> Gedichte und Zitate für alle: K.v.Müller-Unterhaltungen m. Goethe: Goethe in Dornburg 29.04.1818 (16)

2015-07-16

K.v.Müller-Unterhaltungen m. Goethe: Goethe in Dornburg 29.04.1818 (16)



Goethe in Dornburg, am 29. April 1818.

Wir(1) fuhren bei heiterster Frühlingssonne gegen 8 Uhr morgens von Weimar aus nach Dornburg. — Blütenburg — sollte man sagen, denn Dornen fanden wir keine, aber duftende, herrliche Blüten in Menge. 


Wie der Wagen so vorüberrollte an friedlichen, stillen Dörfern, von frischgrünenden Obstund Grasgärten umschlungen, überkam uns alle ein unaussprechliches Gefühl heiterer Frühlingslust und Ahnung. Trauliche Gespräche, meist ernsteren Inhaltes, kürzten den Weg.


Falks gestrige Äußerungen über Toleranz und Mischung des Guten und Bösen in der Natur gaben bald Anlaß zu tieferen Erwägungen. Alles Böse, behauptete ich, nach Goethes Lehre komme eigentlich nur aus Irrtum oder Trägheit; es gebe kein radikales, ursprüngliches Böse, so wenig als der Schatten ein positives Etwas sei; der Dualismus habe von jeher die meisten Verwirrungen und Irrtümer erzeugt, das wahrhaft Menschliche zerspalten und die Menschen in Kampf und Widerspruch mit sich selbst verwickelt. So habe man töricht Gutes und Böses, Kunst und Natur, Offenbarung und Deismus, Geist und Körper, Ideal und Wirklichkeit einander schneidend und schroff entgegengesetzt und die Mitteltinten und Übergänge ganz übersehen. Die höchste Stufe der Kultur und Humanität sei Duldung und heiteres Bewußtsein, daß alle Disharmonie früher oder später in Harmonie sich auflösen werde und müsse! Solches Ziel habe Herder erstrebt, aber freilich nicht rein, nicht vollständig errungen, da seine Reizbarkeit und Tadelsucht ihn oft abgeführt habe vom rechten Wege. Goethe sei höchst tolerant mit dem Verstände, aber freilich nicht immer mit dem Gemüte.


Gegen 11 Uhr langten wir an. Eine Viertelstunde vorher ward der Weg steiniger, die Gegend öder, die Aussicht beschränkter; plötzlich tat das reizend blühende Saaletal in seiner ganzen Herrlichkeit sich unseren überraschten Blicken auf, und das Auge stürzte sich jubelnd und trunken die steilen Felsenabhänge hinab. Gastlich öffneten sich die Pforten des allerliebsten Feenschlößchens, das am schroffen Felsabhange wie durch Zauberei aufgerichtet scheint. Eilig durchflogen wir die Zimmer rechts und links, grüßten freudig die schönen Lahngegenden, die in bunten Landschaften hier aufgehängt sind und unter denen vorzüglich Weil-burg und Limburg uns als alte Bekannte traulich ansprachen, und postierten uns dann sofort an das Eckfenster im Zimmer der Frau Großherzogin Luise, damit unsere eifrige Zeichnerin von hier aus einen Teil der Gegend, vom alten Schlosse gegen die Brücke hinab, aufnehmen könne. Wir mochten so etwa eine halbe Stunde am offenen Fenster gesessen haben, als durch den kleinen Garten unter dem Fenster ein stattlicher Mann ernst und feierlich aus den Gebüschen heranschritt.


Es war Goethe, der hochverehrte Meister, den ein Brief von mir gestern abend von unserer Hierherreise benachrichtigt und zu uns eingeladen hatte — Jubelnd flogen wir ihm entgegen, und sein heiteres Auge lohnte unserer herzlichen Bewillkommnung. Alsobald mußte das Zeichnen fortgesetzt werden, mit der zärtlichsten Sorgfalt machte er auf alle kleinen Vorteile in Aufnahme und Behandlung des Gegenstandes aufmerksam und förderte das so begonnene Werk zum allerheitersten, bald lobend, bald scheltend. Achf wärst du mein Töchterchen, rief er scherzend aus, wie wollt' ich dich einsperren, bis du dein Talent völlig und folgerichtig entwickelt hättest! Kein Stutzer sollte dir nahen, kein Heer von Freundinnen dich umlagern, Konvenienz und gesellige Ansprüche dich nimmer umgarnen; aber kopieren müßtest du mir von früh bis in die Nacht, in systematischer Folge, und dann erst, wenn hierin genug geschehen, komponieren und selbständig schaffen. Nach Jahresfrist ließe ich dich erst wieder aus meinem Käfig ausfliegen und weidete mich dann am Triumphe deiner Erscheinung. Unsere Zeichnerin zeigte aber keine sonderliche Lust, sich einer solchen Kunstdiät zu unterwerfen, obwohl sie mit der muntersten Laune den alten Meister beschwor, ihr seine strengen Lehren auch auf ihrem gewohnten Lebensgange nicht zu versagen. Er schüttelte skeptisch den Kopf, vermeinend: solche hübsche Kinder horchten gar freundlich auf die Lehren der alten Murrköpfe, weil sie sich stillschweigend den Trost gäben, nur soviel davon zu befolgen, als ihnen gerade beliebte. Willst du aber, mein Engelchen, fuhr er fort, hierin wirklich eine Ausnahme machen, so fordere ich zur Probe dreißig Kopien von Everdingens in Kupfer gestochenen kleinen Landschaften, die ich dir zum Beginn eines folgerechten Portefeuille geben werde und setze dir sechzig Tage unerstreckliche Frist.


Die Freundin schrie hoch auf über die gewaltige Aufgabe; aber Goethe blieb unerbittlich und setzte wie ein wahrer Imperator hinzu: Wie du es ausführst, das ist deine Sache; genug, ich fordere es und weiche kein Haar breit von meinem Gebote ab. 


So verstrich unter Scherzen und Neckereien der Rest des Vormittags; unterdessen war im zierlichen Saale das kleine Mittagsmahl aufgetischt und das fröhliche Quartett ließ sich nicht lange mahnen. Auf derselben Stelle wurde es eingenommen, wo einst vor 16 Jahren eine verwandte fröhliche Gesellschaft bei ähnlicher Luftfahrt in heitern Uebermuth auf rosenbestreuten Postern unter Guitarrenspiel und Gesang sich niederlassen und dem Genius des Orts manch geflügeltes Wort und Lied geopfert hatte:


Die alten Bergen schauten freundlich wiederHerein auf unser Mahl, auf unsere Luft,Und leiser Nachhall jener frohen LiederZog mit Erinnerungsschauer durch die Brust.
Es taucht der Blick ins stille hernieder,Sucht nach den Zeugen längst entschwundener LuftUnd an des Flußes Krümmung, auf den FlurenGeliebter Tritte längst verwischter Spuren!


Doch bald nahm das Gespräch eine höhere Richtung. In solcher Naturherrlichkeit, in solchem Freiheitsgefühl von allem Zwang der Konvenienz schließt der edlere Mensch sein Inneres willig auf und verschmäht es, die strenge Maske der Gleichgültigkeit vor sich zu halten, die im täglichen Leben den Andrang der lästigen Menge abzuhalten bestimmt ist. So auch unser Goethe! Er, dem über die heiligsten und wichtigsten Anliegen der Menschheit so selten ein entschiedenes Wort abzugewinnen ist, sprach diesmal über Religion, sittliche Ausbildung und letzten Zweck der Staatsanstalten mit einer Klarheit und Wärme, wie wir sie noch nie an ihm in gleichem Grade gefunden hatten. Das Vermögen, jedes Sinnliche zu veredeln und auch den totesten Stoff durch Vermählung mit der Idee zu beleben, sagte er, ist die schönste Bürgschaft unseres übersinnlichen Ursprungs. Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick forschend und sehnend zum Himmel auf, der sich in unermeßlichen Räumen über ihm wölbt, weil er es tief und klar in sich fühlt, daß er ein Bürger jenes geistigen Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen noch aufzugeben vermögen. In dieser Ahnung liegt das Geheimnis des ewigen Fortstrebens nach einem unbekannten Ziele; es ist gleichsam der Hebel unseres Forschens und Sinnens, das zarte Band zwischen Poesie und Wirklichkeit.


Die Moral ist ein ewiger Friedensversuch zwischen unseren persönlichen Anforderungen und den Gesetzen jenes unsichtbaren Reiches; sie war gegen Ende des letzten Jahrhunderts schlaff und knechtisch geworden, als man sie dem schwankenden Kalkül einer bloßen Glückseligkeitstheorie unterwerfen wollte; Kant faßt sie zuerst in ihrer übersinnlichen Bedeutung auf, und wie überstreng er sie auch in seinem kategorischen Imperativ ausprägen wollte, so hat er doch das unsterbliche Verdienst, uns von jener Weichlichkeit, in die wir versunken waren, zurückgebracht zu haben. Der Charakter der Roheit ist es, nur nach eigenen Gesetzen leben, in fremde Kreise willkürlich übergreifen zu wollen. Darum wird der Staatsverein geschlossen, solcher Roheit und Willkür abzuhelfen, und alles Recht und alle positiven Gesetze sind wiederum nur ein ewiger Versuch, die Selbsthilfe der Individuen gegeneinander abzuwehren.


Wenn man das Treiben und Tun der Menschen seit Jahrtausenden überblickt, so lassen sich einige allgemeine Formeln erkennen, die je und immer eine Zauberkraft über ganze Nationen, wie über die Einzelnen ausgeübt haben, und diese Formeln, ewig wiederkehrend, ewig unter tausend bunten Verbrämungen dieselben, sind die geheimnisvolle Mitgabe einer höheren Macht ins Leben. Wohl übersetzt sich jeder diese Formeln in die ihm eigentümliche Sprache, paßt sie auf mannigfache Weise seinen beengten individuellen Zuständen an und mischt dadurch oft so viel Unlauteres darunter, daß sie kaum mehr in ihrer ursprünglichen Bedeutung zu erkennen sind. Aber diese letztere taucht doch immer wieder unversehens auf, bald in diesem, bald in jenem Volke, und der aufmerksame Forscher setzt sich aus solchen Formeln eine Art Alphabet des Weltgeistes zusammen.


Wir lauschten aufmerksam jedem Worte, das dem teuren Munde beredt entquoll, und waren möglichst bemüht, durch Gegenrede und Einwurf immer lebendigere Äußerungen hervorzulocken. Es war, als ob vor Goethes innerem Auge die großen Umrisse der Weltgeschichte vorübergingen, die sein gewaltiger Geist in ihre einfachsten Elemente aufzulösen bemüht war. Mit jeder neuen Äußerung nahm sein ganzes Wesen etwas Feierlicheres an, ich möchte sagen, etwas Prophetisches. Dichtung und Wahrheit verschmolzen sich ineinander und die höhere Ruhe des Weisen leuchtete aus seinen Zügen. Dabei war er kindlich mild und teilnehmend, weit geduldiger als sonst in Beantwortung unserer Fragen und Einwürfe, und seine Gedanken schienen wie in einem reinen ungetrübten Äther gleichsam auf und nieder zu wogen.


Doch nur allzu rasch entschlüpften so köstliche Stunden. Laßt mich, Kinder, sprach er plötzlich vom Sitze aufstehend, laßt mich einsam zu meinen Steinen dort unten eilen; denn nach solchem Gespräch geziemt dem alten Merlin, sich mit den Urelementen wieder zu befreunden. Wir sahen ihm lange und frohbewegt nach, als er, in seinen lichtgrauen Mantel gehüllt, feierlich ins Tal hinabstieg, bald bei diesem, bald bei jenem Gestein, oder auch bei einzelnen Pflanzen verweilend, und die ersteren mit seinem mineralogischen Hammer prüfend. Schon fielen längere Schatten von den Bergen, in denen er uns wie eine geisterhafte Erscheinung allmählich entschwand. Wir aber fuhren unter traulichen Erinnerungsgesprächen durch das blühende Jenaische Tal froh und heiter nach Hause.


1. Mit Julie von Egloffstein; der andere Theilnehmer ist nicht zu ermitteln. Vielleicht Meyer?





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