Die angehende Regierung des Herzogs von Weimar war eine herrliche Zeit für Weimar und ganz Deutschland. Alle Genies aus Osten und Westen strömten zu dem neuen Musensitze herbei und glaubten sämtlich, dort gleich Goethe, Herder und Wieland eine Freistatt zu finden. Bertuch, der Vater, der damals Schatzmeister beim Herzoge war, sprach später mit Vergnügen von einer eigenen Rubrik in seinen Rechnungen, die er damals besonders anlegen mußte und die fast nicht als Hosen, Westen, Strümpfe und Schuhe für deutsche Genies enthielt, welche, schlecht mit diesen Artikeln versehen, zu Weimars Toren einwanderten. Die Jugend des Herzogs und Goethes Mutwille wußten sich aus diesen Umständen gar manche ergetzliche Auftritte zu bereiten.
Um diese Zeit geschah es auch, daß Lenz, ein früher und genialer Jugendfreund Goethes, nach Weimar kam, als eben dieser und der Herzog zufällig nicht zugegen waren. Er steigt im Gasthofe zum „Erbprinzen“ ab und hört daselbst bald, daß heute abend am Hofe ein Bal pare sein solle. Bal pare oder Bai masque. das kam in Lenz’s Ohren auf ein und dasselbe heraus; denn er dachte deutsch und haßte die französische Sprache als allen gebildeten Deutschen anhaltende Erbsünde. Dem Dinge sollst du doch beiwohnen, denkt er bei sich, und weil dazu weiter nichts als ein schwarzer Domino und eine Maske gehört, so läßt er sich beides durch den Marqueur kommen, der ihn zwar mit großen Augen ansieht, aber doch tut, was der fremde Herr ihm geheißen hat. Sobald die Stunde schlägt, geht Lenz wirklich in diesem Aufzuge an den Hof. Man denke sich das Erstaunen der zum Tanze fröhlich geschmückten Herren und Damen, als plötzlich ein schwarzer Domino in ihrer Mitte erscheint. Lenz bemerkt es indes noch immer nicht, was für eine Rolle er hier spielt. Er geht vielmehr voll Zutrauen in den engen Kreis der Zuschauer und fordert eins der vornehmsten Fräulein zum Tanze auf. Diese aber erkundigte sich, wie zu erwarten stand, zuvor nach seinem Namen und Charakter, wie man es an den Toren nennt, und da er ihr kurzhin antwortet: „Ich bin Lenz“, so schlägt sie ihm, da dies kein ebenbürtiger Name ist, unter solchen Umständen den Tanz ebenso kurz ab; das heißt in der Kunstsprache: Sie bedauert usw.
Glücklicherweise erscheint inzwischen Goethe, als die Verwirrung aufs höchste gestiegen ist. Dieser erkennt sogleich in dem Domino den längst erwarteten, alten, wunderlich humoristischen Freund. Er läßt Lenz alsbald auf die Galerie rufen, die an den Saal stößt, und nach der ersten freudigen Wiedererkennung hebt er an: „Aber sag mir nur zum Teufel, was dir einfällt, in einem Zirkel bei Hof zu erscheinen, wo dich kein Mensch eingeladen hat, und noch dazu in einem solchen Aufzuge?“
„Geladen oder ungeladen“, versetzte der über seinen Korb noch immer etwas entrüstete Lenz, „das ist all eins! Es ist ein Maskenball, und da, denk ich, hat jeder freien Zutritt.“
„Was, Maskenball?“, fällt ihm Goethe hier aufs neue ins Wort; „Bal pare, Kind, oder vielmehr Kindeskopf, daß du das nicht unterscheiden kannst!“
„Nun meinetwegen Bal pare oder Bal masque!“, brummte Lenz in den Bart. „Was schiert mich all euer haarfeiner Distinktionskram und all euer verwünschter französischer Schnickschnack! Ich meinerseits bekomme jedes Mal ein Fieber, sooft ich nur ein Wort Welsch höre, wie ein welscher Hahn, der kaudert, sobald er rot sieht. Sind eure Ohren mit reinerm Taufwasser als die meinigen ausgewaschen, so dankt Gott dafür; nur wollt ihr mich mit all solchen höfischen Geschichten ein für allmal ungeschoren lassen, wenn ihr nicht wollt, daß ich sogleich wieder umkehren und mein Bündel schnüren soll. Ja, wenn es nur noch eine Sprache wäre, die sie sprachen, kurz, laut und verständlich, wie unsere; aber so schnarren sie durch die Nase wie eine Sackpfeife, und kein ehrlicher Deutscher kann aus dem Zeuge, das sie in Menge Vorbringen, klug werden.“ Goethe und Wieland, den Lenz selbst wegen seiner großen Vorliebe für die französische Literatur als einen halben Franzosen betrachtete, suchten den aufgebrachten Lenz möglichst zu besänftigen. Sie verließen bald darauf sämtlich den Hof, aber nicht ohne den Stoff zu einer geistreich fröhlichen Abendunterhaltung mitzunehmen.
Um dieselbe Zeit wurde auch ein Liebhabertheater in Weimar eröffnet, woran Goethe, Corona Schröter, Bertuch, von Einsiedel und andere den lebhaftesten und tätigsten Anteil nahmen. Einst spielte man den „Eifersüchtigen Ehemann“. Die Rolle des Liebhabers in diesem Stücke war dem Herrn von Einsiedel zugefallen. Unglücklicherweise aber überfiel diesen, kurz vor der Aufführung, eine Unpäßlichkeit. Die Rolle war in so kurzer Zeit nicht wieder zu besetzen, und zum größten Verdrusse aller übrigen Mitspielenden stockte nun das Ganze. Da schlug sich, mehr beherzt und gutmütig als in solchen Dingen gewandt, ein verwegener sächsischer Rittmeister ins Mittel und übernahm die Rolle. Am dritten Tage kam er zum Herrn von Einsiedel und ließ sich dieselbe überhören.
Es ging leidlich, besonders wenn man dabei, wie man konnte, auf einen guten Souffleur rechnete. Als es aber zur Aufführung kam, wurde alles anders, und der so unternehmende Rittmeister geriet in die größte Verwirrung. Es wurde ihm so heiß vor der Stirn, als ob er vor einer Schwadron Husaren ritte und eben einhauen sollte; doch faßte er sich einigermaßen und spielte fort, bis auf die Szene, wo er mit seiner Geliebten von dem eifersüchtigen Ehemanne überrascht und mit einem Dolche erstochen wird. Hier vergaß er plötzlich das Stichwort, stockte und meckerte in einem fort, und der eifersüchtige Ehemann, den Bertuch spielte, der schon lange mit einem Dolche hinter den Kulissen wartend dastand, konnte ihm durchaus nichts anhaben. Eben fing jener seine Rolle, Stichwörter und den ganzen Plunder, wie Shakespeare sagt, wieder von vorne an, als Bertuch plötzlich, auf Anraten Goethes, der die Direktion des ganzen führte, auf die Bühne sprang und dem Leben seines unglücklichen Nebenbuhlers durch einen kräftigen Dolchstich gleichsam ex abrupto ein Ende zu machen suchte. Wer aber nicht fallen wollte, war der Rittmeister. Vergebens, daß ihm Bertuch zu wiederholten Malen ins Ohr raunte: „Ins Teufels Namen, so fallen Sie doch!“ Er rührte sich nicht von der Stelle, sondern blieb kerzengerade und völlig aufrecht neben seiner Geliebten stehen, den Umstehenden, die ihm zuredeten, daß er fallen sollte, einmal über das andere versichernd, daß sein Stichwort noch nicht gekommen sei. In dieser für den Direktor ebensosehr als für die Mitspieler peinlichen Lage faßte der erstere einen heldenmütigen Entschluß und rief mit donnernder Stimme hinter den Kulissen hervor: „Wenn er von vorn nicht fallen will, so stich ihn von hinten durch den Rücken! Wir müssen ihn uns auf alle Fälle vom Halse schaffen! Er verderbt uns ja das ganze Stück!“
Auf diesen entscheidenden Zuruf ermannte sich auch der sonst so tätige, jetzt aber ebenfalls etwas unschlüssig gewordene Bertuch. „Stirb!“, rief auch er nun mit schrecklicher Stimme und führte zugleich einen so nachdrücklichen Dolchstoß in die Flanke seines Widersachers, daß derselbe, durch dieses Seitenmanöver außer Fassung gebracht, diesmal wirklich zu Boden fiel. In demselben Augenblicke aber erschienen auch schon vier von Goethe abgeschickte handfeste Statisten, die bestimmte Ordre hatten, den Toten, er möchte wollen oder nicht, hinweg und beiseite zu schaffen. Dies geschah denn auch wirklich, und zur größten Freude der Zuschauer konnte das Stück nun ungehindert fortspielen.
Oftmals bekam Bertuch, als Maitre de plaisir, noch ganz spät den Befehl, daß der Küchenwagen gerüstet werden mußte, weil man mit dem frühesten in den Wald wollte. War es in der Nähe, so genügten ein paar Küchenesel. Ging’s aber weiter über Berg und Tal, in die Ferne, unter Gottes blauem Himmel, da gab es die Nacht genug zu schaffen, und alle Kasserolen gerieten in Bewegung. In der herrschaftlichen Rüche ging es nun an ein Kochen, ein Sieden, ein Braten, ein Halsabschneiden von Kapaunen, Truthähnen, Tauben und anderm Geflügel. Wo man hinsah, herrschte Tätigkeit. Die Ilmteiche mußten noch spät ihre Fische, der Wald seine Rebhühner, der Keller seine ausgelegensten Weine hergeben.
Eine Gesellschaft von Herren und Damen, oft fröhlich untereinandergemischt, machte sich sodann gleich am frühen Morgen auf den Weg. Die Bäume in der tiefsten Einsamkeit, die sonst nur gleichgültige Geier an sich vorüberziehen sahen oder dem gaffenden Wilde, noch an der Hütte des Kohlenbrenners, eine Freistätte gewährten, wunderten sich über den singenden fröhlichen Zug; man konnte sagen, daß ihnen nun erst ihr Recht geschah, da sie eine heitere, dichterisch gestimmte Jugend unter ihren Schatten beherbergten und den Rausch einer allgemeinen Lust durch das Rauschen ihres grünen Obdachs vermehren halfen.
Bei solchen Auszügen fanden auch nicht selten kleinere und größere theatralische Spiele statt. Bäume, Wiesen, Quellen mußten die Bühne bilden. Zu Ettersburg, diesem so angenehmen Waldort, wo in der Regel ein Stand von einigen hundert Hirschen zu finden ist, sind noch die Grenzen solcher hier und da gelegentlich errichteten Waldbühnen abgesteckt. Welche lustige Auftritte es in einer so bunten, kecken, jugendmutigen und lebensfrohen Gesellschaft gab, welchen Abstich das stille, ruhige Walten der Natur gegen das tolle Treiben bei solchen Stegreifschauspielen machte und wie schon die Anstalten dazu einen Rahmen um das Ganze, ein Schauspiel in und außer dem Schauspiele bildeten: das wird jeder Leser mit nur mäßiger Phantasie leicht sich ausmalen können.
Auch auf der Ilm, da, wo der Fluß eine anmutige Krümmung des Ufers macht, wurde von diesen Natur-und Kunstfreunden ein förmliches Theater errichtet. Waldgebüsche, Zigeuner, Fischer, Nixen, Wassergeister, Sonne, Mond und Sterne, alles wurde in den Gang der Handlung auf sinnreiche Weise hineingezogen und geistreich benutzt. Einer jener Perioden verdankt das „Zigeunerlied“: „Im Nebelgereifel, im tiefsten Schnee“ etc., seine Entstehung.
Um jene Zeit war es auch, daß Goethe auf dem hohen, so romantisch einsam gelegenen Kickelhahn bei Ilmenau in einer kleinen Einsiedlerhütte, deren Fenster die weiteste Aussicht in die Heiden des Thüringer Waldes eröffnen, den letzten Aufzug seiner „Iphigenie“ schrieb. Diese halbverfallene Moos- und Baumhütte steht noch, und an ihren Wänden liest man von Goethes Hand folgende Inschrift:
Unter allen Gipfeln ist Ruh;
In allen Wäldern hörest du
Keinen Laut!
Die Vögelein schlafen im Walde;
Warte nur! Balde, balde
Schläfst auch du!
Zu Ettersburg sind überall noch an den Bäumen halbe und ganz verwachsene Inschriften vorhanden, die auf jene schönen Tage von Aranjuez, welche eine lebenslustige, dichterisch gestimmte Jugend hier, im Schoße der Natur, zwischen Wald und Wiesen so glücklich hinbrachte, nicht selten einen sinnigen Bezug haben.
Unten nach der Einsiedlerhütte zu, wo ein Besuch von Hirschen nicht selten ist und wo man sich um Egidi herum im Mondenschein zum Hirschverhör hinstellen kann, ist noch ein majestätischer Baum zu sehen, in dessen Rinde eingeschnitten, gleichsam wie in einem lebendigen Stammbuche, die so ehrwürdigen Namen: Herder, Gleim, Lavater, Wieland, Goethe mit deutlichen Zügen zu lesen sind.
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