird es durch Briefe geschehn: denn einem schriftlichen Erguß, er sei fröhlich oder verdrießlich, setz sich doch niemand unmittelbar entgegen; eine mit Gegengründen verfaßte Antwort aber gibt dem Einsamen Gelegenheit, sich in seinen Grillen zu befestigen, einen Anlass, sich noch mehr zu verstocken. Jene in diesem Sinne geschriebenen Wertherischen Briefe haben nun wohl deshalb einen so mannigfaltigen Reiz, weil ihr verschiedener Inhalt erst in solchen ideellen Dialogen mit mehreren Individuen durchgesprochen worden, sie sodann aber, in der Komposition selbst, nur an einen Freund und Teilnehmer gerichtet erscheinen. Mehr über die Behandlung des so viel besprochenen Werkleins zu sagen, möchte kaum tätlich sein; über den Inhalt jedoch läßt sich noch einiges hinzufügen.
Jener Ekel vor dem Leben hat seine physischen und seine sittlichen Ursachen, jene wollen wir dem Arzt, diese dem Moralisten zu erforschen überlassen, und, bei einer so oft durchgearbeiteten Materie, nur den Hauptpunkt beachten, wo sich jene Erscheinung am deutlichsten ausspricht. Alles Behagen am Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr der äußeren Dinge gegründet. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Blüten und Früchte, und was uns sonst von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genießen können und sollen, diese sind die eigentlichen Triebfedern des irdischen Lebens. Je offener wir für diese Genüsse sind, desto glücklicher fühlen wir uns; wälzt sich aber die Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor uns auf und nieder, ohne daß wir daran teilnehmen, sind wir gegen so holde Anerbietungen unempfänglich: dann tritt das größte Übel, die schwerste Krankheit ein, man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last. Von einem Engländer wird erzählt, er habe sich aufgehangen, um nicht mehr täglich sich aus- und anzuziehn. Ich kannte einen wackeren Gärtner, den Aufseher einer großen Parkanlage, der einmal mit Verdruss ausrief: »Soll ich denn immer diese Regenwolken von Abend gegen Morgen ziehen sehn!« Man erzählt von einem unserer trefflichsten Männer, er habe mit Verdruß das Frühjahr wieder aufgrünen gesehn, und gewünscht, es möchte zur Abwechselung einmal rot erscheinen. Dieses sind eigentlich die Symptome des Lebensüberdrusses, der nicht selten in den Selbstmord ausläuft, und bei denkenden in sich gekehrten Menschen häufiger war, als man glauben kann.
Nichts aber veranlaßt mehr diesen Überdruß, als die Wiederkehr der Liebe. Die erste Liebe, sagt man mit Recht, sei die einzige: denn in der zweiten und durch die zweite geht schon der höchste Sinn der Liebe verloren. Der Begriff des Ewigen und Unendlichen, der sie eigentlich hebt und trägt, ist zerstört, sie erscheint vergänglich wie alles Wiederkehrende. Die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die in der verflochtenen kultivierten Welt die liebenden und begehrenden Empfindungen spaltet, bringt auch hier eine Übertriebenheit hervor, die nichts Gutes stiften kann.
Ferner wird ein junger Mann, wo nicht gerade an sich selbst, doch an andern bald gewahr, daß moralische Epochen ebensogut wie die Jahreszeiten wechseln. Die Gnade der Großen, die Gunst der Gewaltigen, die Förderung der Tätigen, die Neigung der Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wandelt auf und nieder, ohne daß wir es festhalten können, so wenig als Sonne, Mond und Sterne; und doch sind diese Dinge nicht bloße Naturereignisse: Sie entgehen uns durch eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder Geschick, aber sie wechseln, und wir sind ihrer niemals sicher.
Was aber den fühlenden Jüngling am meisten ängstigt, ist die unaufhaltsame Wiederkehr unserer Fehler: denn wie spät lernen wir einsehen, das wir, indem wir unsere Tugenden ausbilden, unsere Fehler zugleich mit anbauen. Jene ruhen auf diesen wie auf ihrer Wurzel, und diese verzweigen sich insgeheim ebenso stark und so mannigfaltig als jene im offenbaren Lichte. Weil wir nun unsere Tugenden meist mit Willen und Bewußtsein ausüben, von unseren Fehlern aber unbewußt überrascht werden, so machen uns jene selten einige Freude, diese hingegen beständig Not und Qual. Hier liegt der schwerste Punkt der Selbsterkenntnis, der sie beinah unmöglich macht. Denke man sich nun hiezu ein siedend jugendliches Blut, eine durch einzelne Gegenstände leicht zu paralysierende Einbildungskraft, hiezu die schwankenden Bewegungen des Tags, und man wird ein ungeduldiges Streben, sich aus einer solchen Klemme zu befreien nicht unnatürlich finden.
Solche düstere Betrachtungen jedoch, welche denjenigen, der sich ihnen überläßt, ins Unendliche führen, hätten sich in den Gemütern deutscher Jünglinge nicht so entschieden entwickeln können, hätte sie nicht eine äußere Veranlassung zu diesem traurigen Geschäft angeregt und gefördert. Es geschah dieses durch die englische Literatur, besonders durch die poetische, deren große ein ernster Trübsinn begleitet, welchen sie einem jeden mitteilt, der sich mit ihr beschäftigt. Der geistreiche Brite sieht sich von Jugend auf von einer bedeutenden Welt umgeben, die alle seine Kräfte anregt; er wird früher oder später gewahr, daß er allen seinen Verstand zusammennehmen muß, um sich mit ihr abzufinden. Wie viele ihrer Dichter haben nicht in der Jugend ein loses und rauschendes Leben geführt, und sich früh berechtigt gefunden, die irdischen Dinge der Eitelkeit anzuklagen! Wie viele derselben haben sich in den Weltgeschäften versucht, und im Parlament, bei Hofe, im Ministerium, auf Gesandtschaftsposten teils die ersten, teils untere Rollen gespielt, und sich bei inneren Unruhen, Staats- und Regierungsveränderungen mitwirkend erwiesen und, wo nicht an sich selbst, doch an ihren Freunden und Gönnern öfter traurige als erfreuliche Erfahrungen gemacht! Wie viele sind verbannt, vertrieben, im Gefängnis gehalten, an ihren Gütern beschädigt worden!
Aber auch nur Zuschauer von so großen Ereignissen zu sein, fordert den Menschen zum Ernst auf, und wohin kann der Ernst weiter führen, als zur Betrachtung der Vergänglichkeit und des Unwerts aller irdischen Dinge. Ernsthaft ist auch der Deutsche, und so war ihm die englische Poesie höchst gemäß, und, weil sie sich aus einem höheren Zustande herschrieb, imposant. Man findet in ihr durchaus einen großen, tüchtigen, weltgeübten Verstand, ein tiefes, zartes Gemüt, ein vortreffliches Wollen, ein leidenschaftliches Wirken: die herrlichsten Eigenschaften, die man von geistreichen gebildeten Menschen rühmen kann; aber das alles zusammengenommen macht noch keinen Poeten. Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen. Man betrachte nun in diesem Sinne die Mehrzahl der englischen meist moralisch-didaktischen Gedichte, und sie werden im Durchschnitt nur einen düstern Überdruss des Lebens zeigen. Nicht Youngs »Nachtgedanken« allein, wo dieses Thema vorzüglich durchgeführt ist, sondern auch die übrigen betrachtenden Gedichte schweifen, eh man sich’s versieht, in dieses traurige Gebiet, wo dem Verstande eine Aufgabe zugewiesen ist, die er zu lösen nicht hinreicht, da ihn ja selbst die Religion, wie er sich solche allenfalls erbauen kann, im Stiche läßt. Ganze Bände könnte man zusammendrucken, welche als ein Kommentar zu jenem schrecklichen Texte gelten können:
Then old Age and Experience, hand in hand,
Lead him to death, and make him understand,
After a search so painful and so long,
That all his life he has been in the wrong.
Was ferner die englischen Dichter noch zu Menschenhassern vollendet und das unangenehme Gefühl von Widerwillen gegen alles über ihre Schriften verbreitet, ist, daß sie sämtlich, bei den vielfachen Spaltungen ihres Gemeinwesens, wo nicht ihr ganzes Leben, doch den besten Teil desselben einer oder der andern Partei widmen müssen. Da nun ein solcher Schriftsteller die Seinigen, denen er ergeben ist, die Sache, der er anhängt, nicht loben und herausstreichen darf, weil er sonst nur Neid und Widerwillen erregen würde; so übt er sein Talent, indem er von den Gegnern so übel und schlecht als möglich spricht, und die satirischen Waffen, so sehr er nur vermag, schärft, ja vergiftet. Geschieht dieses nun von beiden Teilen, so wird die dazwischen liegende Welt zerstört und rein aufgehoben, so daß man in einem großen, verständig tätigen Volksverein zum allergelindesten nichts als Torheit und Wahnsinn entdecken kann. Selbst ihre zärtlichen Gedichte beschäftigen sich mit traurigen Gegenständen. Hier stirbt ein verlassenes Mädchen, dort ertrinkt ein getreuer Liebhaber, oder wird, ehe er voreilig schwimmend seine Geliebte erreicht, von einem Haifische gefressen; und wenn ein Dichter wie Gray sich auf einem Dorfkirchhofe lagert, und jene bekannten Melodien wieder anstimmt, so kann er
versichert sein, eine Anzahl Freunde der Melancholie um sich zu versammeln. Miltons »Allegro« muß erst in heftigen Versen den Unmut verscheuchen ehe er zu einer sehr mäßigen Lust gelangen kann, und selbst der heitere Goldsmith verliert sich in elegische Empfindungen, wenn uns sein »Deserted village« ein verlorenes Paradies, das sein »Traveller« auf der ganzen Erde wiedersucht, so lieblich als traurig darstellt.
Ich zweifle nicht, das man mir auch muntre Werke, heitere Gedichte werde vorzeigen und entgegensetzen können; allein die meisten und besten derselben gehören gewiß in die ältere Epoche, und die neueren, die man dahin rechnen könnte, neigen sich gleichfalls gegen die Satire, sind bitter und besonders die Frauen verachtend.
Genug, jene oben im allgemeinen erwähnten ernsten und die menschliche Natur untergrabenden Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen andern aussuchten, der eine, nach seiner Gemütsart, die leichtere elegische Trauer, der andere die schwer lastende, alles aufgebende Verzweiflung suchend. Sonderbar genug bestärkte unser Vater und Lehrer Shakespeare, der so reine Heiterkeit zu verbreiten weiß, selbst diesen Unwillen. Hamlet und seine Monologen blieben Gespenster, die durch alle jungen Gemüter ihren Spuk trieben. Die Hauptstellen wußte ein jeder auswendig und rezitierte sie gern, und jedermann glaubte, er dürfe ebenso melancholisch sein als der Prinz von Dänemark, ob er gleich keinen Geist ge-sehn und keinen königlichen Vater zu rächen hatte.
Damit aber ja allem diesem Trübsinn nicht ein vollkommen passendes Lokal abgehe, so hatte uns Ossian bis ans letzte Thule gelockt, wo wir denn auf grauer, unendlicher Heide, unter vorstarrenden bemoosten Grabsteinen wandelnd, das durch einen schauerlichen Wind bewegte Gras um uns, und einen schwer bewölkten Himmel über uns erblickten. Bei Mondenschein ward dann erst diese kaledonische Nacht zum Tage; untergegangene Helden, verblühte Mädchen umschwebten uns, bis wir zuletzt den Geist von Loda wirklich in seiner furchtbaren Gestalt zu erblicken glaubten.
In einem solchen Element, bei solcher Umgebung, bei Liebhabereien und Studien dieser Art, von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosen, bürgerlichen Leben hinhalten zu müssen, befreundete man sich, in unmutigem Übermut, mit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eignem Belieben allenfalls verlassen zu können, und half sich damit über die Unbilden und Langeweile der Tage notdürftig genug hin. Diese Gesinnung war so allgemein, daß eben »Werther« deswegen die große Wirkung tat, weil er überall anschlug und das Innere eines kranken jugendlichen Wahns öffentlich und faßlich darstellte. Wie genau die Engländer mit diesem Jammer bekannt waren, beweisen die wenigen bedeutenden, vor dem Erscheinen »Werthers« geschriebenen Zeilen:
To griefs congenial prone,
More wounds than nature gave he knew,
While misery’s form his fancy drew
In dark ideal hues and horrors not its own.
Hier ward nun meines Freundes technisch-merkantilische Lust auf einmal rege. Durch die Frankfurter Zeitung hatte er sich schon mit Gelehrten und Buchhändlern in Verbindung gesetzt, wir sollten daher, wie er meinte, dieses seltsame und gewiss auffallende Werk auf eigne Kosten herausgeben, und es werde davon ein guter Vorteil zu ziehen sein; wie er denn, mit so vielen andern, öfters den Buchhändlern ihren Gewinn nachzurechnen pflegte, der bei manchen Werken freilich groß war, besonders wenn man außer acht ließ, wie viel wieder an anderen Schriften und durch sonstige Handelsverhältnisse verloren geht. Genug, es ward ausgemacht, daß ich das Papier anschaffen, er aber für den Druck sorgen solle; und somit ging es frisch ans Werk, und mir gefiel es gar nicht übel, meine wilde dramatische Skizze nach und nach in saubern Aushängebogen zu sehen: sie nahm sich wirklich reinlicher aus, als ich selbst gedacht. Wir vollendeten das Werk, und es ward in vielen Paketen versendet. Nun dauerte es nicht lange, so entstand überall eine große Bewegung; das Aufsehen, das es machte, ward allgemein. Weil wir aber, bei unsern beschränkten Verhältnissen, die Exemplare nicht schnell genug nach allen Orten zu verteilen vermochten, so erschien plötzlich ein Nachdruck; und da überdies gegen unsere Aussendungen freilich so bald keine Erstattung, am allerwenigsten eine bare, zurückerfolgen konnte: so war ich, als Haussohn, dessen Kasse nicht in reichlichen Umständen sein konnte, zu einer Zeit, wo man mir von allen Seiten her viel Aufmerksamkeit, ja sogar vielen Beifall erwies, höchst verlegen, wie ich nur das Papier bezahlen sollte, auf welchem ich die Welt mit meinem Talent bekannt gemacht hatte. Merck, der sich schon eher zu helfen wusste, hegte dagegen die besten Hoffnungen, daß sich nächstens alles wieder ins gleiche stellen würde, ich bin aber nichts davon gewahr worden.
Schon bei den kleinen Flugschriften, die ich ungenannt herausgab, hatte ich das Publikum und die Rezensenten auf meine eignen Kosten kennen lernen, und ich war auf Lob und Tadel so ziemlich vorbereitet, besonders da ich seit mehreren Jahren immer nachging und beobachtete, wie man die Schriftsteller behandle, denen ich eine vorzügliche Aufmerksamkeit gewidmet hatte.
Hier konnte ich selbst in meiner Unsicherheit deutlich bemerken, wie doch so vieles grundlos, einseitig und willkürlich in den Tag hinein gesagt wurde. Mir begegnete nun dasselbe, und wenn ich nicht schon einigen Grund gehabt hätte, wie irre hätten mich die Widersprüche gebildeter Menschen machen müssen! So stand z.B. im »Deutschen Merkur« eine weitläuftige wohlgemeinte Rezension, verfasst von irgend einem beschränkten Geiste. Wo er tadelte, konnte ich nicht mit ihm einstimmen, noch weniger, wenn er angab, wie die Sache hätte können anders gemacht werden. Erfreulich war es mir daher, wenn ich unmittelbar hinterdrein eine heitere Erklärung Wielands antraf, der im allgemeinen dem Rezensenten widersprach und sich meiner gegen ihn annahm. Indessen war doch jenes auch gedruckt, ich sah ein Beispiel von der dumpfen Sinnesart unterrichteter und gebildeter Männer; wie mochte es erst im großen Publikum aussehn!
Das Vergnügen, mich mit Mercken über solche Dinge zu besprechen und aufzuklären, war von kurzer Dauer: denn die einsichtsvolle Landgräfin von Hessen -Darmstadt nahm ihn, auf ihrer Reise nach Petersburg, in ihr Gefolge. Die ausführlichen Briefe, die er mir schrieb, gaben mir eine weitere Aussicht in die Welt, die ich mir um so mehr zu eigen machen konnte, als die Schilderungen von einer bekannten und befreundeten Hand gezeichnet waren. Allein ich blieb dem ungeachtet dadurch auf längere Zeit sehr einsam, und entbehrte gerade in dieser wichtigen Epoche seiner aufklärenden Teilnahme, deren ich denn doch so sehr bedurfte.
Denn wie man wohl den Entschluss faßt, Soldat zu werden und in den Krieg zu gehen, sich auch mutig vorsetzt, Gefahr und Beschwerlichkeiten zu ertragen, sowie auch Wunden und Schmerzen, ja den Tod zu erdulden, aber sich dabei keineswegs die besonderen Fälle vorstellt, unter welchen diese im allgemeinen erwarteten Übel uns äußerst unangenehm überraschen können: so ergeht es einem jeden, der sich in die Welt wagt, und besonders dem Autor, und so ging es auch mir. Da der größte Teil des Publikums mehr durch den Stoff als durch die Behandlung angeregt wird, so war die Teilnahme junger Männer an meinen Stücken meistens stoffartig. Sie glaubten daran ein Panier zu sehn, unter dessen Vorschritt alles, was in der Jugend Wildes und Ungeschlachtes lebt, sich wohl Raum machen dürfte, und gerade die besten Köpfe, in denen schon vorläufig etwas Ähnliches spukte, wurden davon hingerissen. Ich besitze noch von dem trefflichen und in manchem Betracht einzigen Bürger einen Brief, ich weiß nicht an wen, der als wichtiger Beleg dessen gelten kann, was jene Erscheinung damals gewirkt und aufgeregt hat. Von der Gegenseite tadelten mich gesetzte Männer, das ich das Faustrecht mit zu günstigen Farben geschildert habe, ja sie legten mir die Absicht unter, daß ich jene unregelmäßigen Zeiten wieder einzuführen gedächte. Noch andere hielten mich für einen grundgelehrten Mann, und verlangten, ich sollte die Originalerzählung des guten Götz neu mit Noten herausgeben; wozu ich mich keineswegs geschickt fühlte, ob ich es mir gleich gefallen ließ, daß man meinen Namen auf den Titel des frischen Abdrucks zu setzen beliebte. Man hatte, weil ich die Blumen eines großen Daseins abzupflücken verstand, mich für einen sorgfältigen Kunstgärtner gehalten. Diese meine Gelehrtheit und gründliche Sachkenntnis wurde jedoch wieder von andern in Zweifel gezogen. Ein angesehener Geschäftsmann macht mir ganz unvermutet die Visite. Ich sehe mich dadurch höchst geehrt, und um so mehr, als er sein Gespräch mit dem Lobe meines »Götz von Berlichingen« und meiner guten Einsichten in die deutsche Geschichte anfängt; allein ich finde mich doch betroffen, als ich bemerke, er sei eigentlich nur gekommen, um mich zu belehren, daß Götz von Berlichingen kein Schwager von Franz von Sickingen gewesen sei, und daß ich also durch dieses poetische Ehebündnis gar sehr gegen die Geschichte verstoßen habe. Ich suchte mich dadurch zu entschuldigen, daß Götz ihn selber so nenne; allein mir ward erwidert, daß dieses eine Redensart sei, welche nur ein näheres freundschaftliches Verhältnis ausdrücke, wie man ja in der neueren Zeit die Postillone auch Schwager nenne, ohne daß ein Familienband sie an uns knüpfe. Ich dankte, so gut ich konnte für diese Belehrung und bedauerte nur, daß dem Übel nicht mehr abzuhelfen sei. Dieses ward von seiner Seite gleichfalls bedauert, wobei er mich freundlichst zu fernerem Studium der deutschen Geschichte und Verfassung ermahnte, und mir dazu seine Bibliothek anbot, von der ich auch in der Folge guten Gebrauch machte. Das Lustigste jedoch, was mir in dieser Art begegnete, war der Besuch eines Buchhändlers, der, mit einer heiteren Freimütigkeit, sich ein Dutzend solcher Stücke ausbat, und sie gut zu honorieren versprach. Das wir uns darüber sehr lustig machten, läßt sich denken, und doch hatte er im Grunde so unrecht nicht denn ich war schon im Stillen beschäftigt, von diesem Wendepunkt der deutschen Geschichte mich vor- und rückwärts zu bewegen und die Hauptereignisse in gleichem Sinn zu bearbeiten. Ein löblicher Vorsatz, der, wie so manche andere, durch die flüchtig vorbeirauschende Zeit vereitelt worden.
Jenes Schauspiel jedoch beschäftigte bisher den Verfasser nicht allein, sondern während es ersonnen, geschrieben, umgeschrieben, gedruckt und verarbeitet wurde, bewegten sich noch viele andere Bilder und Vorschläge in seinem Geiste. Diejenigen, welche dramatisch zu behandeln waren, erhielten den Vorzug, am öftersten durchgedacht und der Vollendung angenähert zu werden; allein zu gleicher Zeit entwickelte sich ein Übergang zu einer andern Darstellungsart, welche nicht zu den dramatischen gerechnet zu werden pflegt und doch mit ihnen große Verwandtschaft hat. Dieser Übergang geschah hauptsächlich durch eine Eigenheit des Verfassers, die sogar das Selbstgespräch zum Zwiegespräch umbildete.
Gewöhnt, am liebsten seine Zeit in Gesellschaft zuzubringen, verwandelte er auch das einsame Denken zur geselligen Unterhaltung, und zwar auf folgende Weise. Er pflegte nämlich, wenn er sich allein sah, irgend eine Person seiner Bekanntschaft im Geiste zu sich zu rufen. Er bat sie, nieder zu sitzen, ging an ihr auf und ab, blieb vor ihr stehen, und verhandelte mit ihr den Gegenstand, der ihm eben im Sinne lag. Hierauf antwortete sie gelegentlich, oder gab durch die gewöhnliche Mimik ihr Zu- oder Abstimmen zu erkennen; wie denn jeder Mensch hierin etwas Eignes hat. Sodann fuhr der Sprechende fort, dasjenige, was dem Gaste zu gefallen schien, weiter auszuführen oder, was derselbe mißbilligte, zu bedingen, näher zu bestimmen, und gab auch wohl zuletzt seine These gefällig auf. Das Wunderlichste war dabei, daß er niemals Personen seiner näheren Bekanntschaft wählte, sondern solche, die er nur selten sah, ja mehrere, die weit in der Welt entfernt lebten, und mit denen er nur in einem vorübergehenden Verhältnis gestanden; aber es waren meist Personen, die, mehr empfänglicher als ausgebender Natur, mit reinem Sinne einen ruhigen Anteil an Dingen zu nehmen bereit sind, die in ihrem Gesichtskreise liegen, ob er sich gleich manchmal zu diesen dialektischen Übungen widersprechende Geister herbeirief. Hiezu bequemten sich nun Personen beiderlei Geschlechts, jedes Alters und Standes, und erwiesen sich gefällig und anmutig, da man sich nur von Gegenständen unterhielt, die ihnen deutlich und lieb waren. Höchst wunderbar würde es jedoch manchen vorgekommen sein, wenn sie hätten erfahren können, wie oft sie zu dieser ideellen Unterhaltung berufen wurden, da sich manche zu einer wirklichen wohl schwerlich eingefunden hätten.
Wie nahe ein solches Gespräch im Geiste mit dem Briefwechsel verwandt sei, ist klar genug, nur das man hier ein hergebrachtes Vertrauen erwidert sieht, und dort ein neues, immer wechselnder, unerwidertes sich selbst zu schaffen weiß. Als daher jener Überdruß zu schildern war, mit welchem die Menschen, ohne durch Not gedrungen zu sein, das Leben empfinden, mußte der Verfasser sogleich darauf fallen, seine Gesinnung in Briefen darzustellen: denn jeder Unmut ist eine Geburt, ein Zögling der Einsamkeit; wer sich ihm ergibt, flieht allen Widerspruch, und was widerspricht ihm mehr als jede heitere Gesellschaft? Der Lebensgenuß anderer ist ihm ein peinlicher Vorwurf, und so wird er durch das, was ihn aus sich selbst herauslocken sollte, in sein Innerstes zurückgewiesen. Mag er sich allenfalls darüber äußern, so wird es durch Briefe geschehn: denn einem schriftlichen Erguß, er sei fröhlich oder verdrießlich, setz sich doch niemand unmittelbar entgegen; eine mit Gegengründen verfaßte Antwort aber gibt dem Einsamen Gelegenheit, sich in seinen Grillen zu befestigen, einen Anlass, sich noch mehr zu verstocken. Jene in diesem Sinne geschriebenen Wertherischen Briefe haben nun wohl deshalb einen so mannigfaltigen Reiz, weil ihr verschiedener Inhalt erst in solchen ideellen Dialogen mit mehreren Individuen durchgesprochen worden, sie sodann aber, in der Komposition selbst, nur an einen Freund und Teilnehmer gerichtet erscheinen. Mehr über die Behandlung des so viel besprochenen Werkleins zu sagen, möchte kaum tätlich sein; über den Inhalt jedoch läßt sich noch einiges hinzufügen.
Jener Ekel vor dem Leben hat seine physischen und seine sittlichen Ursachen, jene wollen wir dem Arzt, diese dem Moralisten zu erforschen überlassen, und, bei einer so oft durchgearbeiteten Materie, nur den Hauptpunkt beachten, wo sich jene Erscheinung am deutlichsten ausspricht. Alles Behagen am Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr der äußeren Dinge gegründet. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Blüten und Früchte, und was uns sonst von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genießen können und sollen, diese sind die eigentlichen Triebfedern des irdischen Lebens. Je offener wir für diese Genüsse sind, desto glücklicher fühlen wir uns; wälzt sich aber die Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor uns auf und nieder, ohne daß wir daran teilnehmen, sind wir gegen so holde Anerbietungen unempfänglich: dann tritt das größte Übel, die schwerste Krankheit ein, man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last. Von einem Engländer wird erzählt, er habe sich aufgehangen, um nicht mehr täglich sich aus- und anzuziehn. Ich kannte einen wackeren Gärtner, den Aufseher einer großen Parkanlage, der einmal mit Verdruss ausrief: »Soll ich denn immer diese Regenwolken von Abend gegen Morgen ziehen sehn!« Man erzählt von einem unserer trefflichsten Männer, er habe mit Verdruß das Frühjahr wieder aufgrünen gesehn, und gewünscht, es möchte zur Abwechselung einmal rot erscheinen. Dieses sind eigentlich die Symptome des Lebensüberdrusses, der nicht selten in den Selbstmord ausläuft, und bei denkenden in sich gekehrten Menschen häufiger war, als man glauben kann.
Nichts aber veranlaßt mehr diesen Überdruß, als die Wiederkehr der Liebe. Die erste Liebe, sagt man mit Recht, sei die einzige: denn in der zweiten und durch die zweite geht schon der höchste Sinn der Liebe verloren. Der Begriff des Ewigen und Unendlichen, der sie eigentlich hebt und trägt, ist zerstört, sie erscheint vergänglich wie alles Wiederkehrende. Die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die in der verflochtenen kultivierten Welt die liebenden und begehrenden Empfindungen spaltet, bringt auch hier eine Übertriebenheit hervor, die nichts Gutes stiften kann.
Ferner wird ein junger Mann, wo nicht gerade an sich selbst, doch an andern bald gewahr, daß moralische Epochen ebensogut wie die Jahreszeiten wechseln. Die Gnade der Großen, die Gunst der Gewaltigen, die Förderung der Tätigen, die Neigung der Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wandelt auf und nieder, ohne daß wir es festhalten können, so wenig als Sonne, Mond und Sterne; und doch sind diese Dinge nicht bloße Naturereignisse: Sie entgehen uns durch eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder Geschick, aber sie wechseln, und wir sind ihrer niemals sicher.
Was aber den fühlenden Jüngling am meisten ängstigt, ist die unaufhaltsame Wiederkehr unserer Fehler: denn wie spät lernen wir einsehen, das wir, indem wir unsere Tugenden ausbilden, unsere Fehler zugleich mit anbauen. Jene ruhen auf diesen wie auf ihrer Wurzel, und diese verzweigen sich insgeheim ebenso stark und so mannigfaltig als jene im offenbaren Lichte. Weil wir nun unsere Tugenden meist mit Willen und Bewußtsein ausüben, von unseren Fehlern aber unbewußt überrascht werden, so machen uns jene selten einige Freude, diese hingegen beständig Not und Qual. Hier liegt der schwerste Punkt der Selbsterkenntnis, der sie beinah unmöglich macht. Denke man sich nun hiezu ein siedend jugendliches Blut, eine durch einzelne Gegenstände leicht zu paralysierende Einbildungskraft, hiezu die schwankenden Bewegungen des Tags, und man wird ein ungeduldiges Streben, sich aus einer solchen Klemme zu befreien nicht unnatürlich finden.
Solche düstere Betrachtungen jedoch, welche denjenigen, der sich ihnen überläßt, ins Unendliche führen, hätten sich in den Gemütern deutscher Jünglinge nicht so entschieden entwickeln können, hätte sie nicht eine äußere Veranlassung zu diesem traurigen Geschäft angeregt und gefördert. Es geschah dieses durch die englische Literatur, besonders durch die poetische, deren große ein ernster Trübsinn begleitet, welchen sie einem jeden mitteilt, der sich mit ihr beschäftigt. Der geistreiche Brite sieht sich von Jugend auf von einer bedeutenden Welt umgeben, die alle seine Kräfte anregt; er wird früher oder später gewahr, daß er allen seinen Verstand zusammennehmen muß, um sich mit ihr abzufinden. Wie viele ihrer Dichter haben nicht in der Jugend ein loses und rauschendes Leben geführt, und sich früh berechtigt gefunden, die irdischen Dinge der Eitelkeit anzuklagen! Wie viele derselben haben sich in den Weltgeschäften versucht, und im Parlament, bei Hofe, im Ministerium, auf Gesandtschaftsposten teils die ersten, teils untere Rollen gespielt, und sich bei inneren Unruhen, Staats- und Regierungsveränderungen mitwirkend erwiesen und, wo nicht an sich selbst, doch an ihren Freunden und Gönnern öfter traurige als erfreuliche Erfahrungen gemacht! Wie viele sind verbannt, vertrieben, im Gefängnis gehalten, an ihren Gütern beschädigt worden!
Aber auch nur Zuschauer von so großen Ereignissen zu sein, fordert den Menschen zum Ernst auf, und wohin kann der Ernst weiter führen, als zur Betrachtung der Vergänglichkeit und des Unwerts aller irdischen Dinge. Ernsthaft ist auch der Deutsche, und so war ihm die englische Poesie höchst gemäß, und, weil sie sich aus einem höheren Zustande herschrieb, imposant. Man findet in ihr durchaus einen großen, tüchtigen, weltgeübten Verstand, ein tiefes, zartes Gemüt, ein vortreffliches Wollen, ein leidenschaftliches Wirken: die herrlichsten Eigenschaften, die man von geistreichen gebildeten Menschen rühmen kann; aber das alles zusammengenommen macht noch keinen Poeten. Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen. Man betrachte nun in diesem Sinne die Mehrzahl der englischen meist moralisch-didaktischen Gedichte, und sie werden im Durchschnitt nur einen düstern Überdruss des Lebens zeigen. Nicht Youngs »Nachtgedanken« allein, wo dieses Thema vorzüglich durchgeführt ist, sondern auch die übrigen betrachtenden Gedichte schweifen, eh man sich’s versieht, in dieses traurige Gebiet, wo dem Verstande eine Aufgabe zugewiesen ist, die er zu lösen nicht hinreicht, da ihn ja selbst die Religion, wie er sich solche allenfalls erbauen kann, im Stiche läßt. Ganze Bände könnte man zusammendrucken, welche als ein Kommentar zu jenem schrecklichen Texte gelten können:
Then old Age and Experience, hand in hand,
Lead him to death, and make him understand,
After a search so painful and so long,
That all his life he has been in the wrong.
Was ferner die englischen Dichter noch zu Menschenhassern vollendet und das unangenehme Gefühl von Widerwillen gegen alles über ihre Schriften verbreitet, ist, daß sie sämtlich, bei den vielfachen Spaltungen ihres Gemeinwesens, wo nicht ihr ganzes Leben, doch den besten Teil desselben einer oder der andern Partei widmen müssen. Da nun ein solcher Schriftsteller die Seinigen, denen er ergeben ist, die Sache, der er anhängt, nicht loben und herausstreichen darf, weil er sonst nur Neid und Widerwillen erregen würde; so übt er sein Talent, indem er von den Gegnern so übel und schlecht als möglich spricht, und die satirischen Waffen, so sehr er nur vermag, schärft, ja vergiftet. Geschieht dieses nun von beiden Teilen, so wird die dazwischen liegende Welt zerstört und rein aufgehoben, so daß man in einem großen, verständig tätigen Volksverein zum allergelindesten nichts als Torheit und Wahnsinn entdecken kann. Selbst ihre zärtlichen Gedichte beschäftigen sich mit traurigen Gegenständen. Hier stirbt ein verlassenes Mädchen, dort ertrinkt ein getreuer Liebhaber, oder wird, ehe er voreilig schwimmend seine Geliebte erreicht, von einem Haifische gefressen; und wenn ein Dichter wie Gray sich auf einem Dorfkirchhofe lagert, und jene bekannten Melodien wieder anstimmt, so kann er
versichert sein, eine Anzahl Freunde der Melancholie um sich zu versammeln. Miltons »Allegro« muß erst in heftigen Versen den Unmut verscheuchen ehe er zu einer sehr mäßigen Lust gelangen kann, und selbst der heitere Goldsmith verliert sich in elegische Empfindungen, wenn uns sein »Deserted village« ein verlorenes Paradies, das sein »Traveller« auf der ganzen Erde wiedersucht, so lieblich als traurig darstellt.
Ich zweifle nicht, das man mir auch muntre Werke, heitere Gedichte werde vorzeigen und entgegensetzen können; allein die meisten und besten derselben gehören gewiß in die ältere Epoche, und die neueren, die man dahin rechnen könnte, neigen sich gleichfalls gegen die Satire, sind bitter und besonders die Frauen verachtend.
Genug, jene oben im allgemeinen erwähnten ernsten und die menschliche Natur untergrabenden Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen andern aussuchten, der eine, nach seiner Gemütsart, die leichtere elegische Trauer, der andere die schwer lastende, alles aufgebende Verzweiflung suchend. Sonderbar genug bestärkte unser Vater und Lehrer Shakespeare, der so reine Heiterkeit zu verbreiten weiß, selbst diesen Unwillen. Hamlet und seine Monologen blieben Gespenster, die durch alle jungen Gemüter ihren Spuk trieben. Die Hauptstellen wußte ein jeder auswendig und rezitierte sie gern, und jedermann glaubte, er dürfe ebenso melancholisch sein als der Prinz von Dänemark, ob er gleich keinen Geist ge-sehn und keinen königlichen Vater zu rächen hatte.
Damit aber ja allem diesem Trübsinn nicht ein vollkommen passendes Lokal abgehe, so hatte uns Ossian bis ans letzte Thule gelockt, wo wir denn auf grauer, unendlicher Heide, unter vorstarrenden bemoosten Grabsteinen wandelnd, das durch einen schauerlichen Wind bewegte Gras um uns, und einen schwer bewölkten Himmel über uns erblickten. Bei Mondenschein ward dann erst diese kaledonische Nacht zum Tage; untergegangene Helden, verblühte Mädchen umschwebten uns, bis wir zuletzt den Geist von Loda wirklich in seiner furchtbaren Gestalt zu erblicken glaubten.
In einem solchen Element, bei solcher Umgebung, bei Liebhabereien und Studien dieser Art, von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosen, bürgerlichen Leben hinhalten zu müssen, befreundete man sich, in unmutigem Übermut, mit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eignem Belieben allenfalls verlassen zu können, und half sich damit über die Unbilden und Langeweile der Tage notdürftig genug hin. Diese Gesinnung war so allgemein, daß eben »Werther« deswegen die große Wirkung tat, weil er überall anschlug und das Innere eines kranken jugendlichen Wahns öffentlich und faßlich darstellte. Wie genau die Engländer mit diesem Jammer bekannt waren, beweisen die wenigen bedeutenden, vor dem Erscheinen »Werthers« geschriebenen Zeilen:
To griefs congenial prone,
More wounds than nature gave he knew,
While misery’s form his fancy drew
In dark ideal hues and horrors not its own.
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