K.v.Müller-Unterhaltungen m. Goethe: 15.01.1821 (42)
Montag, 15. Januar. 1821
Abends nach acht Uhr zu ihm gegangen und bis nach zehn Uhr geblieben. Ich erwähnte Schubarth's schöner Äußerungen über das ideale Maß jeder menschlichen Anlage gelegentlich seines Aufsatzes über »Faust«. Goethe nahm Gelegenheit, mir dessen letzten Brief zu zeigen: »wie ungern ich auch« - setzte er hinzu - »Briefe vorzeige.«
Schubarth klagt in diesem Briefe, das der jetzige Zeitpunkt so ungünstig für eine freie wissenschaftliche Ausbildung sei; es lohne fast nur, sich zum Parlaments-Redner oder Advocaten zu bilden, da alles Interesse sich fast ausschließlich auf Schlichtung der verworrenen öffentlichen und Privatverhältnisse beziehe. Unglaublich ist, wie sehr Schubarths sich Goethes Brieftstil angebildet, Alles besonnen, mäßig, sinnvoll, aber für solche Jugend fast zu altklug und ruhig.
Eben kamen eine Menge Briefe an ihn von der Post an. Er theilte mir die neue Berliner Monatsschrift mit, worin ein fingirter, von Madame Laura Förster - die Goethe als sehr schön schildert - abgefaßter Bericht an Goethe über die Berliner Kunstausstellung befindlich. (1) Dann zeigte er mir sein Tagebuch, in Folio zu halbem Rand geschrieben, wo am Rande jeder abgegangene Brief genau bemerkt ist. Auf gleich großem Bogen bemerkt er täglich am Morgen die »Agenda«nur mit Einem Wort für jedes Vorhaben, und durchstreicht es jedesmal nach geschehener Erledigung. Selbst die Zeitungen, die er liest, werden actenmäßig geheftet. Bei den Bibliotheken hier und in Jena muß ihm jeder Angestellte ein sauber geschriebenes Tagebuch halten, worin Witterung, Besuche, Eingänge und Vorgänge aller Art, sowie das jeden Tag Gearbeitete aufgezeichnet werden müssen. »So« - spracher - »wird den Leuten erst lieb, was sie treiben, wenn sie es stets mit einer gewissen Wichtigkeit anzusehen gewohnt werden, stets in gespannter Aufmerksamkeit auch auf das Kleinste bleiben.«
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