ERSTE BILDUNGSMÄCHTE
Zwischen Urerlebnissen, d.h.den Erschütterungen denen der Mensch kraft seiner inneren Struktur ausgesetzt ist, und Bildungserlebnissen, d. h. den geistig geschichtlichen Einflüssen und Begegnissen, schon geformten Anschauungen aus Kunst, Wissenschaft, Religion, waltet noch eine Reihe langsam und heimlich bildender Mächte, die man nicht als Urerlebnis bezeichnen kann, denn sie sind nicht durch die Wesensart des Menschen gegeben, und doch nicht als Bildungserlebnis, denn sie sind nichts Geformtes, nichts eigentlich Geistiges. Der Beginn und das Ende ihrer Einwirkung kann nicht bestimmt, die Tragweite ihrer Einwirkung nicht abgegrenzt werden, weil sie nicht unmittelbar in Gestaltung umgesetzt sind sondern erst allmählich ihre Kraft erproben. Als Zustände, nicht als Ereignisse, wirken Haus, Familie, Stadt, Landschaft, Volk, samt ihrem geistig»sinnlichen Inventar, kurz, das sogenannte „Milieu“, das man oft fast für den ausschlag» gebenden, den allmächtigen Faktor bei der Gestaltung eines Menschen hielt. In der Tat, je tiefer ein Mensch steht, desto mehr wird er gerade von die» sen Faktoren bestimmt, je schöpferischer er ist, desto mehr bedingt er selbst sie. Desto mehr benutzt er sie, wenn er ein Täter ist, desto mehr verwandelt er sie sich an, wenn er ein Künstler ist.
Auch Goethes Milieu ist uns vertraut durch den Bericht in Dichtung und Wahrheit, d.h. also, weil er es zum Stoff seiner dichterischen Erzählung gemacht hat . Das Haus mit dem Geräms, Vater, Mutter, Verwandte und Bekannte, den Geruch der alten Reichsstadt mit ihren Gebäuden, Winkeln, Gassen, Fleischbänken, Brücken, die bauliche und gewerbliche, historische und landschaftliche Luft hat der alte Goethe uns vermittelt in seiner Erinnerung. Auch hier ist die Frage was von dieser Atmosphäre des Goethischen Hauses und des alten Frankfurt im Werk des jungen Goethe Ausdruck, nicht nur Bericht, geworden ist. Welche Goethischen Gewächse sind in dieser Altfrankfurter Luft gediehen — wie in manchen Gesängen Dantes Florenz, wie in Platos Dialogen Athen atmet? Diese Luft wird freilich nicht erzeugt dadurch daß man die Requisiten und Kulissen einer Umgebung erwähnt, Altfrankfurt wird nicht dadurch dichterisch evociert daß man den Römer nennt, Venedig nicht durch Anführung von San Marco oder Campanile (wie etwa moderne Poeten meinen, sie hätten etwas vom Geist des Maschinenzeitalters eingefangen, wenn sie von Propeller und Vergaser reimen). Man fängt den Gehalt und die Stimmung einer Zeit der eines Milieus nicht ein, indem man sie auf ihre Sachbegriffe abzieht, so wenig die Blume eines Weins in der aufgeklebten Etikette liegt.
Verhältnismäßig spät finden sich bei Goethe die Spuren seines Fiankfurter Knabenmilieus in der Produktion, und selbst dann spricht mehr nachträgliche Erinnerung als Gegenwart. Der besondere Geruch alter Bürgerhäuser mit Treppen und Winkeln, mit verbotenen und verschlossenen Gemächern, wo gedörrtes Obst, Wachstücher, Seife und Gerümpel aufbewahrt sind, umwittert uns dicht und fast unheimlich zuerst im Anfang des Urmeister — dort wo die Entdeckung der Theaterrequisiten erzählt wird. Nur dort ist dieser Dunstkreis unmittelbar in Dichtung umgesetzt» In der späteren Fassung der Lehrjahre überwiegt schon völlig die Erinnerung : das Milieu wird geschildert, aber nicht mehr ausgedrückt. Im Urmeister webt es noch selbst. In Dichtung und Wahrheit redet Goethe über seine Knabenwelt, nicht aus ihr.
Gibt der Urmeister den Geruch des Goethischen Hauses, so schlägt uns Lärm und Luft des städtischen Treibens, freilich schon äußerlicher und requisitenhafter behandelt, entgegen im Jahrmarktsfest von Plundersweilen, auch noch Faust II 3 Akt. Zwar gibt Goethe dort mehr das typische Gewimmel und Gelärme eines Jahrmarkts als das spezifisch Frankfurtische, welches allerdings durch einige dialektische Anklänge bezeichnet wird, in den Reden des Hanswursts und des Marktschreiers: daraus und nur daraus können wir entnehmen daß die in diesem Schönbartspiel dargestellten Bilder gerade Frankfurter Eindrücke verarbeiten . . wie wir überhaupt am besten unsere Ansicht vom Ursprung und von der Gestaltung eines Werks dadurch kontrollieren daß wir alle unsere außerhalb des Werks über dasselbe gewonnenen Kenntnisse ausschalten und uns fragen was es uns dann noch sagt. Nur das was nach Ausscheidung aller solchen biographischen Nachträge noch zu uns aus dem Werk selbst spricht ist Goethischer Gehalt und gehört wesentlich zu ihm.
Schwieriger noch als die Spuren der sachlichen Umgebung des Knaben, Stadt und Haus, ist es die Einwirkung der menschlichen Umgebung im Ausdruck, in Gebild und Gebärde Goethes wahrzunehnen. Nicht nur daß dieser Einfluß, zumal der wichtigste, der der Eltern, beweglicher, eindringlicher, gleichsam minder statisch ist als der sachliche — es kommt noch dazu daß ja im Kind selber schon von der Geburt an Eigenschaften der Eltern haften. Die Erziehung durch die Eltern entwickelt vielfach nur weiter von außen her was durch ihr eigenes Blut dem Kind schon von innen her eingefleischt war. Bei Zeugnissen die man auf die Eltern zurückführt wird immer schwer zu scheiden sein zwischen Angeborenem und Angezüchtetem. In dem was ein Kind den Eltern verdankt trifft gleichsam Ich und Nichtich im Indifferenzpunkt zusammen. Wirkendes und Gewirktes, Gewachsenes und Eingeflossenes vermählen sich nicht nur, sondern sind eins, mindestens für uns nicht zu unterscheiden. Goethe hat in einem Verschen welches Gemeingut und Gemeinplatz geworden ist die Elemente seines Wesens, soweit sie durch Blut und Abkunft zu erklären waren, bezeichnet. Er deutet darin sein Wesen als ererbte, nicht als anerzogene Eigenschaften, und doch ließe sich „des Lebens ernstes Führen“ gar wohl auch als eine Folge der Erziehung deuten.
Von Goethes Erziehung berichtet Dichtung und Wahrheit, zeugen einige Schularbeiten des Knaben. Sobald von Erziehung die Rede ist, denkt man unwillkürlich zunächst an den Vater, während die Frau Rat mehr als das Licht, die Luft, die allgemeine lebendig menschliche Atmosphäre vor unserem Sinn steht. Der Vater, mit seiner pedantisch trockenen, gravitätisch gediegenen Art, dabei doch nicht ohne einen geheim bewahrten, gleichsam schamhaft gehüteten Traum, ohne jenen heimlichen Zug zum Hohem, der allen nicht ganz entarteten wenn auch noch so engen und behäbigen deutschen Bürgern innewohnt (wenigstens vor den Gründerjahren innewohnte) wirkt als das aktive Element der Familie, die Mutter mehr als das produktive, vegetabile. Der Vater machte sich bewußt, fast schwerfällig und lästig geltend und wurde von den Kindern oft als Zwang empfunden, obwohl Familientradition und kindliche Pietät damals viel zu feste und instinktiv gescheute Gesetze waren, als daß die väterliche Autorität im Bewußtsein der Kinder hätte bezweifelt oder verwünscht werden können. Doch spürt man noch aus den Erinnerungen des greisen Goethe daß er seinem Vater mehr legitime Pietät als spontane Liebe entgegengebracht hat.
Die Mutter dagegen war einfach da, und brauchte nur da zu sein, um zu wirken und zu wecken, eine Frau die Wärme verbreitete durch ihre selbst genugsam rege Gegenwart. Sie war nicht — wozu man sie wohl aus Dankbarkeit gegen die Mutter des Halbgottes machen wollte — eine übergewöhnlich begabte oder gar geniale Frau (wobei ich unter genial nicht einmal Frauen mit großen Leistungen, wie Sappho oder Katharina von Rußland, verstehe, sondern im Frauenhaften, durch Lebenshaltung und Gesinnung schon fraulich große Seelen, wie Caroline Schlegel). Goethes Mutter war nur eine durchaus ursprüngliche, echte, innerlich anmutige, regsame und heiter kräftige Bürgersfrau, mit den besten Zügen gerade der deutschen, besonders der süddeutschen Bürgersfrau, häuslich und tüchtig, und dabei doch läßlich und beweglich bis zur Spielerei, bis zur Eitelkeit, und von jenem gesunden Mangel an logischer Schwere und sittlicher Starrheit ohne den eine Frau doch nur halb Frau ist. Ihr gesunder Menschenverstand war Temperament, nicht Intellektualität, ihre gescheiten Einfälle kamen vom Herzen, nicht vom Hirn . Wenn ich sie wegen ihrer bürgerfraulichen Tugend lobe, so denke ich dabei freilich an eine Epoche da der Bürger noch Civis, nicht Bourgeois war, da es noch ein selbständiges städtisches Leben gab mit eignem Geist, eigner Natur, eigner Kultur, da der Bürger noch Gewächs und aktiver Träger einer polititischen Stadtgesamtheit war, einer Polis, einer Burg, einer Gemeinde.
Doch nicht das Denkmal das Goethe als Schriftsteller seinen Eltern gesetzt hat, sondern das Denkmal das sie selbst sich in Goethes Schriftstellerei gesetzt haben wollen wir besuchen. Ihr Einfluß ist zu allgemein, zu sehr schon mit Licht und Luft eingegangen in Goethes Gesamtnatur als daß er noch einzeln herauszulösen wäre. Man mag eine gewisse methodische und fast pedantische Art des Arbeitens die der Knabe übte, wie seine Schulexerzitien zeigen, die er sogar, laut Dichtung und Wahrheit, bei seiner kindlichen Romanproduktion nicht verleugnete, die sich in seiner Handschrift von früh bis ins höchste Alter bekundet, kurz man mag des „Lebens ernstes Führen“ mit Goethe selbst aus seines Vaters Blut oder aus der väterlichen Erziehung begründen. Goethe war auch darin glücklich daß seine Eltern mehr eine menschgewordene Luft, eine leise eindringende und gelinde waltende Macht waren, als eine deutlich bedingende, eigenwillig einschränkende, einrenkende. Bei dem Charakter von Goethes Vater, der nicht nur rechthaberisch und eigensinnig, sondern fast schrullenhaft war, hätte eine solche Gefahr frühzeitigen Konflikts zwischen der Anlage des Knaben und den Zwecken und Gesinnungen des Vaters nahe gelegen, obwohl bei Goethes Spannkraft, Dehnbarkeit und Verdauungsgabe der Vater schon ein ungewöhnlich bösartiger und stählerner Tyrann hätte sein müssen, wenn er ernstlich die Entwicklung, das stille und zugleich rasche, natürliche und zugleich mächtige Wachstum hätte gefährden sollen. Doch alle etwaige Gefahr von seiten des Vaters die auch wirklich für die schwächere Cornelia, Goethes Schwester, zum Verhängnis geworden zu sein scheint und für Goethes Familie in einer späteren Zeit, als Goethe selbst der väterlichen Einflußsphäre entwachsen war, zu einem lastenden Druck ausartete) wurde von vornherein paralysiert durch die Mutter. Obwohl weniger systematisch und nicht durch die persönliche Autorität als Hausvorstand unterstützt, überwog sie im Goethischen Haus durch ihre größere Lebenskraft und Lebensfülle, durch ihr Temperament, ein Temperament das in derselben Richtung lief wie das ihres Sohnes. Weil sie so völlig Goethische Luft ist, merkt man sie nicht als einen gesonderten Einfluß, als einzelnes Ereignis innerhalb der Goethischen Produktion. Haben außer dieser unkontrolliert baren atmosphärischen Einwirkung die Eltern als Gestalten, als menschliche Typen in Goethes Schaffen Spuren hinterlassen und sich als Phantasie eindrücke dem Kind so eingeprägt, daß er sie unwillkürlich in seinen Werken durchscheinen ließ? Das wäre zu unterscheiden von den bewußten Denkmalen mit denen er sie verewigen wollte. Solche bewußten Denkmale hat er ihnen in Dichtung und Wahrheit gesetzt, seiner Mutter wohl auch in Goetz und Hermann und Dorothea, obwohl man hier schon im Zweifel sein kann ob es sich mehr um ein unbewußt typisches Erinnerungsbild, ob mehr um eine bewußte Nachbildung handelt. Die Gestalt des Vaters wüßte ich in Goethes Werken nirgends wieder zu erkennen, denn der Typus des ehrenfesten, gesetzten, geordneten Mannes in reifen Jahren, der bei Goethe öfter wiederkehrt, ist zu unbestimmt in der Produktion und zu häufig in der Wirklichkeit, um auf die Erinnerung an den Vater zurückgeführt werden zu dürfen.
Auch sonst haben die Knabeneindrücke Goethes, soweit sie von Personen ausgingen, keine unverkennbaren Spuren in seinen Werken hinterlassen. Selbst seine geliebte Schwester Cornelie, ein ebenso dämonisch unseliges Geschöpf wie Wolfgang dämonisch gesegnet war, ist uns nur in Dichtung und Wahrheit aufbewahrt. Einige ihrer Züge meinen wir an der Aurelie im Wilhelm Meister zu erkennen, aber doch nur so wie uns bei einer Begegnung mit einem neuen Menschen unbestimmte Ähnlichkeiten mit Bekannten beunruhigen.
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