Die Mitschuldigen sind nicht so reinlich als eine Selbstdarstellung erkennbar, wenngleich zum Alcest, und zwar weniger zu seinem Charakter als zu seinen Gefühlen, eigne Zustände die Farben hergeben mußten: der dringende, unbefriedigte, mit Unrecht sich verkürzt glaubende Liebhaber ist, einerlei in welchen Situationen er seine Gesinnungen und Gefühle äußert, auch hier projiziert aus Goethes eigenen Leipziger Stimmungen. Man muß unterscheiden ob die Selbstdarstellung in der Handlung oder nur in den Worten, d. h. den Gefühlen aufzusuchen ist. Die Laune des Verliebten ist eine Handlung welche von Goethe eigens erfunden worden ist nach Analogie eigener Erlebnisse, um daran seine Gefühle darzustellen, zu objektivieren: gewissermaßen als konkretes Gestell für seine Gefühle. In den Mitschuldigen war die Handlung zuerst da, als Handlung hat sie ihn interessiert und die Erfahrung woraus sie hervorgegangen ist, war nicht ein persönliches Sentiment, wie das des gekränkten Liebhabers, sondern die Beobachtung gewisser gesellschaftlicher Zustände, nicht ein objektiver Blick ins eigene Innere, sondern ein Blick in die Umwelt, und nur in manche Partien der Ausführung spielten eigene Empfindungen hinein. Die Laune des Verliebten ist bei gleicher Technik der Sprache und der Szenenführung einfacher, gradliniger, die Mitschuldigen sind polyphoner und umspannen einen größeren Kreis der Beobachtung, sie setzen auch rein als Leistung ein größeres Können, ein Virtuosentum voraus. Sie sind in einem höheren Maß von Außenwelt gespeist als die Laune des Verliebten, aber freilich von einer Außenwelt die Goethe nicht so am Herzen lag wie die Innenwelt der er in der Laune des Verliebten Ausdruck verlieh. Er betätigte hier zum erstenmal was er später seinen realistischen Tick genannt hat: die Lust und die Kraft sich nach außen hin auf die Anschauung und Darstellung eines ihm fremden, ja selbst widrigen Gegenstandes zu konzentrieren, zu beobachten und nachzuzeichnen um jeden Preis, einmal um sich abzuhärten gegen den Andrang der Umwelt, und sodann um seine Augen und seine Hand zu üben, zu festigen, daß sie auch das Widerstrebende ertragen und bannen könne.
Schon so früh begegnen wir diesen zwei Linien der Goethischen Produktion: der Selbstdarstellung durch gestaltende Beichte dessen was sein Inneres füllte und von innen her zu zersprengen drohte, und der Weltdarstellung durch gestaltende Distanzierung dessen was von außen her an ihn herandrängte. In beiden Fällen handelt es sich um eine Befreiung und um eine Distanzierung: denn sowohl unser Inneres als das Äußere droht uns zu verwirren und an der Gestaltung zu hindern. Das was unbewältigt in uns liegen bleibt, und was fremd auf uns zudringen, uns Luft und Aussicht rauben will — beides ist unerträglich für den Menschen dessen Aufgabe die Gestaltung ist.
Der Gegensatz zwischen Ich bild und Weltbild begegnet uns zum erstenmal deutlich, wenn wir die Laune des Verliebten und die Mitschuldigen vergleichen — und zugleich ist schon hierbei der Unterschied zwischen einer notwendigen Entladungsdichtung, Beichte, und einem meisterlich gelungenen Experiment. Die rein technischen Qualitäten der Mitschuldigen überwiegen — das Bild der Gesellschaft das Goethe hier bannen wollte hat er vollständig herausgebracht. Die Helligkeit und die Tiefe seines Blicks, die Sicherheit seiner Hand, die Konzentration — sowohl die Intelligenz die so beobachten und durchschauen konnte als die technische und sprachliche Gewalt die das Beobachtete so wiedergeben konnte ist erstaunenswert: aber dennoch ist in dem Stück nichts was nicht ein begabter und gescheiter Mensch lernen könnte, keine jener wahrhaft genialen Konzeptionen die man nicht „machen“ kann. Es fehlt dem Stück sogar die menschliche Wärme und innere Anmut welche die Laune des Verliebten ausstrahlt, obwohl dies Werk technisch weder so hohe Ansprüche stellt noch erreicht wie die Mitschuldigen.
Gesellschaftskritik freilich, wie man wohl gemeint hat — in der Art Molieres oder Ibsens, aus einem sittlichen Pathos heraus — übt das Stück durchaus nicht. Verbitterung, Haß oder Hohn ist nicht darin zu merken, kein spöttisch oder strafend hinweisender Autorenfinger sticht in die Darstellung hinein. Es ist die Gleichgültigkeit und die Anteilnahme eines sittlich indifferenten, ästhetisch interessierten Beobachters, und dabei die jugendliche Freude an der Spannung des Vorgangs als solchen, d. h. an der Bekundung der eignen Meisterschaft in der Lehre mehr dessen was ist als dessen was sein soll . . etwa: in der Gesellschaft hat keiner dem anderen was vorzuwerfen . . das Menschliche haftet allen an, oder wie Goethe es später und allgemeiner formuliert hat: wir alle leiden am Leben. Seine stillschweigende Folgerung ist weniger eine Molieresche Mahnung zur Besserung als ein Wielandisches Leben und leben lassen. Das Ethos ist nicht Sittlichkeit sondern Läßlichkeit. Schon damals mißt Goethe die Menschen nicht an einem überweltlichen Ideal, sondern sucht zu erkennen und darzustellen was ihm als ihr Wesentliches und Charakteristisches, als ihr Menschliches erscheint.
Die Abwesenheit des eigentlich moralistischen Maßstabs ist schon hier für ihn bezeichnend, nur ist sie freilich hier noch nicht, wie später, begründet in einer höheren religiös heidnischen Weltbetrachtung, welcher alles Vergängliche nur Gleichnis ist, sondern in einer gesellschaftlichen Läßlichkeit, deren literarischen Ausdruck in Deutschland Wieland anmutig und quasi philosophisch zu machen wußte. Wenn Goethe später die Gesellschaftszustände als Phänomene der Natur, also übergesellschaftlich ansah, wie er es z.B. in den Wahlverwandtschaften getan hat, so entfiel das moralische Werturteil von selbst. Der Dichter der Mitschuldigen aber stand noch nicht über der Gesellschaft, sondern in ihr — und wenn er hier sich des Moralisierens entschlagen wollte, so konnte er es nur in den Formen eines gewissen Epikuräismus. Was ihn aber von Wieland und den Rokoko«« hedonisten stark unterscheidet, ist daß seine Läßlichkeit ihn keineswegs verführt, nun die Zersetzung und Lockerheit etwa rosig zu sehen und Hebenswürdig aufzuschönen: vielmehr läßt er sich den Blick für die Zersetzung als solche nicht trüben, und weist nicht halblaut im Text auf die Anmut solchen Verfahrens hin. Die Schärfe der Beobachtung und die Unerbittlichkeit sind wohl so, daß man ein Aug des Hasses und der Kritik dabei vermuten könnte, es ist aber nur ein Aug des Forschers, und ist vor allem ein Aug des Selbstbeobachters. Die Laune des Verliebten und die Mitschuldigen haben, so verschieden sie unter sich durch ihren Ausgangspunkt und in ihrer Ausführung sind, seltsamerweise beinah dasselbe Schlußmotiv: die Rechtfertigung und Aussöhnung des Schuldigen durch eigne oder durch Mitschuld. In der Laune des Verliebten ist die Schuld welche eine Versöhnung fordert und erreicht nur eine gewähnte, in den Mitschuldigen eine wirkliche, in beiden Fällen aber ist es das Vorhalten eines Spiegels was die Läuterung oder wenigstens Rechtfertigung hervorbringt — und dies ist nur ein vielleicht unbewußtes Symbol der Goethischen Objektivität und ihrer Rückwirkung auf seinen Charakter: ein Symbol für die reinigende Wirkung die schon der junge Goethe dem objektiven Sehen, der Beobachtung und Selbstbeobachtung zuschrieb. So verstand er dasschon früh nicht als Selbstanalyse, sondern als eine Selbstprüfung im Spiegel der Außenwelt: ein tiefer Instinkt daß alles Innere an einem Äußeren sichtbar und erkennbar sei leitete ihn schon damals.
Von den Leipziger Dichtungen, die wesentlich Gesellschaftspoesie sind, heben sich drei Gedichte aus dem Jahr 1767 ab als Zeichen einer Gesinnung welche sich gegen die Gesellschaft bewußt auflehnt und der menschlichen Natur ein selbständiges Recht zugesteht: es sind die drei Oden an seinen Freund. Dem Motiv nach sind sie die Aufforderung an einen Gefährten sich einer schädlichen Atmosphäre zu entziehen, eine andere Umgebung zu suchen. Nicht gerade ausgesprochene Opposition — nur das Ethos aus dem diese Verse kommen ist nicht mehr die Galanterie, die innere Form wird nicht mehr bestimmt durch den Hinblick auf eine Gesellschaft, wie die Poesien des Buchs Annette, und des Leipziger Liederbuchs. Scheinbar spricht hier bereits ein Mensch der sich von der Rücksicht auf die Rokokogeselligkeit freigemacht als fühlende Einzelnatur. Bei näherem Zusehen erkennt man aber daß diese Haltung bedingt wird durch die Odenform, und daß diese Form weniger eine Notwendigkeit des darin ausgedrückten Gehaltes ist als ein Experiment. Die drei Oden sind Versuche des jungen Virtuosen, sich auch einmal in der modernsten Art Poesie zu betätigen, wie sie durch Klopstock inauguriert worden war: Wie er in seinen ersten Studentenbriefen französische und englische Gedichte, Alexandriner und Hexameter mischte, teils um sich zu üben, teils um zu zeigen was er könne, so erprobte er sich hier einmal in der Odenform, und wir müßten uns wundern, wenn an dem geweckten, allseitig aufnehmenden und das Aufgenommene reproduzierenden Jüngling die einschneidende Neuerung welche mit Klopstocks Messias und Odenpoesie einsetzt spurlos vorübergegangen wäre.
Erschien auch die erste Sammlung von Klopstocks Oden erst 1771, so hatte Goethe doch wohl in Zeitschriften Gelegenheit einzelne dieser grundstürzenden und grundlegenden Gebilde kennen zu lernen. Er erwähnt den Dichter zum erstenmal in einem Brief an seine Schwester vom Oktober 1766 mit Verehrung neben Milton und Young, Tasso und Ariost, und Gesner.. allerdings denkt er hier wohl nur an den Dichter des Messias. Was er übrigens schon aus dem Messias lernen konnte, so daß es keiner unmittelbaren Nachahmung der Oden bedurfte, war „le stil magnifique, eleve“, wie er in jenem Brief ihn Klopstock nachrühmt, und jenseits der poetisch technisehen, metrischen Einzelheiten das Übergesellschaftliche: nämlich die Weihe— die göttliche Berufung — als Ausgangspunkt und vielfach als Stoff der neuen Poesie. Die Haltung des göttlich inspirierten Dichters ist der Blick nach oben oder nach innen ohne Rücksicht auf die Zuschauer.
Die drei Oden Goethes an Behrisch tragen allein unter allen Leipziger Gedichten diesen Charakter der Einsamkeit. Das erstemal bedingt hier nicht die Gesellschaft den Ton, das erstemal spricht er hier ohne unbeteiligte Zuhörer, und das ist wichtiger als die metrischen Neuerungen, die freien reimlosen Rhythmen . Manches in den Oden erinnert wie ein dünner schüchterner Vorklang an die Harzreise im Winter — auch hier erstaunt uns wieder Goethes absolute Meisterschaft in der Beherrschung jedes Technischen. Wie er an Anmut jeden Anmutigen überbot, so versagt ihm hier auch nicht einen Augenblick der Bilderapparat zur Füllung des großen getragenenTons in den er sich eingelassen.
Nur merkt man auch diesen Gedichten noch an daß sie gewollt und gekonnt, aber nicht gemußt sind: daß das „Erhabene“ dem Dichter noch als eine auszufüllende Gattung vorschwebte, als ein Muster das er erreichen könne, nicht eine innere Fülle die notwendig sich auf erhabene Weise entladen mußte. Das Erhabene das der junge Goethe hier erreichte verhält sich zu dem seiner späteren Oden, seines Prometheus, Ganymed und seiner Harzreise, etwa wie das Erhabene eines virtuosen Schauspielers zu dem eines wirklichen Helden: er lebt sich hinein, er lebt es nicht aus sich heraus. Jede Virtuosenpoesie ist schauspielerische Poesie: d.h. sie dichtet nach einem vorgestellten Wunschbild hin — die ursprüngliche Poesie des Müssens, nicht des Könnens, aus einem Gelebten hervor. Auch die Oden an Behrisch sind mehr Paradigmata guter Odenpoesie als wirkliche Oden, sie sind kalt und bei aller Höhe des Flugs und Fülle der einzelnen Anschauungen seelisch leer: denn der Gehalt, der Anlaß, das Erlebnis aus dem sie hervorgingen, ist nicht gewichtig genug um all diese Last von einzelnen Bildern zu tragen. Die Folge davon ist daß die Einzelbilder selbständig geworden sind und nicht mehr zusammengehalten werden durch den einheitlichen Grundgedanken . Das Erhabene wird hier, auf einer höheren Stufe des Stils und der Gesinnung, zum bloß Dekorativen ähnlich wie in dem Knabengedicht über Christi Höllenfahrt.
Wenn diese Oden unter Klopstocks Einfluß und Anregung entstanden sind, so sind sie doch keineswegs Nachahmungen der Klopstockischen Manier, nach den Schablonen der Klopstockianer gefertigt noch wimmelnd von den Klischees womit diese Klopstockischen Schwung zu erreichen meinten. Nirgends sind hier Requisiten der Klopstockischen Anschauungsart, Weihe, Rührung, Unendlichkeit u. dgl. unvorstellbare Vorstellungen, vielmehr sind die Bilder undTonfälle aus Goethes eigner Anschauung, dichter, sinnlicher, besonderer, augenhafter als Klopstock selbst sie manifestierte. Klopstokkisch ist daran die Tendenz zum erhabenen Stil überhaupt und die daraus folgende Anwendung freier Rhythmen, welche der Seele Spielraum ließen ihre „Aktion“ (nach Klopstocks technischem Ausdruck) auszuleben. Unter Aktion verstand Klopstock die Bewegung eines Gedichtes im Gegensatz zu seinem Bilderinhalt, seine Rhythmik im Gegensatz zu seiner Metrik, seinen Gang im Gegensatz zu seinem Maß. Aber noch war selbst „Aktion“ eine Art Gattungsbegriff, und Goethe gedachte in diesen Oden Gedichte zu liefern deren Hauptnachdruck einmal Aktion sein sollte, nachdem er metrisch anschauliche Gedichte geliefert hatte. Noch lebte er ja in den ästhetischen Begriffen seines Zeitalters, nicht befangen in irgendeiner bestimmten ästhetischen Theorie, sei es die Gottscheds, der Schweizer, oder Lessings — aber doch noch geschult durch literarisch geläufige Regeln und Muster. Genährt und angeregt wurde bei ihm der Schwung und die Aktion, das Odenhafte, auf ganz andere Weise als bei Klopstock, vor allem nicht durch den Gedanken an Gott, sondern durch die sinnliche Anschauung der Natur. Nur benutzt er sie hier nicht als Selbstzweck, als Lokal oder um eine seelische Stimmung zu begleiten, wie in seinen galanten Gedichten, sondern um einen Gedanken allegorisch zu verkörpern.
Es gehört zur Ode, daß sie vom Gedanken ausgeht, nicht von der Stirmmung: denn die Ode, an ein Du, sei es Gott oder Freund, Geliebte oder Volk, gerichtet, ist ihrem Begriff nach feierliche Hinwendung an etwas außerhalb des Sängers welches bewußt gedacht ist. Worauf sie auch wirken soll, woran sie auch appellieren will und welche Seelenkräfte ihr auch als Mittel dienen mögen: die Ode geht zunächst an das Bewußtsein und ihr Weg ist also der Gedanke, vom Gedanken zu den Sinnen, nicht umgekehrt. Oden sind an sich rhetorisch. Indem Goethe, beim virtuosen Versuch sich auch als Beherrscher der Odengattung zu zeigen, gegen seine eigentliche Natur vom Gedanken zur Anschauung, zum Bild vorzuschreiten hatte, verweilte er beim Bild mit besonderer Vorliebe. Die Bilder, die er ursprünglich nur allegorisch verwenden wollte, werden ihm unter der Hand Selbstzweck, und er malt sie so liebevoll aus, daß der ursprüngliche Gedanke davon ganz erdrückt wird und die Gedichte aus einer Kette von Einzelbildern bestehen, die an sich schön, aber nicht eigentlich notwendig sind und mehr virtuos gefügt als dichterisch zusammengewachsen sind. Während Klopstock sofort von jeder sinnlichen Anschauung wieder zum Gedanken zurückkehrt, bleibt Goethe hier noch am Sinnlichen hängen, welches seiner Natur gemäßer, aber der vorliegenden gedanklich allegorisch rhetorischen Aufgabe die er sich selbst gestellt hatte, entgegen war. So sind die Naturbeschreibungen gleichsam Gedichte im Gedicht und der Gedanke ist von den Metaphern überwuchert worden. Diese nach Klopstockischer Anregung verfaßten Strofen — ein in Klopstockische Provinz unternommener Ausflug — bringen uns auch den negativen Erweis dafür was Goethe damals gemäß war, seinem Charakter nach, und was er bloß lernen konnte, seinem Talent nach. Wenn er in diesen Oden, also Gedankendichtungen, sofort ungeduldig sich auf Naturbeschreibung stürzt und daran hängen bleibt, so wird uns bestätigt was wir seinen übrigen, auch seinen galanten Gedichten entnehmen konnten: daß sein natürlicher Weg der von der sinnlichen Erfahrung zur geistigen Deutung war, umgekehrt wie bei Klopstock und später bei Schiller.
War dem Leipziger Studenten schon das Allegorische des Odenwesens nicht gemäß, so war ihm das Erhabene, Ungesellschaftliche daran ebenso fremd. Der Titanismus der in ihm schlummerte, die Lebensfülle der die Rokokogesellschaft zu eng werden mußte, bedurfte wohl auch früher oder später eines Auswegs. Zwar eine solche Sprache der erhabenen Einzelseele schien ja bereits geschaffen, der außergesellschaftliche Ausdruck des Ich legitimiert eben durch Klopstock, und es hätte nahegelegen daß der junge Goethe auf diesem Weg weiter schreitend der Gesellschaft entlaufen und zum Ausdruck seiner souveränen Kräfte gelangt wäre. Aber gerade die Klopstockische Art sich über die Gesellschaft zu stellen lag zu weit von seiner eigenen Natur, seinem eigenen Bedürfnis ab. Die Klopstockische Art der Freiheit wäre ihm, eben weil sie geistiger war, eine viel unerträglichere Lebensform geworden als die Gesellschaft selbst. Zuwider mußte ihm Klopstocks Allegorismus und Seraphismus, die Seelenschwelgerei und die Pfaffensalbung sein womit Klopstock an Idealen die Erscheinungen maß, und diese Ideale wiederum waren pietistisch und patriotisch.
Und war schon Klopstocks Positives Goethe fremd, so fehlte bei Klopstock was Goethe das Unentbehrlichste war um seine Fülle auszubreiten: konkrete sinnliche Natur.
So war wohl Klopstocks Freiheit als seelische Form etwas Anregendes und sogar Begeisterndes, aber der Gehalt dieser Freiheit war dem jungen Goethe nicht angemessen.
Klopstocks Freiheit war die Freiheit des Christenmenschen im Sinne der Lutherischen Schrift: Freiheit der Seele durch Gott und in Gott. Die Freiheit die Goethe brauchte, sobald er sich einmal ernsthaft an der Gesellschaft stieß, sobald sein Genius die Flügel in ihrer ganzen Breite ausspannte, war die des Prometheus, des Titanen der für seine ungeheuere Lebensfülle größeren Spielraum, breitere Welt braucht als er in gesellschaftlichen Bindungen finden kann. Klopstocks Freiheit war die des Subjekts an sich, der Seele die autonom beten will, Goethes die der „Persönlichkeit“ die sich bilden, die wirken und gestalten will. Der eine geht von der Reformation, der andere von der Renaissance, vom Humanismus aus . .
Das Gemeinsame der von Klopstock erreichten, von Goethe bald bedurften Freiheit ist nur das Negative, nämlich die Freiheit von etwas: das heißt die Freiheit von der Gesellschaft. Völlig verschieden war ihre Freiheit zu etwas: Klopstocks Protestantismus und Goethes Heidentum konnten unmöglich mit der Freiheit dasselbe anfangen — und so sagte dem jungen Goethe ein sicherer Instinkt (denn bewußt hat er sich das alles nicht klargemacht) daß er dem von Klopstock gebrochenen Ausweg in die Freiheit nicht weiter folgen dürfe: er mußte sich früher oder später einen eigenen brechen oder einem anderen Pionier folgen, der ihm den Weg in seine Art der Freiheit brechen half.
Solange mußte er sich wohl oder übel in den Grenzen der Gesellschaft behelfen, anfangs mehr wohl, später mehr übel: nämlich wohl, solange er von der Gesellschaft noch irgend etwas zu lernen hatte, solange er ihren Kreis noch nicht durchlaufen hatte, solange er noch unentdeckte Winkel und Ausdrucksmittel in ihrer geräumigen, aber begrenzten Zone fand. Solange die Gesellschaft noch wirklich Welt, die Welt für ihn bedeutete, mochte er sich nicht umsehen nach Führern über diese Welt hinaus, und darum finden wir bezeichnenderweise unter den Meistern denen er sich verpflichtet weiß nicht Klopstock sondern nur den Leipziger klassizistischen Maler Oeser, und den umfassendsten Dichter der Gesellschaft: Wieland .. dieser hatte mehr als irgend ein anderer gezeigt wie weit und breit und fruchtbar die Gesellschaft für einen behenden und fruchtbaren Geist sei.
Neben diesen beiden, seinem Lehrer des Schönen und seinem Lehrer des gesellschaftlich Wahren, nennt Goethe im Ausklang seiner Leipziger Zeit 1770, schon wieder in Frankfurt, noch Shakespeare. Es ist seine erste Erwäh# nung des Alldichters. Was tut nun der in diesem Dreibund? Zunächst, der Shakespeare an den Goethe hier denkt ist die Wielandische Shakespeare-Übersetzung, ein den Bildungskonventionen der deutschen Rokokogesellschaft schon sehr angenäherter Shakespeare. Alles was der junge Goethe in seiner Leipziger Zeit und vor der Straßburger Zeit von ihm vertragen konnte hatte etwa die Wielandische Verdeutschung für ihn zubereitet: noch war für ihn Shakespeare nicht der Dichter der den Menschen als ein Elementargeschöpf, Natur und Schicksal und Leidenschaft als menschliche Allkräfte dichterisch gebannt hatte: diesen Shakespeare hätte er nicht erleben können, da sein eigenes Dasein noch nicht den Blick auf den übergesellschaftlichen Menschen ermöglichte. Was ihn daher an dem Wielandisch gesehenen Briten anzog war zunächst der Umfang seiner Seelenkenntnis, die Beobachtung menschlicher Charaktere und Sitten, seine Weisheit, sein Witz und seine geistige Freiheit: es war der weiteste Bereich dichterischer Menschenkunde, der größte Atlas des Mikrokosmos den Goethe damals hätte finden können. Noch zogen ihn damals mehr die allgemein geistigen als die eigentlich dichterischen und schöpferischen Eigenschaften Shakespeares an. Sein Bedürfnis nach Natur, d. h. nach Einsicht in die menschliche Wirklichkeit fand in Shakespeare einen geeigneten Führer, wie sein Bedürfnis nach sinnlicher Harmonie und Kunstschönheit unter Oesers Anleitung sich wohlfühlte, und sein Bedürfnis nach Schicklichkeit, Empfindung, läßlicher Grazie und gescheitem Weitblick durch Wieland befriedigt wurde.
Der Frankfurter Brief vom 20. Februar 1770 (der letzte vor der Übersiedlung nach Straßburg) worin er diese drei als seine Lehrer und Meister bezeichnet, zieht rück- und vordeutend die Summe seiner Leipziger Existenz und diese drei Namen geben den positiven Stand seiner in Leipzig erungenen Bildung an: Oeser und Wieland vertreten die Bildung die er hinter sich lassen sollte, Shakespeare kündet die Bildungswelt an die seiner in Straßburg harrte. Der Brief ist eine jener Selbstprüfungen deren Goethe an jeder Wendung seines Lebens ebenso bedürftig als fähig war und gewährt Einblick in einen unruhig schwankenden Zustand, geteilt zwischen dem Registrieren und Verwerten der Bereicherungen die ihm das Leipziger Jahr gebracht hatte und der tastenden Suche nach neuer Betätigung seiner ausgreifenden Kräfte, zwischen der Feststellung sichern Besitzes und dem Zweifel über den künftigen Weg, kritisch gegen sich selbst und verehrend und dankbar gegen alle geistigen Förderer, zugleich anspruchsvoll und ehrfürchtig: „Oesers Unterricht wird auf mein ganzes Leben Folgen haben. Er lehrte mich, das Ideal der Schönheit sei Einfalt und Stille, und daraus folgt, daß kein Jüngling Meister werden könne.
Nach ihm und Shackespearen, ist Wieland der einzige, den ich für meinen echten Lehrer erkennen kann, andre hatten mir gezeigt daß ich fehlte, diese zeigten mir wie ichs besser machen sollte.“
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