Bürgers »Lenore«, damals ganz frisch bekannt und mit Enthusiasmus von den Deutschen aufgenommen, war von ihm komponiert; er trug sie gern und wiederholt vor.
Auch ich, der viel und lebhaft rezitierend vortrug, war sie zu deklamieren bereit; man langweilte sich damals noch nicht an wiederholtem Einerlei. War der Gesellschaft die Wahl gelassen, welchen von uns beiden sie hören wolle, so fiel die Entscheidung oft zu meinen Gunsten.
Dieses alles aber, wie es auch sei, diente den Liebenden nur zur Verlängerung des Zusammenseins; sie wissen kein Ende zu finden, und der gute Johann Andre war durch wechselsweise Verführung der beiden gar leicht in ununterbrochene Bewegung zu setzen, um bis Nachmitternacht seine Musik wiederholend zu verlängern. Die beiden Lieben den versicherten sich dadurch einer werten unentbehrlichen Gegenwart.
Trat man am Morgen in aller Frühe aus dem Hause, so fand man sich in der freisten Luft, aber nicht eigentlich auf dem Lande. Ansehnliche Gebäude, die zu jener Zeit einer Stadt Ehre gemacht hätten, Gärten, parterreartig übersehbar, mit flachen Blumen und sonstigen Prunkbeeten, freie Übersicht über den Fluß bis ans jenseitige Ufer, oft schon früh eine tätige Schifffahrt von Flößen und gelenkten Marktschiffen und Kähnen, eine sanft hingleitende lebendige Welt, mit liebevollen zarten Empfindungen im Einklang. Selbst das einsame Vorüberwogen und Schilfgeflüster eines leise bewegten Stromes ward höchst erquicklich und verfehlte nicht, einen entschieden-beruhigenden Zauber über den Herantretenden zu verbreiten. Ein heiterer Himmel der schönsten Jahrszeit überwölbte das Ganze, und wie angenehm mußte sich eine traute Gesellschaft, von solchen Szenen umgeben, morgendlich wiederfinden.
Sollte jedoch einem ernsten Leser eine solche Lebensweise gar zu lose, zu leichtfertig erscheinen, so möge er bedenken, das zwischen dasjenige, was hier, des Vortrags halben, wie im Zusammenhange geschildert ist, sich Tage und Wochen des Entbehrens, andere Bestimmungen und Tätigkeiten, sogar unerträgliche Langeweile widerwärtig einstellten.
Männer und Frauen waren in ihrem Pflichtkreise eifrig beschäftigt. Auch ich versäumte nicht, in Betracht der Gegenwart und Zukunft, das mir Obliegende zu besorgen, und fand noch Zeit genug, dasjenige zu vollbringen, wohin mich Talent und Leidenschaft unwiderstehlich hindrängten.
Die frühsten Morgenstunden war ich der Dichtkunst schuldig, der wachsende Tag gehörte den weltlichen Geschäften, die auf eine ganz eigene Art behandelt wurden. Mein Vater, ein gründlicher, ja eleganter Jurist, führte seine Geschäfte selbst, die ihm sowohl die Verwaltung seines Vermögens als die Verbindung mit wertgeschätzten Freunden auferlegte, und ob ihm gleich sein Charakter als kaiserlicher Rat zu praktizieren nicht erlaubte, so war er doch manchen Vertrauten als Rechtsfreund zur Hand, indem die ausgefertigten Schriften von einem ordinierten Advokaten unterzeichnet wurden, dem denn jede solche Signatur ein Billiges einbrachte.
Diese seine Tätigkeit war nur lebhafter geworden durch mein Herantreten, und ich konnte gar wohl bemerken, daß er mein Talent höher schätzte als meine Praxis und deswegen alles tat, um mir Zeit genug zu meinen poetischen Studien und Arbeiten zu lassen. Gründlich und tüchtig, aber von langsamer Konzeption und Ausführung, studierte er die Akten als geheimer Referendar, und wenn wir zusammentraten, legte er mir die Sache vor, und die Ausfertigung ward von mir mit solcher Leichtigkeit vollbracht, daß es ihm zur höchsten Vaterfreude gedieh, und er auch wohl einmal auszusprechen nicht unterließ: wenn ich ihm fremd wäre, er würde mich beneiden. Diese Angelegenheiten noch mehr zu erleichtern, hatte sich ein Schreiber zu uns gesellt, dessen Charakter und Wesen, wohl durchgeführt, leicht einen Roman fördern und schmücken könnte. Nach wohlgenutzten Schuljahren, worin er des Lateins völlig mächtig geworden, auch sonstige gute Kenntnisse erlangt hatte, unterbrach ein allzu leichtfertiges akademisches Leben den übrigen Gang seiner Tage; er schleppte sich eine Weile mit siechem Körper in Dürftigkeit hin, und kam erst später in bessere Umstände durch Hilfe einer sehr schönen Handschrift und Rechnungsfertigkeit. Von einigen Advokaten unterhalten, ward er nach und nach mit den Förmlichkeiten des Rechtsganges genau bekannt, und erwarb sich alle, denen er diente, durch Rechtlichkeit und Pünktlichkeit zu Gönnern. Auch unserm Hause hatte er sich verpflichtet und war in allen Rechts- und Rechnungssachen bei der Hand.
Dieser hielt nun von seiner Seite unser sich immer mehr ausdehnendes Geschäft, das sich sowohl auf Rechtsangelegenheiten, als auf mancherlei Aufträge, Bestellungen und Speditionen bezog, zusammen. Auf dem Rathause wußte er alle Wege und Schliche, in den beiden burgemeisterlichen Audienzen war er auf seine Weise gelitten, und da er manchen neuen Ratsherrn, worunter einige gar bald zu Schöffen herangestiegen waren, von seinem ersten Eintritt ins Amt her in seinem noch unsichern Benehmen gar wohl kannte, so hatte er sich ein gewisses Vertrauen erworben, das man gar wohl eine Art von Einfluss nennen konnte. Das alles wußte er zum Nutzen seiner Gönner zu verwenden, und da ihn seine Gesundheit nötigte, seine Tätigkeit mit Maß zu üben, so fand man ihn immer bereit, jeden Auftrag, jede Bestellung sorgfältig auszurichten.
Seine Gegenwart war nicht unangenehm, von Körper schlank und regelmäßiger Gesichtsbildung; sein Betragen nicht zudringlich, aber doch mit einem Ausdruck von Sicherheit seiner Überzeugung, was zu tun sei, auch wohl heiter und gewandt bei wegzuräumenden Hindernissen. Er mochte stark in den Vierzigern sein, und es reut mich noch (ich darf das Obengesagte wiederholen), daß ich ihn nicht als Triebrad in den Mechanismus irgend einer Novelle mit eingefügt habe.
In Hoffnung, meine ernsten Leser durch das Vorgetragene einigermaßen befriedigt zu haben, darf ich mich wohl wieder zu denen glänzenden Tagespunkten hinwenden, wo Freundschaft und Liebe sich in ihrem schönsten Lichte zeigten.
Daß Geburtstage sorgfältig, froh und mit mancher Abwechselung gefeiert wurden, liegt in der Natur solcher Verbindungen; dem Geburtstage des Pfarrers Ewald zu Gunsten ward das Lied gedichtet:
In allen guten Stunden,
Erhöht von Lieb und Wein,
Soll dieses Lied verbunden
Von uns gesungen sein!
Uns hält der Gott zusammen,
Der uns hierher gebracht,
Erneuert unsre Flammen,
Er hat sie angefacht.
Da dies Lied sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat und nicht leicht eine muntere Gesellschaft beim Gastmahl sich versammelt, ohne daß es freudig wieder aufgefrischt werde, so empfehlen wir es auch unsern Nachkommen und wünschen allen, die es aussprechen und singen, gleiche Lust und Behagen von innen heraus, wie wir damals ohne irgend einer weitern Welt zu gedenken, uns im beschränkten Kreise zu einer Welt ausgedehnt empfanden.
Nun aber wird man erwarten, daß Lilis Geburtstag, welcher den 23. Juni 1775 sich zum siebenzehnten Mal wiederholte, besonders sollte gefeiert werden. Sie hatte versprochen, am Mittag nach Offenbach zu kommen, und ich muß gestehen, das die Freunde mit glücklicher Übereinkunft von diesem Feste alle herkömmlichen Verzierungsphrasen ablehnt und sich nur allein mit Herzlichkeiten, die ihrer würdig wären, zu Empfang und Unterhaltung vorbereitet hatten.
Mit solchen angenehmen Pflichten beschäftigt, sah ich die Sonne untergehen, die einen folgenden heitern Tag verkündigte und unserm Fest ihre frohe glänzende Gegenwart versprach, als Lilis Bruder George, der sich nicht verstellen konnte, ziemlich ungebärdig ins Zimmer trat, und ohne Schonung zu erkennen gab, daß unser morgendes Fest gestört sei; er wisse selbst weder wie noch wodurch, aber die Schwester lasse sagen, daß es ihr völlig unmöglich sei, morgen mittag nach Offenbach zu kommen und an dem ihr zugedachten Feste teilzunehmen; erst gegen Abend hoffe sie ihre Ankunft bewirken zu können. Nun fühle und wisse sie recht gut, wie unangenehm es mir und unsern Freunden fallen müsse, bitte mich aber so herzlich dringend als sie könne, etwas zu erfinden, wodurch das Unangenehme dieser Nachricht, die sie mir überlasse hinaus zu melden, gemildert ja versöhnt werde; sie wolle mir’s zum allerbesten danken.
Ich schwieg einen Augenblick, hatte mich auch sogleich gefasst und wie durch himmlische Eingebung gefunden, was zu tun war. »Eile«, rief ich, »George! sag ihr, sie solle sich ganz beruhigen, möglich machen, daß sie gegen Abend komme, ich verspräche: gerade dieses Unheil solle zum Fest werden.« Der Knabe war neugierig und wünschte zu wissen wie? dies wurde ihm standhaft verweigert, ob er gleich alle Künste und Gewalt zu Hülfe rief, die ein Bruder unserer Geliebten auszuüben sich anmaßt.
Kaum war er weg, so ging ich mit sonderbarer Selbstgefälligkeit in meiner Stube auf und ab, und mit dem frohen, freien Gefühl, daß hier Gelegenheit sei, mich als ihren Diener auf eine glänzende Weise zu zeigen, heftete ich mehrere Bogen mit schöner Seide, wie es dem Gelegenheitsgedicht ziemt, zusammen und eilte den Titel zu schreiben:
»Sie kommt nicht! ein jammervolles Familienstück, welches, geklagt sei es Gott, den 23. Juni 1775 in Offenbach am Main auf das allernatürlichste wird aufgeführt werden. Die Handlung dauert vom Morgen bis aufn Abend.«
Da von diesem Scherze weder Konzept noch Abschrift vorhanden, habe ich mich oft darnach erkundigt, aber nie etwas davon wieder erfahren können; ich muß daher es wieder aufs neue zusammendichten, welches im allgemeinen nicht schwer fällt.
Der Schauplatz ist d’Orvilles Haus und Garten in Offenbach; die Handlung eröffnet sich durch die Domestiken, wobei jedes genau seine Rolle spielt und die Anstalten zum Fest vollkommen deutlich werden. Die Kinder mischen sich drein, nach dem Leben gebildet, dann der Herr, die Frau mit eigentümlichen Tätigkeiten und Einwirkungen; dann kommt, indem alles sich in einer gewissen hastigen Geschäftigkeit durcheinander treibt, der unermüdliche Nachbar Komponist Hans Andre; er setzt sich an den Flügel und ruft alles zusammen, sein eben fertig gewordenes Festlied anzuhören und durchzuprobieren. Das ganze Haus zieht er heran, aber alles macht sich wieder fort, dringenden Geschäften nachzugehen, eins wird vom andern abgerufen, eins bedarf des andern, und die Dazwischenkunft des Gärtners macht aufmerksam auf die Garten- und Wasserszenen; Kränze, Bandrollen mit Inschriften zierlichster Art, nichts ist vergessen.
Als man sich nun eben um die erfreulichsten Gegenstände versammelt, tritt ein Bote herein, der, als eine Art von lustigem Hin- und Widerträger, berechtigt war, auch eine Charakterrolle mitzuspielen, und der durch manches allzugute Trinkgeld wohl ungefähr merken konnte, was für Verhältnisse obwalteten; er tut sich auf sein Paket etwas zugute, hofft ein Glas Wein und Semmelbrot, und übergibt nun, nach einigem schalkhaftem Weigern, die Depesche. Dem Hausherrn sinken die Arme, die Papiere fallen zu Boden, er ruft: »Laßt mich zum Tisch! laßt mich zur Kommode, damit ich nur streichen kann.«
Das geistreiche Zusammensein lebelustiger Menschen zeichnet sich vor allem aus durch eine Sprach-und Gebärdensymbolik. Es entsteht eine Art Gauneridiom, welches, indem es die Eingeweihten höchst glücklich macht, den Fremden unbemerkt bleibt, oder, bemerkt, verdrießlich wird.
Es gehörte zu Lilis anmutigsten Eigenheiten eine, die hier durch Wort und Gebärde als Streichen ausgedrückt ist, und welche stattfand, wenn etwas Anstößiges gesagt oder gesprochen wurde, besonders indem man bei Tische saß, oder in der Nähe von einer Fläche sich befand.
Es hatte dieses seinen Ursprung von einer unendlich lieblichen Unart, die sie einmal begangen, als ein Fremder, bei Tafel neben ihr sitzend, etwas Unziemliches vorbrachte. Ohne das holde Gesicht zu verändern, strich sie mit ihrer rechten Hand gar lieblich über das Tischtuch weg, und schob alles, was sie mit dieser sanften Bewegung erreichte, gelassen auf den Boden. Ich weiß nicht was alles, Messer, Gabel, Brot, Salzfaß, auch etwas zum Gebrauch ihres Nachbars gehörig; es war jedermann erschreckt, die Bedienten liefen zu, niemand wußte was das heißen sollte, als die Umsichtigen, die sich erfreuten, daß sie eine Unschicklichkeit auf eine so zierliche Weise erwidert und ausgelöscht.
Hier war nun also ein Symbol gefunden, für das Ablehnen eines Widerwärtigen, was doch manchmal in tüchtiger, braver, schätzenswerter, wohlgesinnter, aber nicht durch und durch gebildeter Gesellschaft vorzukommen pflegt. Die Bewegung mit der rechten Hand als ablehnend erlaubten wir uns alle, das wirkliche Streichen der Gegenstände hatte sie selbst in der Folge sich nur mäßig und mit Geschmack erlaubt.
Wenn der Dichter nun also dem Hausherrn diese Begierde zu streichen, eine uns zur Natur gewordene Gewohnheit, als Mimik aufgibt; so sieht man das Bedeutende, das Effektvolle; denn indem er alles von allen Flächen herunter zu streichen droht, so hält ihn alles ab, man sucht ihn zu beruhigen, bis er sich endlich ganz ermattet in den Sessel wirft.
»Was ist begegnet!« ruft man aus »Ist sie krank? Ist jemand gestorben?« »Lest! lest!« ruft d’Orville, »dort liegt’s auf der Erde.« Die Depesche wird aufgehoben, man liest, man ruft: »Sie kommt nicht!«
Der große Schreck hatte auf einen größern vorbereitet; - aber sie war doch wohl! - war ihr nichts begegnet! - Niemand von der Familie hatte Schaden genommen, Hoffnung blieb auf den Abend.
Andre, der indessen immerfort musiziert hatte, kam doch endlich auch herbei gelaufen, tröstete und suchte sich zu trösten. Pfarrer Ewald und seine Gattin traten gleichfalls charakteristisch ein, mit Verdruß und Verstand, mit unwilligem Entbehren und gemäßigtem Zurechtlegen. Alles ging aber noch bunt durcheinander, bis der musterhaft ruhige Onkel Bernard endlich herankommt, ein gutes Frühstück, ein löblich Mittagsfest erwartend, und der einzige ist, der die Sache aus dem rechten Gesichtspunkte ansieht, beschwichtigende, vernünftige Reden äußert und alles ins gleiche bringt, völlig wie in der griechischen Tragödie ein Gott die Verworrenheiten der größten Helden mit wenigen Worten aufzulösen weiß.
Dies alles ward während eines Teiles der Nacht mit laufender Feder niedergeschrieben und einem Boten übergeben, der am nächsten Morgen Punkt zehn Uhr mit der Depesche in Offenbach einzutreffen unterrichtet war.
Den hellsten Morgen erblickend, wacht’ ich auf, mit Vorsatz und Einrichtung, genau mittags gleichfalls in Offenbach anzulangen. Ich ward empfangen mit dem wunderliebsten Charivari von Entgegnungen; das gestörte Fest verlautete kaum, sie schalten und schimpften, daß ich sie so gut getroffen hätte; die Dienerschaft war zufrieden, mit der Herrschaft auf gleichem Theater aufgetreten zu sein; nur die Kinder, als die entschiedensten unbestechbarsten Realisten, versicherten hartnäckig: so hätten sie nicht gesprochen und es sei überhaupt alles ganz anders gewesen, als wie es hier geschrieben stünde. Ich beschwichtigte sie mit einigen Vorgaben des Nachtisches, und sie hatten mich wie immer lieb. Ein fröhliches Mittagsmahl, eine Mäßigung aller Feierlichkeiten gab uns die Stimmung, Lili ohne Prunk, aber vielleicht um desto lieblicher zu empfangen. Sie kam und ward von heitern, ja lustigen Gesichtern bewillkommt, beinah betroffen, daß ihr Außenbleiben so viel Heiterkeit erlaube. Man erzählte ihr alles, man trug ihr alles vor und sie, nach ihrer lieben und süßen Art, dankte mir, wie sie allein nur konnte.
Es bedurfte keines sonderlichen Scharfsinns, um zu bemerken, daß ihr Ausbleiben von dem ihr gewidmeten Feste nicht zufällig, sondern durch Hin- und Herreden über unser Verhältnis verursacht war. Indessen hatte dies weder auf unsre Gesinnungen noch auf unser Betragen den mindesten Einfluss.
Ein vielfacher geselliger Zudrang aus der Stadt konnte in dieser Jahrszeit nicht fehlen. Oft kam ich nur spät des Abends zur Gesellschaft, und fand sie dem Scheine nach teilnehmend, und da ich nur oft auf wenige Stunden erschien, so mocht’ ich ihr gern in irgend etwas nützlich sein, indem ich ihr Größeres oder Kleineres besorgt hatte, oder irgend einen Auftrag zu übernehmen kam. Und es ist wohl diese Dienstschaft das Erfreulichste, was einem Menschen begegnen kann; wie uns die alten Ritterromane dergleichen zwar auf eine dunkle aber kräftige Weise zu überliefern verstehen. Daß sie mich beherrsche, war nicht zu verbergen, und sie durfte sich diesen Stolz gar wohl erlauben; hier triumphieren Überwinder und Überwundene, und beide behagen sich in gleichem Stolze.
Dies mein wiederholtes, oft nur kurzes Einwirken war aber immer desto kräftiger. Johann Andre hatte immer Musikvorrat; auch ich brachte fremdes und eignes Neue; poetische und musikalische Blüten regneten herab. Es war eine durchaus glänzende Zeit; eine gewisse Exaltation waltete in der Gesellschaft, man traf niemals auf nüchterne Momente. Ganz ohne Frage teilte sich dies den übrigen aus unserm Verhältnisse mit. Denn wo Neigung und Leidenschaft in ihrer eignen kühnen Natur hervortreten, geben sie verschüchterten Gemütern Mut, die nunmehr nicht begreifen, warum sie ihre gleichen Rechte verheimlichen sollten. Daher gewahrte man mehr oder weniger versteckte Verhältnisse, die sich nun mehr ohne Scheu durchschlangen. Andere, die sich nicht gut bekennen ließen, schlichen doch behaglich unter der Decke mit durch.
Konnt’ ich denn auch wegen vermannigfaltigter Geschäfte die Tage dort draußen bei ihr nicht zubringen, so gaben die heiteren Nächte Gelegenheit zu verlängertem Zusammensein im Freien. Liebende Seelen werden nachstehendes Ereignis mit Wohlgefallen aufnehmen.
Es war ein Zustand, von welchem geschrieben steht: »Ich schlafe, aber mein Herz wacht«; die hellen wie die dunklen Stunden waren einander gleich, das Licht des Tages konnte das Licht der Liebe nicht überscheinen, und die Nacht wurde durch den Glanz der Neigung zum hellsten Tage.
Wir waren beim klarsten Sternhimmel bis spät in der freien Gegend umher spaziert, und nachdem ich sie und die Gesellschaft von Türe zu Türe nach Hause begleitet und von ihr zuletzt Abschied genommen hatte, fühlte ich mir so wenig Schlaf, daß ich eine frische Spazierwanderung anzutreten nicht säumte. Ich ging die Landstraße nach Frankfurt zu, mich meinen Gedanken und Hoffnungen zu überlassen; ich setzte mich auf eine Bank, in der reinsten Nachtstille, unter den blendenden Sternhimmel, mir selbst und ihr anzugehören.
Bemerkenswert schien mir ein schwer zu erklärender Ton, ganz nahe bei mir; es war kein Rascheln, kein Rauschen, und bei näherer Aufmerksamkeit entdeckte ich, daß es unter der Erde und das Arbeiten von kleinem Getier sei. Es mochten Igel oder Wieseln sein, oder was in solcher Stunde dergleichen Geschäft vornimmt.
Ich war darauf weiter nach der Stadt zu gegangen und an den Röderberg gelangt, wo ich die Stufen, welche nach den Weingärten hinaufführen, an ihrem kalkweißen Scheine erkennen konnte. Ich stieg hinauf, setzte mich nieder und schlief ein.
Als ich wieder aufwachte, hatte die Dämmerung sich schon verbreitet, ich sah mich gegen dem hohen Wall über, welcher in früheren Zeiten als Schutzwehr wider die hüben stehenden Berge aufgerichtet war. Sachsenhausen lag vor mir, leichte Nebel deuteten den Weg des Flusses an; es war frisch, mir willkommen.
Da verharrt’ ich, bis die Sonne nach und nach hinter mir aufgehend das Gegenüber erleuchtete. Es war die Gegend, wo ich die Geliebte wieder sehen sollte, und ich kehrte langsam in das Paradies zurück, das sie, die noch Schlafende, umgab.
Je mehr aber, um des wachsenden Geschäftskreises willen, den ich aus Liebe zu ihr zu erweitern und zu beherrschen trachtete, meine Besuche in Offenbach sparsamer werden und dadurch eine gewisse peinliche Verlegenheit hervorbringen mußten, so ließ sich gar wohl bemerken, daß man eigentlich um der Zukunft willen das Gegenwärtige hintansetze und verliere.
Wie nun meine Aussichten sich nach und nach verbesserten, hielt ich sie für bedeutender, als sie wirklich waren, und dachte um so mehr auf eine baldige Entscheidung, als ein so öffentliches Verhältnis nicht länger ohne Missbehagen fortzuführen war. Und wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt, sprachen wir es nicht ausdrücklich gegen einander aus; aber das Gefühl eines wechselseitigen unbedingten Behagens, die volle Überzeugung, eine Trennung sei unmöglich, das ineinander gleichmäßig gesetzte Vertrauen, das alles brachte einen solchen Ernst hervor, daß ich, der ich mir fest vorgenommen hatte, kein schleppendes Verhältnis wieder anzuknüpfen, und mich doch in dieses, ohne Sicherheit eines günstigen Erfolges, wieder verwickelt fand, wirklich von einem Stumpfsinn befangen war, von dem ich mich zu retten mich immer mehr in gleichgültige weltliche Geschäfte verwickelte, aus denen ich doch auch nur wieder Vorteil und Zufriedenheit an der Hand der Geliebten zu gewinnen hoffen durfte.
In diesem wunderlichen Zustande, dergleichen doch auch mancher peinlich empfunden haben mag, kam uns eine Hausfreundin zu Hülfe, welche die sämtlichen Bezüge der Personen und Zustände sehr wohl durchsah. Man nannte sie Demoiselle Delph, sie stand mit ihrer ältern Schwester einem kleinen Handelshaus in Heidelberg vor und war der größern Frankfurter Wechselhandlung bei verschiedenen Vorfällen vielen Dank schuldig geworden. Sie kannte und liebte Lili von Jugend auf; es war eine eigne Person, ernsten männlichen Ansehns und gleichen derben, hastigen Schrittes vor sich hin. Sie hatte sich in die Welt besonders zu fügen Ursache gehabt und kannte sie daher wenigstens in gewissem Sinne. Man konnte sie nicht intrigant nennen, sie konnte den Verhältnissen lange zusehen und ihre Absichten stille mit sich forttragen; dann aber hatte sie die Gabe, die Gelegenheit zu ersehen, und wenn sie die Gesinnungen der Personen zwischen Zweifel und Entschluss schwanken sah, wenn alles auf Entschiedenheit ankam, so wußte sie eine solche Kraft der Charaktertüchtigkeit einzusetzen, daß es ihr nicht leicht mißlang, ihr Vorhaben auszuführen. Eigentlich hatte sie keine egoistischen Zwecke; etwas getan, etwas vollbracht, besonders eine Heirat gestiftet zu haben, war ihr schon Belohnung. Unsern Zustand hatte sie längst durchblickt, bei wiederholtem Hiersein durchforscht, so daß sie sich endlich überzeugte, diese Neigung sei zu begünstigen, diese Vorsätze, redlich aber nicht genugsam verfolgt und angegriffen, müßten unterstützt und dieser kleine Roman fördersamst abgeschlossen werden.
Seit vielen Jahren hatte sie das Vertrauen von Lilis Mutter; in meinem Hause durch mich eingeführt, hatte sie sich den Eltern angenehm zu machen gewußt; denn gerade dieses barsche Wesen ist in einer Reichsstadt nicht widerwärtig und, mit Verstand im Hintergrunde, sogar willkommen. Sie kannte sehr wohl unsre Wünsche, unsre Hoffnungen, ihre Lust zu wirken sah darin einen Auftrag; kurz, sie unterhandelte mit den Eltern. Wie sie es begonnen, wie sie die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegen stellen mochten, beseitigt, - genug, sie tritt eines Abends zu uns und bringt die Einwilligung. »Gebt euch die Hände!« rief sie, mit ihrem pathetisch gebieterischen Wesen. Ich stand gegen Lili über und reichte meine Hand dar, sie legte die ihre, zwar nicht zaudernd, aber doch langsam, hinein, nach einem tiefen Atemholen fielen wir einander lebhaft in die Arme.
Auch ich, der viel und lebhaft rezitierend vortrug, war sie zu deklamieren bereit; man langweilte sich damals noch nicht an wiederholtem Einerlei. War der Gesellschaft die Wahl gelassen, welchen von uns beiden sie hören wolle, so fiel die Entscheidung oft zu meinen Gunsten.
Dieses alles aber, wie es auch sei, diente den Liebenden nur zur Verlängerung des Zusammenseins; sie wissen kein Ende zu finden, und der gute Johann Andre war durch wechselsweise Verführung der beiden gar leicht in ununterbrochene Bewegung zu setzen, um bis Nachmitternacht seine Musik wiederholend zu verlängern. Die beiden Lieben den versicherten sich dadurch einer werten unentbehrlichen Gegenwart.
Trat man am Morgen in aller Frühe aus dem Hause, so fand man sich in der freisten Luft, aber nicht eigentlich auf dem Lande. Ansehnliche Gebäude, die zu jener Zeit einer Stadt Ehre gemacht hätten, Gärten, parterreartig übersehbar, mit flachen Blumen und sonstigen Prunkbeeten, freie Übersicht über den Fluß bis ans jenseitige Ufer, oft schon früh eine tätige Schifffahrt von Flößen und gelenkten Marktschiffen und Kähnen, eine sanft hingleitende lebendige Welt, mit liebevollen zarten Empfindungen im Einklang. Selbst das einsame Vorüberwogen und Schilfgeflüster eines leise bewegten Stromes ward höchst erquicklich und verfehlte nicht, einen entschieden-beruhigenden Zauber über den Herantretenden zu verbreiten. Ein heiterer Himmel der schönsten Jahrszeit überwölbte das Ganze, und wie angenehm mußte sich eine traute Gesellschaft, von solchen Szenen umgeben, morgendlich wiederfinden.
Sollte jedoch einem ernsten Leser eine solche Lebensweise gar zu lose, zu leichtfertig erscheinen, so möge er bedenken, das zwischen dasjenige, was hier, des Vortrags halben, wie im Zusammenhange geschildert ist, sich Tage und Wochen des Entbehrens, andere Bestimmungen und Tätigkeiten, sogar unerträgliche Langeweile widerwärtig einstellten.
Männer und Frauen waren in ihrem Pflichtkreise eifrig beschäftigt. Auch ich versäumte nicht, in Betracht der Gegenwart und Zukunft, das mir Obliegende zu besorgen, und fand noch Zeit genug, dasjenige zu vollbringen, wohin mich Talent und Leidenschaft unwiderstehlich hindrängten.
Die frühsten Morgenstunden war ich der Dichtkunst schuldig, der wachsende Tag gehörte den weltlichen Geschäften, die auf eine ganz eigene Art behandelt wurden. Mein Vater, ein gründlicher, ja eleganter Jurist, führte seine Geschäfte selbst, die ihm sowohl die Verwaltung seines Vermögens als die Verbindung mit wertgeschätzten Freunden auferlegte, und ob ihm gleich sein Charakter als kaiserlicher Rat zu praktizieren nicht erlaubte, so war er doch manchen Vertrauten als Rechtsfreund zur Hand, indem die ausgefertigten Schriften von einem ordinierten Advokaten unterzeichnet wurden, dem denn jede solche Signatur ein Billiges einbrachte.
Diese seine Tätigkeit war nur lebhafter geworden durch mein Herantreten, und ich konnte gar wohl bemerken, daß er mein Talent höher schätzte als meine Praxis und deswegen alles tat, um mir Zeit genug zu meinen poetischen Studien und Arbeiten zu lassen. Gründlich und tüchtig, aber von langsamer Konzeption und Ausführung, studierte er die Akten als geheimer Referendar, und wenn wir zusammentraten, legte er mir die Sache vor, und die Ausfertigung ward von mir mit solcher Leichtigkeit vollbracht, daß es ihm zur höchsten Vaterfreude gedieh, und er auch wohl einmal auszusprechen nicht unterließ: wenn ich ihm fremd wäre, er würde mich beneiden. Diese Angelegenheiten noch mehr zu erleichtern, hatte sich ein Schreiber zu uns gesellt, dessen Charakter und Wesen, wohl durchgeführt, leicht einen Roman fördern und schmücken könnte. Nach wohlgenutzten Schuljahren, worin er des Lateins völlig mächtig geworden, auch sonstige gute Kenntnisse erlangt hatte, unterbrach ein allzu leichtfertiges akademisches Leben den übrigen Gang seiner Tage; er schleppte sich eine Weile mit siechem Körper in Dürftigkeit hin, und kam erst später in bessere Umstände durch Hilfe einer sehr schönen Handschrift und Rechnungsfertigkeit. Von einigen Advokaten unterhalten, ward er nach und nach mit den Förmlichkeiten des Rechtsganges genau bekannt, und erwarb sich alle, denen er diente, durch Rechtlichkeit und Pünktlichkeit zu Gönnern. Auch unserm Hause hatte er sich verpflichtet und war in allen Rechts- und Rechnungssachen bei der Hand.
Dieser hielt nun von seiner Seite unser sich immer mehr ausdehnendes Geschäft, das sich sowohl auf Rechtsangelegenheiten, als auf mancherlei Aufträge, Bestellungen und Speditionen bezog, zusammen. Auf dem Rathause wußte er alle Wege und Schliche, in den beiden burgemeisterlichen Audienzen war er auf seine Weise gelitten, und da er manchen neuen Ratsherrn, worunter einige gar bald zu Schöffen herangestiegen waren, von seinem ersten Eintritt ins Amt her in seinem noch unsichern Benehmen gar wohl kannte, so hatte er sich ein gewisses Vertrauen erworben, das man gar wohl eine Art von Einfluss nennen konnte. Das alles wußte er zum Nutzen seiner Gönner zu verwenden, und da ihn seine Gesundheit nötigte, seine Tätigkeit mit Maß zu üben, so fand man ihn immer bereit, jeden Auftrag, jede Bestellung sorgfältig auszurichten.
Seine Gegenwart war nicht unangenehm, von Körper schlank und regelmäßiger Gesichtsbildung; sein Betragen nicht zudringlich, aber doch mit einem Ausdruck von Sicherheit seiner Überzeugung, was zu tun sei, auch wohl heiter und gewandt bei wegzuräumenden Hindernissen. Er mochte stark in den Vierzigern sein, und es reut mich noch (ich darf das Obengesagte wiederholen), daß ich ihn nicht als Triebrad in den Mechanismus irgend einer Novelle mit eingefügt habe.
In Hoffnung, meine ernsten Leser durch das Vorgetragene einigermaßen befriedigt zu haben, darf ich mich wohl wieder zu denen glänzenden Tagespunkten hinwenden, wo Freundschaft und Liebe sich in ihrem schönsten Lichte zeigten.
Daß Geburtstage sorgfältig, froh und mit mancher Abwechselung gefeiert wurden, liegt in der Natur solcher Verbindungen; dem Geburtstage des Pfarrers Ewald zu Gunsten ward das Lied gedichtet:
In allen guten Stunden,
Erhöht von Lieb und Wein,
Soll dieses Lied verbunden
Von uns gesungen sein!
Uns hält der Gott zusammen,
Der uns hierher gebracht,
Erneuert unsre Flammen,
Er hat sie angefacht.
Da dies Lied sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat und nicht leicht eine muntere Gesellschaft beim Gastmahl sich versammelt, ohne daß es freudig wieder aufgefrischt werde, so empfehlen wir es auch unsern Nachkommen und wünschen allen, die es aussprechen und singen, gleiche Lust und Behagen von innen heraus, wie wir damals ohne irgend einer weitern Welt zu gedenken, uns im beschränkten Kreise zu einer Welt ausgedehnt empfanden.
Nun aber wird man erwarten, daß Lilis Geburtstag, welcher den 23. Juni 1775 sich zum siebenzehnten Mal wiederholte, besonders sollte gefeiert werden. Sie hatte versprochen, am Mittag nach Offenbach zu kommen, und ich muß gestehen, das die Freunde mit glücklicher Übereinkunft von diesem Feste alle herkömmlichen Verzierungsphrasen ablehnt und sich nur allein mit Herzlichkeiten, die ihrer würdig wären, zu Empfang und Unterhaltung vorbereitet hatten.
Mit solchen angenehmen Pflichten beschäftigt, sah ich die Sonne untergehen, die einen folgenden heitern Tag verkündigte und unserm Fest ihre frohe glänzende Gegenwart versprach, als Lilis Bruder George, der sich nicht verstellen konnte, ziemlich ungebärdig ins Zimmer trat, und ohne Schonung zu erkennen gab, daß unser morgendes Fest gestört sei; er wisse selbst weder wie noch wodurch, aber die Schwester lasse sagen, daß es ihr völlig unmöglich sei, morgen mittag nach Offenbach zu kommen und an dem ihr zugedachten Feste teilzunehmen; erst gegen Abend hoffe sie ihre Ankunft bewirken zu können. Nun fühle und wisse sie recht gut, wie unangenehm es mir und unsern Freunden fallen müsse, bitte mich aber so herzlich dringend als sie könne, etwas zu erfinden, wodurch das Unangenehme dieser Nachricht, die sie mir überlasse hinaus zu melden, gemildert ja versöhnt werde; sie wolle mir’s zum allerbesten danken.
Ich schwieg einen Augenblick, hatte mich auch sogleich gefasst und wie durch himmlische Eingebung gefunden, was zu tun war. »Eile«, rief ich, »George! sag ihr, sie solle sich ganz beruhigen, möglich machen, daß sie gegen Abend komme, ich verspräche: gerade dieses Unheil solle zum Fest werden.« Der Knabe war neugierig und wünschte zu wissen wie? dies wurde ihm standhaft verweigert, ob er gleich alle Künste und Gewalt zu Hülfe rief, die ein Bruder unserer Geliebten auszuüben sich anmaßt.
Kaum war er weg, so ging ich mit sonderbarer Selbstgefälligkeit in meiner Stube auf und ab, und mit dem frohen, freien Gefühl, daß hier Gelegenheit sei, mich als ihren Diener auf eine glänzende Weise zu zeigen, heftete ich mehrere Bogen mit schöner Seide, wie es dem Gelegenheitsgedicht ziemt, zusammen und eilte den Titel zu schreiben:
»Sie kommt nicht! ein jammervolles Familienstück, welches, geklagt sei es Gott, den 23. Juni 1775 in Offenbach am Main auf das allernatürlichste wird aufgeführt werden. Die Handlung dauert vom Morgen bis aufn Abend.«
Da von diesem Scherze weder Konzept noch Abschrift vorhanden, habe ich mich oft darnach erkundigt, aber nie etwas davon wieder erfahren können; ich muß daher es wieder aufs neue zusammendichten, welches im allgemeinen nicht schwer fällt.
Der Schauplatz ist d’Orvilles Haus und Garten in Offenbach; die Handlung eröffnet sich durch die Domestiken, wobei jedes genau seine Rolle spielt und die Anstalten zum Fest vollkommen deutlich werden. Die Kinder mischen sich drein, nach dem Leben gebildet, dann der Herr, die Frau mit eigentümlichen Tätigkeiten und Einwirkungen; dann kommt, indem alles sich in einer gewissen hastigen Geschäftigkeit durcheinander treibt, der unermüdliche Nachbar Komponist Hans Andre; er setzt sich an den Flügel und ruft alles zusammen, sein eben fertig gewordenes Festlied anzuhören und durchzuprobieren. Das ganze Haus zieht er heran, aber alles macht sich wieder fort, dringenden Geschäften nachzugehen, eins wird vom andern abgerufen, eins bedarf des andern, und die Dazwischenkunft des Gärtners macht aufmerksam auf die Garten- und Wasserszenen; Kränze, Bandrollen mit Inschriften zierlichster Art, nichts ist vergessen.
Als man sich nun eben um die erfreulichsten Gegenstände versammelt, tritt ein Bote herein, der, als eine Art von lustigem Hin- und Widerträger, berechtigt war, auch eine Charakterrolle mitzuspielen, und der durch manches allzugute Trinkgeld wohl ungefähr merken konnte, was für Verhältnisse obwalteten; er tut sich auf sein Paket etwas zugute, hofft ein Glas Wein und Semmelbrot, und übergibt nun, nach einigem schalkhaftem Weigern, die Depesche. Dem Hausherrn sinken die Arme, die Papiere fallen zu Boden, er ruft: »Laßt mich zum Tisch! laßt mich zur Kommode, damit ich nur streichen kann.«
Das geistreiche Zusammensein lebelustiger Menschen zeichnet sich vor allem aus durch eine Sprach-und Gebärdensymbolik. Es entsteht eine Art Gauneridiom, welches, indem es die Eingeweihten höchst glücklich macht, den Fremden unbemerkt bleibt, oder, bemerkt, verdrießlich wird.
Es gehörte zu Lilis anmutigsten Eigenheiten eine, die hier durch Wort und Gebärde als Streichen ausgedrückt ist, und welche stattfand, wenn etwas Anstößiges gesagt oder gesprochen wurde, besonders indem man bei Tische saß, oder in der Nähe von einer Fläche sich befand.
Es hatte dieses seinen Ursprung von einer unendlich lieblichen Unart, die sie einmal begangen, als ein Fremder, bei Tafel neben ihr sitzend, etwas Unziemliches vorbrachte. Ohne das holde Gesicht zu verändern, strich sie mit ihrer rechten Hand gar lieblich über das Tischtuch weg, und schob alles, was sie mit dieser sanften Bewegung erreichte, gelassen auf den Boden. Ich weiß nicht was alles, Messer, Gabel, Brot, Salzfaß, auch etwas zum Gebrauch ihres Nachbars gehörig; es war jedermann erschreckt, die Bedienten liefen zu, niemand wußte was das heißen sollte, als die Umsichtigen, die sich erfreuten, daß sie eine Unschicklichkeit auf eine so zierliche Weise erwidert und ausgelöscht.
Hier war nun also ein Symbol gefunden, für das Ablehnen eines Widerwärtigen, was doch manchmal in tüchtiger, braver, schätzenswerter, wohlgesinnter, aber nicht durch und durch gebildeter Gesellschaft vorzukommen pflegt. Die Bewegung mit der rechten Hand als ablehnend erlaubten wir uns alle, das wirkliche Streichen der Gegenstände hatte sie selbst in der Folge sich nur mäßig und mit Geschmack erlaubt.
Wenn der Dichter nun also dem Hausherrn diese Begierde zu streichen, eine uns zur Natur gewordene Gewohnheit, als Mimik aufgibt; so sieht man das Bedeutende, das Effektvolle; denn indem er alles von allen Flächen herunter zu streichen droht, so hält ihn alles ab, man sucht ihn zu beruhigen, bis er sich endlich ganz ermattet in den Sessel wirft.
»Was ist begegnet!« ruft man aus »Ist sie krank? Ist jemand gestorben?« »Lest! lest!« ruft d’Orville, »dort liegt’s auf der Erde.« Die Depesche wird aufgehoben, man liest, man ruft: »Sie kommt nicht!«
Der große Schreck hatte auf einen größern vorbereitet; - aber sie war doch wohl! - war ihr nichts begegnet! - Niemand von der Familie hatte Schaden genommen, Hoffnung blieb auf den Abend.
Andre, der indessen immerfort musiziert hatte, kam doch endlich auch herbei gelaufen, tröstete und suchte sich zu trösten. Pfarrer Ewald und seine Gattin traten gleichfalls charakteristisch ein, mit Verdruß und Verstand, mit unwilligem Entbehren und gemäßigtem Zurechtlegen. Alles ging aber noch bunt durcheinander, bis der musterhaft ruhige Onkel Bernard endlich herankommt, ein gutes Frühstück, ein löblich Mittagsfest erwartend, und der einzige ist, der die Sache aus dem rechten Gesichtspunkte ansieht, beschwichtigende, vernünftige Reden äußert und alles ins gleiche bringt, völlig wie in der griechischen Tragödie ein Gott die Verworrenheiten der größten Helden mit wenigen Worten aufzulösen weiß.
Dies alles ward während eines Teiles der Nacht mit laufender Feder niedergeschrieben und einem Boten übergeben, der am nächsten Morgen Punkt zehn Uhr mit der Depesche in Offenbach einzutreffen unterrichtet war.
Den hellsten Morgen erblickend, wacht’ ich auf, mit Vorsatz und Einrichtung, genau mittags gleichfalls in Offenbach anzulangen. Ich ward empfangen mit dem wunderliebsten Charivari von Entgegnungen; das gestörte Fest verlautete kaum, sie schalten und schimpften, daß ich sie so gut getroffen hätte; die Dienerschaft war zufrieden, mit der Herrschaft auf gleichem Theater aufgetreten zu sein; nur die Kinder, als die entschiedensten unbestechbarsten Realisten, versicherten hartnäckig: so hätten sie nicht gesprochen und es sei überhaupt alles ganz anders gewesen, als wie es hier geschrieben stünde. Ich beschwichtigte sie mit einigen Vorgaben des Nachtisches, und sie hatten mich wie immer lieb. Ein fröhliches Mittagsmahl, eine Mäßigung aller Feierlichkeiten gab uns die Stimmung, Lili ohne Prunk, aber vielleicht um desto lieblicher zu empfangen. Sie kam und ward von heitern, ja lustigen Gesichtern bewillkommt, beinah betroffen, daß ihr Außenbleiben so viel Heiterkeit erlaube. Man erzählte ihr alles, man trug ihr alles vor und sie, nach ihrer lieben und süßen Art, dankte mir, wie sie allein nur konnte.
Es bedurfte keines sonderlichen Scharfsinns, um zu bemerken, daß ihr Ausbleiben von dem ihr gewidmeten Feste nicht zufällig, sondern durch Hin- und Herreden über unser Verhältnis verursacht war. Indessen hatte dies weder auf unsre Gesinnungen noch auf unser Betragen den mindesten Einfluss.
Ein vielfacher geselliger Zudrang aus der Stadt konnte in dieser Jahrszeit nicht fehlen. Oft kam ich nur spät des Abends zur Gesellschaft, und fand sie dem Scheine nach teilnehmend, und da ich nur oft auf wenige Stunden erschien, so mocht’ ich ihr gern in irgend etwas nützlich sein, indem ich ihr Größeres oder Kleineres besorgt hatte, oder irgend einen Auftrag zu übernehmen kam. Und es ist wohl diese Dienstschaft das Erfreulichste, was einem Menschen begegnen kann; wie uns die alten Ritterromane dergleichen zwar auf eine dunkle aber kräftige Weise zu überliefern verstehen. Daß sie mich beherrsche, war nicht zu verbergen, und sie durfte sich diesen Stolz gar wohl erlauben; hier triumphieren Überwinder und Überwundene, und beide behagen sich in gleichem Stolze.
Dies mein wiederholtes, oft nur kurzes Einwirken war aber immer desto kräftiger. Johann Andre hatte immer Musikvorrat; auch ich brachte fremdes und eignes Neue; poetische und musikalische Blüten regneten herab. Es war eine durchaus glänzende Zeit; eine gewisse Exaltation waltete in der Gesellschaft, man traf niemals auf nüchterne Momente. Ganz ohne Frage teilte sich dies den übrigen aus unserm Verhältnisse mit. Denn wo Neigung und Leidenschaft in ihrer eignen kühnen Natur hervortreten, geben sie verschüchterten Gemütern Mut, die nunmehr nicht begreifen, warum sie ihre gleichen Rechte verheimlichen sollten. Daher gewahrte man mehr oder weniger versteckte Verhältnisse, die sich nun mehr ohne Scheu durchschlangen. Andere, die sich nicht gut bekennen ließen, schlichen doch behaglich unter der Decke mit durch.
Konnt’ ich denn auch wegen vermannigfaltigter Geschäfte die Tage dort draußen bei ihr nicht zubringen, so gaben die heiteren Nächte Gelegenheit zu verlängertem Zusammensein im Freien. Liebende Seelen werden nachstehendes Ereignis mit Wohlgefallen aufnehmen.
Es war ein Zustand, von welchem geschrieben steht: »Ich schlafe, aber mein Herz wacht«; die hellen wie die dunklen Stunden waren einander gleich, das Licht des Tages konnte das Licht der Liebe nicht überscheinen, und die Nacht wurde durch den Glanz der Neigung zum hellsten Tage.
Wir waren beim klarsten Sternhimmel bis spät in der freien Gegend umher spaziert, und nachdem ich sie und die Gesellschaft von Türe zu Türe nach Hause begleitet und von ihr zuletzt Abschied genommen hatte, fühlte ich mir so wenig Schlaf, daß ich eine frische Spazierwanderung anzutreten nicht säumte. Ich ging die Landstraße nach Frankfurt zu, mich meinen Gedanken und Hoffnungen zu überlassen; ich setzte mich auf eine Bank, in der reinsten Nachtstille, unter den blendenden Sternhimmel, mir selbst und ihr anzugehören.
Bemerkenswert schien mir ein schwer zu erklärender Ton, ganz nahe bei mir; es war kein Rascheln, kein Rauschen, und bei näherer Aufmerksamkeit entdeckte ich, daß es unter der Erde und das Arbeiten von kleinem Getier sei. Es mochten Igel oder Wieseln sein, oder was in solcher Stunde dergleichen Geschäft vornimmt.
Ich war darauf weiter nach der Stadt zu gegangen und an den Röderberg gelangt, wo ich die Stufen, welche nach den Weingärten hinaufführen, an ihrem kalkweißen Scheine erkennen konnte. Ich stieg hinauf, setzte mich nieder und schlief ein.
Als ich wieder aufwachte, hatte die Dämmerung sich schon verbreitet, ich sah mich gegen dem hohen Wall über, welcher in früheren Zeiten als Schutzwehr wider die hüben stehenden Berge aufgerichtet war. Sachsenhausen lag vor mir, leichte Nebel deuteten den Weg des Flusses an; es war frisch, mir willkommen.
Da verharrt’ ich, bis die Sonne nach und nach hinter mir aufgehend das Gegenüber erleuchtete. Es war die Gegend, wo ich die Geliebte wieder sehen sollte, und ich kehrte langsam in das Paradies zurück, das sie, die noch Schlafende, umgab.
Je mehr aber, um des wachsenden Geschäftskreises willen, den ich aus Liebe zu ihr zu erweitern und zu beherrschen trachtete, meine Besuche in Offenbach sparsamer werden und dadurch eine gewisse peinliche Verlegenheit hervorbringen mußten, so ließ sich gar wohl bemerken, daß man eigentlich um der Zukunft willen das Gegenwärtige hintansetze und verliere.
Wie nun meine Aussichten sich nach und nach verbesserten, hielt ich sie für bedeutender, als sie wirklich waren, und dachte um so mehr auf eine baldige Entscheidung, als ein so öffentliches Verhältnis nicht länger ohne Missbehagen fortzuführen war. Und wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt, sprachen wir es nicht ausdrücklich gegen einander aus; aber das Gefühl eines wechselseitigen unbedingten Behagens, die volle Überzeugung, eine Trennung sei unmöglich, das ineinander gleichmäßig gesetzte Vertrauen, das alles brachte einen solchen Ernst hervor, daß ich, der ich mir fest vorgenommen hatte, kein schleppendes Verhältnis wieder anzuknüpfen, und mich doch in dieses, ohne Sicherheit eines günstigen Erfolges, wieder verwickelt fand, wirklich von einem Stumpfsinn befangen war, von dem ich mich zu retten mich immer mehr in gleichgültige weltliche Geschäfte verwickelte, aus denen ich doch auch nur wieder Vorteil und Zufriedenheit an der Hand der Geliebten zu gewinnen hoffen durfte.
In diesem wunderlichen Zustande, dergleichen doch auch mancher peinlich empfunden haben mag, kam uns eine Hausfreundin zu Hülfe, welche die sämtlichen Bezüge der Personen und Zustände sehr wohl durchsah. Man nannte sie Demoiselle Delph, sie stand mit ihrer ältern Schwester einem kleinen Handelshaus in Heidelberg vor und war der größern Frankfurter Wechselhandlung bei verschiedenen Vorfällen vielen Dank schuldig geworden. Sie kannte und liebte Lili von Jugend auf; es war eine eigne Person, ernsten männlichen Ansehns und gleichen derben, hastigen Schrittes vor sich hin. Sie hatte sich in die Welt besonders zu fügen Ursache gehabt und kannte sie daher wenigstens in gewissem Sinne. Man konnte sie nicht intrigant nennen, sie konnte den Verhältnissen lange zusehen und ihre Absichten stille mit sich forttragen; dann aber hatte sie die Gabe, die Gelegenheit zu ersehen, und wenn sie die Gesinnungen der Personen zwischen Zweifel und Entschluss schwanken sah, wenn alles auf Entschiedenheit ankam, so wußte sie eine solche Kraft der Charaktertüchtigkeit einzusetzen, daß es ihr nicht leicht mißlang, ihr Vorhaben auszuführen. Eigentlich hatte sie keine egoistischen Zwecke; etwas getan, etwas vollbracht, besonders eine Heirat gestiftet zu haben, war ihr schon Belohnung. Unsern Zustand hatte sie längst durchblickt, bei wiederholtem Hiersein durchforscht, so daß sie sich endlich überzeugte, diese Neigung sei zu begünstigen, diese Vorsätze, redlich aber nicht genugsam verfolgt und angegriffen, müßten unterstützt und dieser kleine Roman fördersamst abgeschlossen werden.
Seit vielen Jahren hatte sie das Vertrauen von Lilis Mutter; in meinem Hause durch mich eingeführt, hatte sie sich den Eltern angenehm zu machen gewußt; denn gerade dieses barsche Wesen ist in einer Reichsstadt nicht widerwärtig und, mit Verstand im Hintergrunde, sogar willkommen. Sie kannte sehr wohl unsre Wünsche, unsre Hoffnungen, ihre Lust zu wirken sah darin einen Auftrag; kurz, sie unterhandelte mit den Eltern. Wie sie es begonnen, wie sie die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegen stellen mochten, beseitigt, - genug, sie tritt eines Abends zu uns und bringt die Einwilligung. »Gebt euch die Hände!« rief sie, mit ihrem pathetisch gebieterischen Wesen. Ich stand gegen Lili über und reichte meine Hand dar, sie legte die ihre, zwar nicht zaudernd, aber doch langsam, hinein, nach einem tiefen Atemholen fielen wir einander lebhaft in die Arme.
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