K.v.Müller-Unterhaltungen m. Goethe: Sonnabends 24. April (158)
Sonnabends, 24. April
Als ich von Rauchs zu hoffendem Besuch bei seiner Heimreise von München sprach, äußerte er: Ich hoffe nicht, daß er komme; zu was soll das helfen? Es ist nur Zeitverderb. Es kommt nicht darauf an, daß die Freunde Zusammenkommen, sondern darauf, daß sie übereinstimmen. Die Gegenwart hat etwas Beengendes, Beschränkendes, oft Verletzendes, die Abwesenheit hingegen macht frei, unbefangen, weist jeden auf sich selbst zurück. Was mir Rauch erzählen könnte, weiß ich längst auswendig.
Wir kamen auf Reiseprojekte und industrielle Unternehmungen zu sprechen, die er alle verwarf. Auf meine Bemerkung, daß er über diese Gegenstände sonst ganz anders gedacht, sagte er: Ei, bin ich denn darum achtzig Jahre alt geworden, daß ich immer dasselbe denken soll? Ich strebe vielmehr, täglich etwas anderes, Neues zu denken, um nicht langweilig zu werden. Man muß sich immerfort verändern, erneuen, verjüngen, um nicht zu verstocken. Da hat mir jetzt so ein Über-Hegel aus Berlin seine philosophischen Bücher zugeschickt, das ist wie die Klapperschlange, man will das verdammte Zeug fliehen und guckt doch hinein. Der Kerl greift es tüchtig an, bohrt gewaltig in die Probleme hinein, von denen ich vor achtzig Jahren so viel als jetzt wußte, und von denen wir alle nichts wissen und nichts begreifen. Jetzt habe ich diese Bücher versiegelt, um nicht wieder zum Lesen verführt zu werden.
Mit Briefantworten muß man nolens volens Bankrott machen und nur diesen oder jenen Kreditor befriedigen. Wenn ich sehe, daß die Leute bloß ihretwegen an mich schreiben, etwas für ihr Individuum damit bezwecken, so geht mich das nichts an; schreiben sie aber meinetwegen, senden sie etwas mich Förderndes, Angehendes, dann muß ich antworten. So hat mir Roch-litz jetzt etwas gar Schönes über meinen zweiten Römischen Aufenthalt geschrieben; da habe ich auch gleich geantwortet. Ihr jungen Leute wisset freilich nicht, wie kostbar die Zeit ist, sonst würdet ihr sie mehr achten.
Im ganzen war er heut sehr lebhaft, aufgeregt, geistreich, aber mehr ironisch und bizarr als gemütlich, mehr negativ als positiv, mehr humoristisch als heiter. Nicht leicht habe ich seine Proteusnatur, sich in alle Formen zu verwandeln, mit allem zu spielen, die entgegengesetztesten Ansichten aufzufassen und gelten zu lassen, anmutiger hervortreten sehen.
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