BEETHOVEN
Bettina, zu deren Temperament das Vermitteln und Vermischen der verschiedensten Lebenskreise gehört — ein Korrelat der echt weiblichen Neigung zum Durcheinander- und Auseinanderreißen jedes geordneten Gefüges — hat auch Beethoven, den seiner Natur und Bestimmung nach mit dem großen plastischen Genius unvereinbaren musikalischen Titanen, mit Goethe zusammenbringen wollen, in dem unklaren Drang aus allem Großen und möglichst aus allem Widersprechenden ein allgemeines Pantheon für ihren wahllosen Enthusiasmus zu wölben. Da das höchste plastische Vermögen und das höchste musikalische sich ausschließen, so konnten grade die beiden Herrscher dieser Bereiche bestenfalls sich höflich und mit der kühlen Hochschätzung vor tief Fremdartigen begegnen, auch wenn sie sich von ferne bewundern mochten. Dies war wenigstens von Beethovens Seite unbedingt der Fall, obwohl Goethe ihm, der unabhängig in seiner tönenden Traumwelt lebte, als einem Musiker nie ein Bildner, Führer oder Deuter der Welt sein durfte, sondern nur eine Anregung oder Berauschung: Beethoven konnte Goethes Werk nie als eine selbständige Welt werten, sondern nur als zaubernden Anlaß für seine Melodien. Denn das Sichtbare, dessen Verherrlichung und Versinnbildlichung, dessen Deutung und Verewigung Goethes Arbeit war, war dem Musiker — grade je unbedingter und souveräner er Musiker war — nur Scheinwelt, aufzulösen in der Klangflut der augenlos verzückten Seele. Goethe seinerseits konnte die Musiker brauchen und verstehen deren Klänge nur die sinnliche Begleitung, Unterstreichung und Verzierung seiner sichtbaren Gestalten und Bewegungen waren: also dienende, nicht herrschende, geschweige absolute Musik. Grade Beethoven aber hat die Musik völlig von der Goethischen Augenwelt emanzipiert.
Auch hier hat man Goethe die Vorwürfe gemacht die aus der Verkennung seiner Wesensnotwendigkeit und -form kommen. Grade weil er Goethe war, durfte und konnte er von absoluter Musik nicht ergriffen werden, und die dahin gehenden Ansprüche gehören zu derselben Torheit wie die an seinen Patriotismus: sie würden seinen ganzen Begriff auf heben. Der allseitig große Mann ist nicht dazu da alle möglichen wünschbaren guten Eigenschaften oder Verständnisse zu besitzen, sondern das All unter einer nur ihm eigenen Form als Ganzes zu erfassen: diese eine Form macht ihm, je unbedingter seine Größe ist, andere Formen der Welterfassung und Weltgestaltung unmöglich: seine Universalität beruht in der Allheit des Stoffs, in der Ganzheit des Gehalts, aber nicht in der Vielheit, sondern in der Einheit der Form, d. h. der Methode, des Gangs, des Stils.
Darum kann ein großer Dichter nie zugleich ein großer Musiker sein, so wenig wie eine Kugel ein Würfel sein kann, selbst wenn sie aus dem selben Material ist. Wenn Musik und Dichtung einer gemeinsamen Wurzel entstammen und einmal vereinigt waren, so ändert das nichts daran daß sie, nach ihrer Sonderung, getrennten Gesetzen angehören, und die Versuche durch Addition, Verknüpfung oder Vermischung in einem Gesamtkunstwerk jene Ureinheit nachträglich bewußt wiederherzustellen mögen, von einem großen Genie unternommen, ein wirksames und sogar großartiges Zwitterwesen Vorbringen, aber sie vergewaltigen sowohl Dichtung als Musik in ihrem Eigensten. Also nicht von der Musik her konnte Beethoven für Goethe eine Bedeutung gewinnen, und daß Zelter Goethes musikalischer Beirat und Gehilfe blieb, ist nicht — wie manche wollen — die Ursache von Goethes Unverständnis für Beethoven, sondern nur ein Symptom desselben Verhältnisses zur Musik kraft dessen er mit Beethoven wenig anzufangen wußte. Musik war für ihn nur als Verschönerung, Linderung, Erhebung, Reizmittel gültig, aber nicht als absoluter Weltausdruck wie ihn Beethoven im Sinne hatte und verwirklichte.
Daß vollends Beethovens „durchaus ungebändigte Persönlichkeit“, der düstere Titanentrotz, der seinen Ewigkeitsgehalt auch im Alltag nicht verleugnen, der sein ganzes inneres Gewicht auch vor der Gesellschaft, also auf einer ganz anderen Ebene geltend machen wollte, der unwirsche Künstlersstolz eines einsamen, empfindlichen und übervollen Herzens, die republikanischen Gesinnungen und Manieren, Goethe nicht ansprachen, das ist begreiflich: denn Goethe war der letzte, einem Genie, mochte es so ungeheuer sein wie es wollte, gesellschaftliche Gesetzlosigkeit und Ausnahme-Stellung zuzugestehen, wie es Beethoven, grade als Genie, romantischerweise beanspruchte. Sich selbst hatte Goethe, bei angeborenen guten Manieren und feinstem Distanzgefühl, das ebenso Sache des Herzenstaktes wie der Vornehmheit ist, von Jugend auf und selbst im „Sturm und Drang“ nie versagend, bei allem Kraftgefühl, Überschwang und Bewußtsein seiner Größe, die Anerkennung der gesellschaftlichen Sitten und sogar Vorurteile, die stumme Duldung der Grenzen und Maße, auch der zu engen, abgerungen, und das titanenhafte Auftrumpfen und Sprengen in unwesentlichen Dingen erschien dem Verfasser des Tasso und der Wahlverwandtschaften als Unreife. Er hatte um Zucht und Maß entsagt und gelitten, und mißbilligte jeden der es sich damit leicht machte, er mochte sein wer er wollte. So ist auch die bekannte Straßenszene in Teplitz zu verstehen, wobei Beethoven mit Berufung auf seine Einzigkeit sich genialisch flegelhaft benahm, und Goethe höflich, nicht aus Verehrung der herrschaftlichen Individuen oder Unkenntnis seiner eigenen Überlegenheit über Kaiser Franz, sondern aus stillschweigender Anerkennung sinnbildlicher Formen und Überlieferungen, deren zufällige Träger gewisse Fürstlichkeiten waren, und deren Relativität vor den ewigen Kräften er gewiß so gut kannte wie die Relativität der Höflichkeit, der Sitten und der Trachten. Indem Goethe hier das Gesetzliche und nicht das Persönliche sah, Konventionen mit Bewußtsein als solche hinnahm und ehrte, war er ihnen weniger unterworfen als Beethoven, der mit unnötigem Gewicht dagegen rebellierte, mit Kanonen des Genies nach Spatzen des Alltags schoß — Goethe war in diesem Falle nicht nur freier und überlegener, sondern auch tiefer als der Titan an falschem Orte.
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