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2015-10-12

J.W.v.Goethe-Urfaust-21.Szene- Kerker



Kerker

FAUST (mit einem Bund Schlüssel und einer Lampe
an einem eisernen Türchen.) Es faßt mich längst
verwohnter Schauer. Inneres Grauen der Menschheit.
Hier! Hier! - Auf! - Dein Zagen zögert den
Tod heran!

(Er faßt das Schloß, es singt inwendig.)

Meine Mutter, die Hur,
Die mich umgebracht hat!
Mein Vater, der Schelm,
Der mich gessen hat!
Mein Schwesterlein klein
Hub auf die Bein
An einen kühlen Ort;
Da ward ich ein schönes Waldvögelein;
Fliege fort! Fliege fort!

(Faust zittert, wankt, ermannt sich und schließt auf,
er hört die Ketten klirren und das Stroh rauschen.)

MARGARETE (sich verbergend auf ihrem Lager.)
Weh, Weh! sie kommen! Bittrer Tod!
FAUST (leise.) Still! Ich komme dich zu befrein.

(Er faßt ihre Ketten, sie aufzuschließen.)

MARGARETE (wehrend.) Weg! Um Mitternacht!
Henker, ist dir's morgen frühe nicht zeitig gnug?
FAUST. Laß!
MARGARETE (wälzt sich vor ihn hin.) Erbarme
dich mein und laß mich leben! Ich bin so jung, so
jung, und war schön und bin ein armes junges
Mädchen. Sieh nur einmal die Blumen an, sieh nur
einmal die Kron. Erbarme dich mein! Was hab ich
dir getan? Hab dich mein Tage nicht gesehn.
FAUST. Sie verirrt, und ich vermags nicht.
MARGARETE. Sieh das Kind! Muß ich's doch tränken;
da hatt ich's eben. Da! Ich habs getränkt! Sie
nahmen mirs und sagen, ich hab es umgebracht,
und singen Liedcher auf mich! - Es ist nicht wahr
- es ist ein Märchen, das sich so endigt, es ist nicht
auf mich, daß sie's singen.
FAUST, (der sich zu ihr hinwirft.) Gretchen!
MARGARETE, (die sich aufreißt.)
Wo ist er? Ich hab ihn rufen hören, er rief: Gretchen!
Er rief mir! Wo ist er? Ach, durch all das
Heulen und Zähnklappen erkenn ich ihn, er ruft
mir: Gretchen! (sich vor ihm niederwerfend.)
Mann! Mann! Gib mir ihn, schaff mir ihn! Wo ist
er?
FAUST, (er faßt sie wütend um den Hals.) Meine
Liebe! Meine Liebe!

(Margarete, sinkt, ihr Haupt in seinen Schoß
verbergend.)

FAUST. Auf, meine Liebe! Dein Mörder wird dein
Befreier. Auf! - (Er schließt über ihrer Betäubung
die Armkette auf.) Komm, wir entgehen dem
schröcklichen Schicksal.
MARGARETE (angelehnt.) Küsse mich! Küsse
mich!
FAUST. Tausendmal! Nur eile, Gretchen, eile!
MARGARETE. Küsse mich! Kannst du nicht mehr
küssen? Wie? Was? Bist mein Heinrich und hast 's
Küssen verlernt? Wie sonst ein ganzer Himmel mit
deiner Umarmung gewaltig über mich eindrang!
Wie du küßtest, als wolltest du mich in wollüstigem
Tod ersticken! Heinrich, küsse mich, sonst
küß ich dich! Sie fällt ihn an. Weh! Deine Lippen
sind kalt! Tot! Antworten nicht!
FAUST. Folge mir, ich herze dich mit tausendfacher
Glut. Nur folge mir!
MARGARETE, (sie setzt sich und bleibt eine Zeitlang
stille.) Heinrich, bist du's?
FAUST. Ich bin's, komm mit!
MARGARETE. Ich begreif's nicht! Du? Die Fesseln
los? Befreist mich. Wen befreist du? Weißt du's?
FAUST. Komm! Komm!
MARGARETE. Meine Mutter hab ich umgebracht!
Mein Kind hab ich ertränkt. Dein Kind, Heinrich!
- Großer Gott im Himmel, soll das kein Traum
sein? Deine Hand Heinrich! - Sie ist feucht - Wische
sie ab, ich bitte dich! Es ist Blut dran - Stecke
den Degen ein! Mein Kopf ist verrückt.
FAUST. Du bringst mich um.
MARGARETE. Nein, du sollst überbleiben, überbleiben
von allen. Wer sorgte für die Gräber? So in
eine Reihe, ich bitte dich, neben die Mutter den
Bruder da. Mich dahin und mein Kleines an die
rechte Brust. Gib mir die Hand drauf! Du bist mein
Heinrich.
FAUST (will sie wegziehen.)
Fühlst du mich? Hörst du mich? Komm! Ich bin's,
ich befreie dich.
MARGARETE. Da hinaus?
FAUST. Freiheit!
MARGARETE. Da hinaus? Nicht um die Welt. Ist
das Grab drauß, komm! Lauert der Tod, komm!
Von hier ins ewige Ruhebett, weiter nicht einen
Schritt. Ach Heinrich, könnt ich mit dir in alle
Welt!
FAUST. Der Kerker ist offen, säume nicht!
MARGARETE. Sie lauren auf mich an der Straße am
Wald.
FAUST. Hinaus! Hinaus!
MARGARETE. Ums Leben nicht! - Siebst du's zappeln?
Rette den armen Wurm, er zappelt noch! -
Fort! geschwind! Nur übern Steg, gerad in Wald
hinein, links am Teich, wo die Planke steht! Fort!
rette! rette!
FAUST. Rette! Rette dich!
MARGARETE. Wären wir nur den Berg vorbei, da
sitzt meine Mutter auf einem Stein und wackelt mit
dem Kopf! Sie winkt nicht, sie nickt nicht, ihr Kopf
ist ihr schwer. Sie sollt schlafen, daß wir könnten
wachen und uns freuen beisammen.
FAUST (ergreift sie und will sie wegtragen.)
MARGARETE. Ich schreie laut, laut, daß alles erwacht!
FAUST. Der Tag graut. O Liebchen! Liebchen!
MARGARETE. Tag! Es wird Tag! Der letzte Tag!
Der Hochzeittag! - Sag's niemand, daß du die
Nacht vorher bei Gretchen warst. - Mein Kränzchen!
- Wir sehn uns wieder! - Hörst du, die Bürger
schlürpfen nur über die Gassen! Hörst du?
Kein lautes Wort. Die Glocke ruft! - Krack, das
Stäbchen bricht! - Es zuckt in jedem Nacken die
Schärfe, die nach meinem zuckt! - Die Glocke! -
Hör!
MEPHISTOPHELES (erscheint.) Auf! oder ihr seid
verloren, meine Pferde schaudern, der Morgen
dämmert auf.
MARGARETE. Der! der! Laß ihn! Schick ihn fort!
Der will mich! Nein, nein! Gericht Gottes, komm
über mich! dein bin ich; rette mich! Nimmer, nimmermehr!
Auf ewig lebe wohl! Leb wohl, Heinrich.
FAUST, (sie umfassend.) Ich lasse dich nicht!
MARGARETE. Ihr heiligen Engel, bewahret meine
Seele! - mir graut's vor dir, Heinrich.
MEPHISTOPHELES. Sie ist gerichtet! (Er verschwindet
mit Faust, die Türe rasselt zu.
Man hört verhallend.) Heinrich! Heinrich!


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Ende

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