Drei Hauptzonen Goethischer Äußerungen kreisen konzentrisch von außen nach innen für den Betrachter die Mitte seines Wesens ein, in verschiedenen Dichten der Gestaltung: seine Gespräche, seine Briefe und seine Werke.
Jede dieser Gruppen enthält wieder Unterkreise nach der Mitte hin. Alle drei Gruppen enthalten den gleichen Lebensstoff und die gleiche Lebensrichtung, aber in verschiedenen Intensitätsgraden oder gewissermaßen Aggregatzuständen. Die Gespräche sind das scheinbar Unmittelbarste, vom Hörer oder Leser her betrachtet, weil sie unsere unmittelbarste Berührung mit der momentanen Oberfläche Goethes sind. Von Goethe aus gesehen sind sie aber die mittelbarste, d. h., die bedingteste, die von seinem gestalterischen Zentrum am meisten entfernte, die von seinem bewußten ordnenden Willen am wenigsten abhängige seiner sämtlichen Äußerungsformen. (Ich will hierbei von der methodisch und quellenkritisch bedeutsamen Nebenerwägung absehen, daß wir allerdings gar nicht Goethes unmittelbare Hörer, sondern nur die Leser seiner Hörer sind, also selbst hier auf eine vermittelnde, d h. trübende Überlieferung angewiesen sind.) In den Gesprächen ist Goethe am wenigsten aktiv, also ge» staltend, am meisten passiv, d. h. beeinflußt, am wenigsten Formkraft, am meisten bloßer Lebensstoff, bloße Vitalität. Wem es am meisten um Goethes Vitalität zu tun ist, der findet hier ihre vorderste Quelle, ihren momen* tansten, d. h. oberflächlichsten Ausdruck. Das Gespräch wird mehr als
alle anderen Lebensäußerungen erzeugt recht eigentlich durch die äugenblickliche Verfassung des Redenden, durch jede noch so momentane Gegenwart, in der die unberechenbarsten Elemente sich mischen.
Wir können bei Goethes Gesprächen indes wiederum zwei Gruppen unterscheiden, nach dem Maß der Bewußtheit womit er sie führte: die eine Gruppe der uns überlieferten Gespräche kommt aus seinem Bedürfe nis sich auszusprechen unter dem Drang des Moments und stammt meistens aus seiner Jugendzeit. Später ist die vom Kanzler Müller vermittelte Sammlung unser Hauptzeugnis für diese Art Gespräche. Die andere Gruppe, die weitaus überwiegende Zahl, umfaßt diejenigen Gespräche in denen er seine Mitunterredner belehrt oder erzieht oder sein eigenes Bild mehr oder minder bewußt in die Seele des Hörers prägt. Goethe ließ sich, bei seinem entschiedenen Verantwortungsgefühl, durch den Menschen bedingen zu dem er sprach. Er achtete darauf was für diesen heilsam sei und suchte bei längerem Verkehr an ihm auszubilden was der Ausbildung bedürftig und fähig war. Wo er nichts auszubilden fand suchte er aus dem anderen herauszuholen was ihm, Goethe, selbst zu neuen Kenntnissen verhalf und ihm den Einblick und Ausblick erweiterte.
Aber gerade durch diese Bedingtheit, durch die notwendig einseitige Beziehung sind die Gespräche Goethes — selbst die unmittelbarsten, selbst die erwogensten — nur zufällige und momentane Zeugnisse für Goethes Wesen, auch wenn wir nicht dabei die bewußten und unbewußten Fälschungen abziehen müßten welche durch die Überlieferung entstanden. Schon in Goethe selber waren, wenn nicht fälschende, so doch einschränkende Faktoren die ihm den runden, freien Ausdruck seines Wesens verwehrten: sein erzieherisches Verantwortlichkeitsgefühl und der immer wechselnde Kontakt mit dem Hörer.
Dazu kommt noch eins: schon äußerlich erkennen wir die Gespräche als die oberflächlichste, die zufälligste, die unvollkommenste Zeugnisgruppe für Goethes Wesen: sie ist, verglichen mit den Briefen schon, geschweige mit den Werken, durchaus fragmentarisch. Wohl nicht der tausendste Teil dessen was Goethe gesprochen hat ist auf uns gekommen, von seinen Briefen wohl über die Hälfte, und von seinen Werken fast alles. Schon das deutet an daß von der Überlieferung über Goethe die Gespräche am meisten zufälligen Rohstoff enthalten, am weitesten von dem entfernt sind was Goethes tiefstes Wesen bedeutet: Gestalt. Aber da Goethe auch in seinen unbedachtesten flüchtigsten Augenblicken unter seinem gestaltenden Dämon steht, da er, besonders in seiner späteren Zeit, sein Ich zu solch erwogener Monumentalität durchgebildet hatte, daß
keine seiner Äußerungen ganz zufällig war, so sind uns freilich auch seine Gespräche unschätzbar schon als Zeugnisse dafür wie diese ewige Gestalt zum und im Augenblick selber stand.
In ihrer Gesamtheit geben sie ein deutlicheres Bild als irgendein noch so selbstbekenntnishaftes Einzelgespräch Goethes. Fruchtbar für die Erkenntnis Goethes ist uns daraus nicht die besondere Erfahrung: wie war Goethe in dem und dem Moment, zu dem und dem Menschen? sondern die Gesamterfahrung: wie setzte sich sein Unwandelbares, Unveräußerbares auseinander mit dem Vorübergehenden, Zufälligen, Fremden? Welches war seine Art, seine Geste des Reagierens? Denn Goethes Reagieren überhaupt, d. h. nicht sein Wesen, sondern seine Beziehungen können wir aus den zufälligen Dokumenten, aus den Gesprächen und dann aus vielen Briefen allerdings bequemer erfahren als aus den Werken. Denn Werke sind kein Sichinbezugsetzen. In seinen dichterischen Werken reagierte Goethe nicht auf einzelne Individualitäten, auch nicht auf sein zeitgenössisches Publikum: sie formten sich aus seinem Innern mit einer Notwendigkeit herauf die über seine Absichten hinausreichte, und selbst in seinen wissenschaftlichen Büchern, die allerdings Zwecke und Beziehungen nach außen hin hatten, galt Goethes Hinhorchen und Hinreden nur einer unsterblichen Geistergemeinschaft, in der ein Gleichgewicht zwischen den besonderen Menschlichkeiten immer hergestellt war. Nur von Goethes Werk aus haben für uns die Gespräche und Briefe einen Sinn. Statt der Werke dürfen sie keinem gelten: sie sind das lebensvollste Zeugnis für den zeitlichen Goethe, d. h. nicht für sein Schaffen, sondern für seine Wirkung, nicht für den Seher, sondern für den gesehenen Goethe, für seine Stellung unter den Zeitgenossen und deren mannigfaltige Verhältnisse zu ihm.
Goethes Briefe sind nicht nur zuverlässigere Zeugnisse als die Gespräche, weil wir nicht auf die Glaubwürdigkeit der Vermittler angewiesen sind, sondern sie sind auch von Goethe selbst aus betrachtet minder bedingt. Zwar: sie sind gleichfalls die Auseinandersetzung mit einem bestimmten, soundso beschaffenen Gegenüber, von dem Goethe in gewissem Sinn abhängig wurde, indem er sich mit ihm in Bezug setzte. Denn wir gestatten jedem einen Anteil an uns, einen Eingriff in uns mit dem wir uns auseinandersetzen — das liegt schon in dem Wort. Aber in Wegfall kommen dabei die unwägbaren Einwirkungen des Moments, die Apprehension durch die Gegenwart des anderen. Der Briefschreiber steht dem Empfänger ferner und also freier gegenüber als der Sprecher dem Hörer: er sieht ihn zusammengefaßter, geistiger, und wird minder durch das vordergründliche Bild des momentan Gegenwärtigen befangen, er selbst ist konzentrierter . . und so sind wir auch in den Briefen Goethes Zentrum um eine Zone näher als in den Gesprächen. Wir haben einen Goethe vor uns, der sich minder sub specie momenti gibt, einen gespannteren, konzentrierteren, dauerhafteren. Auch die Briefe unterliegen der Scheidung die wir bei den Gesprächen vornehmen konnten: in impressionistische und pädagogische — wovon abermals der weitaus größte Teil der ersten in die voritalienische, der größte Teil der letzteren in die spätere Zeit fällt.
Nun ist nicht ein für allemal das für Goethe bezeichnender was er bewußter geäußert . . nicht etwa ein wohlerwogenes Gespräch mit Eckermann an und für sich Goethischer als ein unwillkürlicher Ausbruch den ihm Müller entlockte. Seine fliegenden leidenschaftlichen Zettel an Charlotte von Stein enthalten nicht weniger Goethische Substanz als die Briefe an Schiller oder Zelter, worin er fast theoretisch gedrängte Überblicke über ganze Landschaften des Lebens oder der Kunst wirft. So echt, so lebendig, so sehr Goethischer Ausdruck sind seine unwillkürlichsten Äußerungen gewiß, denn auch der zufälligste Goethe unterscheidet sich von dem geformtesten nicht durch den geringem Grad der Echtheit, des Goethetums, sondern nur durch die geringere Komplettheit und Rundheit. Wir sind hier wieder an einen Punkt gestoßen worin Goethe einzig ist und ein eignes Gesetz für sich fordert: das Verhältnis von Instinkt und Bewußtsein in seinem Leben. Die bewußteren Äußerungen sind durchaus nicht bei jedem Menschen, und am wenigsten bei jedem genialen Menschen die kompletteren und bezeichnenderen und als solche bei der Bewertung und Darstellung seines Lebens vorzuziehen. Es gibt Menschen die gewissermaßen nur in unbewachten Momenten ihre Mitte offenbaren, deren ganzes Bewußtsein nur eine einzige Umdeutung und Mißdeutung ihres Lebens ist, die um so zufälliger, unwahrer, unwesentlicher reden, je bewußter und absichtlicher sie sich kundgeben. Es ist das Schicksal fast aller romantischen Naturen, und aller schauspielerischen Naturen: Richarde Wagner ist ein großes Beispiel. Bei solchen Menschen arbeitet der eigentliche Lebenstrieb, sei es nun ein produktiver oder ein aktiver, in einer völlig anderen Richtung als ihr Bewußtsein, ihr Bewußtsein weiß gewöhnlich nicht was ihr Instinkt will, wohin er will, und nur durch Momente der höchsten Erregung, bei Erlebnissen die die Geleise ihres gewöhnlichen Denkens überfluten oder zersprengen, vernehmen wir von ihnen Sprachtöne die aus derselben Welt zu kommen scheinen wie ihre rein genialisch instinktiven Hervorbringungen.
Es ist ein wesentliches Zeichen der klassischen Naturen daß bei ihnen Instinkt, Genie und Denken in derselben Richtung arbeiten. Ihr Denken ist nur die bewußte, hell gewordene Verlängerung des dunklen Lebensstroms der aus ihrer Mitte bricht, nur der genaue und gewissenhafte Vollzieher dessen was der Grundtrieb ihres Lebens ihm befiehlt, ihr Denken hat nicht, wie bei den Romantikern, Mystikern, Musikern eine eigene gesetzgebende oder gesetzstürzende Gewalt, sondern nur eine exekutive. Bei solchen Naturen sind die Äußerungen des formenden Bewußtseins nur der getreue Index dessen was in der dunklen Mitte und Tiefe vorgeht, die Helle ihrer Glut, der Logos ihres Eros . . Denn Logos und Eros sind dann nicht notwendige Gegensätze, es sind nur verschiedene Helligkeitsgrade desselben Zustandes. Für diese klassische Geistesart, welche im Altertum uns immer wieder als Norm bezaubert, ist in der neuen Welt Goethe das größte, sicher das deutlichste Beispiel.
Wenn auch das was er über sich wußte nicht das Ganze dessen ist was er war, sondern sich dazu verhält wie die Oberfläche der Kugel zum Inhalt der Kugel, so zeigt es doch für uns, die nicht Goethe sein können, sondem nur ihn denken können, seine Gestalt genau so deutlich an wie die Oberfläche der Kugel uns die Gestalt und den Umfang der Kugel anzeigt. Das Bild das Goethe von sich in die Welt werfen wollte entspricht wirklich dem was er war, und darum widersprechen auch niemals seine bewußten Kundgebungen (nicht einmal im sachlichen und begrifflichen Inhalt, geschweige in der seelischen Haltung) seinen unwillkürlichen Ausbrüchen, nur geben sie dasselbe deutlicher, ausgeprägter, mit einem-Wort, vollkommener. Darum ist der Werther ebenso echt Goethisch wie die Briefe an Lotte Buff und ihren Bräutigam, aber zugleich intensiver und monumentaler Goethisch. Und vielleicht ist es, bei dieser Anlage Goethes, sein dumpfstes Leben sofort in hellsten Sprachausdruck — das heißt doch Denkausdruck — umzusetzen, überhaupt heikel und unerlaubt eine strenge Grenze zwischen seinen unwillkürlichen und seinen bewußten Äußerungen zu ziehen: auch ist es nur ein ordnendes Hilfsmittel, in der Wirklichkeit fließt diese Grenze. Was zur Sonderung berechtigt, ist auch nicht der Unterschied beider Äußerungsarten, wie er in Goethes Charakter und Genie begründet ist, von innen her, sondern ihre verschiedene Begrenzung von außen her oder nach außen hin. Die unwillkürlichen Äußerungen sind solche die von außen her durch augenblickliche Umstände bedingt werden, durch die Person des Hörers oder Adressaten, oder was an Drang und Enge jeder Augenblick sonst mit sich bringt: das fälschende, den Willen Bedingende liegt hier also im Momentanen.
Ein fälschendes und einschränkendes Moment liegt auch in den sogenannten bewußten Äußerungen: das ist der Zweck, der pädagogische, politische, wissenschaftliche Sinn der dem Willen Goethes Richtung gibt und Grenzen setzt. Nur ist der Sinn mehr in der Gewalt Goethes, mehr seinem Wesen angehörig, insofern also seiner Willkür mehr unterstellt als die äußeren Umstände, und insofern sind seine zweckmäßigen Äußerung gen, seine bewußten Hinwendungen seiner Mitte näher, für ihn bezeichnender als seine unwillkürlichen. Denn Goethe konnte schon keine Zwecke haben die außerhalb seines Lebenstriebes lagen, eben weil er ein klassischer Mensch war, bei dem Trieb und Denken einheitlich wirkten. Wenn uns seine unwillkürlichen Äußerungen in ihrer Gesamtheit zeigen wie sein Ich auf das Nichtich reagierte, so erfahren wir aus seinen bewußten, zweckbedingten Äußerungen welche Grenzen und Ziele er sich selbst steckte: Beide Äußerungen geben seine Beziehung zur Welt, die unwillkürlichen seine passiven, die bewußten seine aktiven: die unwillkürlichen Gespräche, die hingeworfenen Zettel, zeigen Goethe leidend, die überlegten Unterredungen und Briefe, die Rezensionen, die wissenschaftlichen Traktate und die Dokumente zu seiner Amtstätigkeit zeigen ihn tuend — beides Beziehung gen, Bedingtheiten, nicht selbstgenugsames Wesen.
Wollen wir erfahren, nicht was Goethe litt und tat, sondern was er war und schuf, kraft seiner angeborenen Entelechie, so wenden wir uns an die innerste Sphäre seiner Welt, an seine dichterischen Werke. Nur Goethes Dichtungen geben seine unbezogene, in sich vollendete, autonome Gestalt, ohne Rücksicht auf das zeitlich beschränkte Dasein, ohne Rücksicht auf äußere Zwecke, — den produktiven Menschen. Sie sind die gestaltete Fülle seines Wesens das sich nach innerem Gesetz herauf formt, in diesen Formungsprozeß jeweils alles Augenblickliche als Stoff hereinzieht, verzehrt, verwandelt, wie der Formtrieb, das Wachstum einer Pflanze seine Nahrung aus Luft, Erde und Feuchtigkeit — also den äußeren Umständen und Zufällen ihrer Existenz — sich aneignet, in ihr Wachstum, ihr Pflanzentum, ihre Form verwandelt. Innerhalb der Werke selbst sind dieWirksamkeitsgrade dieses inneren Formgesetzes der Goethischen Gestalt ebenfalls verschieden. Wie sind die tausend mannigfaltigen Dichtungen alle als Ausprägungen einer und derselben Gestalt zu begreifen? Wie kann uns ein Zeitliches, nämlich Erleben und Schaffen, als Räumliches, nämlich als Gestalt, erscheinen? Der Widerspruch löst sich, wenn wir uns die zeitliche Entwicklung nicht vorstellen als das Abrollen einer Linie die von einem Punkte weiter geht, bis sie äußere Widerstände findet, sondern als die kugelförmigen Ausstrahlungen von einer Mitte her, Ausstrahlungen die im Maß als sie Vordringen zugleich die Atmosphäre, den Stoff den sie vorfinden, verwandeln mit ihrer spezifischen Kraft. Bei einer solchen Anschauung, die für den schöpferischen Vorgang das bezeichnendste Gleichnis gibt, ist kein Widerspruch zwischen dem Räumlichen und dem Zeitlichen einer Gestalt, zwischen der geprägten Form und der lebendigen Entwicklung. Denn im Vordringen, im Ausstrahlen, im Verwandeln ist die zeitliche Funktion, im Kugelartigen die räumliche Funktion der Gestaltung. Es ist die Rede von einer Kräftekugel. Dies Gleichnis verdeutlicht zugleich das Verhältnis von Gehalt und Stoff im Goethischen Schaffen: der Gehalt ist die lebendige, ausstrahlende Kraft, der Stoff ist die Atmosphäre dem diese ausstrahlende Kraft auf ihrem Vordringen begegnet und den sie durch ihr Vordringen verzehrt, verwandelt, der Goethischen Kräftekugel einbezieht.
Die einzelnen Werke sind die sichtbaren Schichten dieser strahlenden Kraft, als die Zonen der Gesamtkugel immer Goethisch, immer Zeugnisse der gleichen Gestalt, aber von verschiedenem Umfang und verschiedener Dichte und Struktur, wie die verschiedenen Jahresringe an Bäumen: gleichfalls Zeugnisse wirkender flüssiger Kräfte, gleichfalls raumgewordene Zeugnisse für zeitliche Vorgänge. Goethes Werke sind also Jahresringe, Jahreszonen der Goethischen Entwicklungskugel, nicht Stationen einer Goethischen Entwicklungslinie.
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