Diese Gesetze sind nicht losgelöst von Charakteren zu denken, wie wir von Wachstum und Welktum nur dadurch wissen daß es Gewächse gibt. Nur weil und sofern Goethe der Charaktere zur Offenbarung, zur Versinnlichung der Gesetze bedurfte, stellte er sie dar: das heißt nicht daß die Charaktere nun schematisch sind, Mangel an individueller Durchseelung leiden. Eben das war ja Goethes Wissen und Kunst, sogar sein Wille und sein Geheimnis bei diesem Werk, daß die Gesetze selbst (das Wort ist unzulänglich und umschließt nicht die ganze Fülle die darin für Goethe liegt) bis zu einem vorher nicht gekannten Grad individuell sind, ins Individuellste hineinreichen, daß das Gesetzliche auch den Bereich dessen durchdringt was man bisher dem Zufall oder der Willkür als eigenen Raum zugeschrieben hatte. Gesetze sind ja für Goethe nichts Mathematischstatisches, worum Willkür und Zufall spielen oder woran sie zerschellen, sondern dehnbar feine Kräfte, selbst Individuen, und teilhaft jeder zartesten Bewegung der Seele und des Leibes, vom Zufall nicht durch Starre, und von der Willkür nicht durch Enge unterschieden, sondern durch ihre Deutbarkeit aus einer gemeinsamen Mitte und durch ihre wenn nicht in mathematischen Formeln aussprechbare, so doch in Sinnbildern architektonisch darstellbare Ordnung. Eben diese in menschlichen Gestalten und Begebenheiten manifestierte Ordnung will Goethe in den Wahlverwandtschaften auf einem übersehbaren Gebiet zeigen. Er glaubte den Bereich des Erforschlichen, des durch ihn gesetzlich Ausdrückbaren und sinnlich Darstellbaren, erweitert zu haben, und die Ergebnisse dieser Entdeckungsreise in das Gebiet das er dunklem Zufall und blindem Schicksal abgerungen, der heiligen und geheimnisvolkklaren Naturordnung gewonnen hatte, legte er in den Wahlverwandtschaften nieder.
Goethes Begriff von Naturgesetzlichkeit im Schicksal hebt die Freiheit nicht auf, und darum sind die Wahlverwandtschaften kein Schicksalsroman in dem Sinn wie der Ödipus des Sophokles ein Schicksalsdrama ist. Denn nicht die unausweichliche Notwendigkeit, sondern die unfehlbare Ordnung macht die Goethische Gesetzlichkeit aus. An Stelle der starren Gewalt welche als Ursache die Kette der Geschicke auswirft womit sie in bestimmtem Spielraum die Wollen und die Zufälle gebunden hält, an Stelle des Sophokleischen Fatums (und der Ibsenschen Vererbung) steht bei Goethe das immer bewegliche Leben, das nach geheimnisvoll innewohnenden Formkräften Raum, Charaktere und Beziehungen ausstrahlt, sich in diesen darstellt, selbst gesetzlich, d. h. sinnlich geordnet, aber nicht kausal oder logisch seine Ausstrahlungen bindend. Denn diese seine Ausstrahlungen macht es nicht, es west sie. Wir müssen aus Goethes Gesetzesbegriff jede mechanisch kausale Vorstellung fern halten. Es folgt nicht eine Handlung aus der andern mit logischer Konsequenz, sowenig aus dem Samen Blüte und Frucht mit logischer Konsequenz folgt: sondern der Same ist schon Blüte und Frucht, und nur dem Beobachtenden ist es nicht anders möglich als in der Zeit wahrzunehmen (oder als eine Folge von Ursache und Wirkung zu deuten, nach der Art wie unser Geist in der Zeit verhaftet ist) was in sich zeitloses Beisammen ist. Durchaus nach Analogie des Verhältnisses von Keim, Blüte und Frucht ist auch Goethes Gesetzesbegriff, sein Schicksal-und Charakterbegriff in den Wahlverwandtschaften zu denken. Jeder Charakter schafft sich nicht nur sein Schicksal, er ist es bereits durch sein Sosein, und er untersteht nicht einem von ihm getrennten Gesetz, er ist es, er entwirkt es, entwickelt, veranschaulicht es, ohne es selbst zu wissen, aber mit dem Wissen, dem Vorauswissen des Dichters, etwa so wie der Forscher der eine Eichel findet schon daraus die Eiche vorausweiß, nach dem ihm bekannten Gesetz dieser Pflanze — nur vollzieht sich dies Werden und Wissen in der Kunst am Individuum, nicht bloß an der Gattung. Der technische Zauber bei einer Kunstschöpfung wie die Wahlverwandtschaften ist daß Goethe als Vorauswisser alles Kommenden (nämlich der Handlung) und Überblicker alles Gleichzeitigen (nämlich des Gesetzes) uns Nichtwisser allmählich hineinführt in Schicksale, Ereignisse und Handlungen die sich aus den Charakteren und deren Begegnungen zu entwickeln scheinen. So läßt er uns allmählich im Einzelnen erfahren was er im Ganzen sieht, und gönnt uns unter der spannenden Illusion einer Handlung das hie und da transparente Anschauen des Mysteriums, das ihm offenbart wurde, von dem er aber nur gleichnisweise reden kann. Er läßt uns von außen erblicken was er von innen schaut, und er gibt uns das in der Dimension der Zeit, als Geschehen, was er besitzt in der Dimension des Raums, als Bild.
Diese Vereinigung von selbstverständlicher Klarheit, ja sogar Logik im Einzelnen und in der dargestellten Folge mit der Ahnung einer unaussprechlichen Mitte aller Einzelheiten und eines uns dunkeln, aber dem Künstler offenbarten Geheimnisses ist nun der Reiz aller plastischen Dichtwerke — es ist zumal der Reiz von Wilhelm Meisters Lehrjahren, nur daß dort die geheime Lenkung in den Roman selbst hineingebettet, und das Geheimnis, wenigstens scheinbar, ausgesprochen — daß (wie Jean Paul bedauerte) die Maschinerie aufgeschlossen wird. Aber in den Wahlverwandtschaften ist jene Vereinigung von Helle und Geheimnis in Charakteren und Handlung noch ergreifender als in dem läßlicheren, durch ausgebreitete Lebens-und Gestaltenfülle entspannten und entspannenden, durch absichtliches Helldunkel die Helle wie das Dunkel lindernden Bildungsroman, weil die Helle unerbittlicher, das Geheimnis endgültiger ist. Denn im Wilhelm Meister, wie überhaupt in allen früheren Werken Goethes, geschweige in dem gefühlsschwangern Werther, lag das Geheimnis noch diesseits der Erkenntnis im Trieb, im Gefühl, in den Sinnen, in der Anschauung, und die Sphäre des Erforschlichen — ein ungeheurer Bereich von Erkenntnis und Weisheit— umlagerte die dunkle schöpferische Mitte, diese beleuchtend und von ihr gespeist, erneuert und durchglüht. Diese Mitte selbst war jetzt völlig durchhellt, ganz Wissen, ganz Vernunft, ganz Erkenntnis geworden, d. h. Goethe hatte nie zuvor so klar die Lebensmächte mit den eigentlichen Denkorganen seines Wesens durchdrungen: als Gesetze. Er hatte im Bereich des Schicksals diejenige Klarheit des Blicks gewonnen die er im Bereiche der Natur durch die Apercus von der Metamorphose und durch die Farbenlehre erreicht hatte. Mehr als das: er hatte für Schicksal und Natur ein gemeinsames Denkprinzipium gefunden, neben dem selbst seine Bildungsidee, die Lichts und Wärmequelle des Wilhelm Meister, und seine Humanitätsideale, aus Iphigenie und Tasso, nur vorläufige Vernunftzentren, nur vorläufige Lösungen oder Gestaltungen des Geheimnisses waren, und siehe: das Geheimnis ward durch die Klarheit der höchsten Vernunft nicht zerstört, sondern noch vertieft. Goethe hat sich selbst als einen bekannt der aus dem Dunkeln ins Helle strebte, und wir haben seine ganze Entwicklung verfolgt als ein immer neues Gestalten, Hellmachen, Denkbar, Erforschbar machen des unerforschlichen eignen und Allebens, vom genialisch instinktiven „Erwühlen“ zum augenmäßigen Umfassen, bis zum vernunftmäßigen Durchdringen: „dumpf“ „rein“ „geistreich“ sind jeweils Lieblingsworte der drei Stufen. Da er kein Rationalist, sein Lebenszweck nicht die Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern als Steigerung der Lebenskraft und Mittel der Gestaltung war, so war für ihn mit der Denkbarkeit das Geheimnis nicht entwertet oder entgöttert. In der Denkbarkeit selbst lag ein neuer Antrieb, und indem Goethe Gottes gesetzliches Verfahren nachsann, ergriff ihn ein Schauer der Erhebung und Ergebung, nicht minder erregend und schöpferisch wie die ganymedisch-dumpfe Hingebung an Gottes Busen, die prometheisch-kühne Selbständigkeit oder die iphigenienhaft-reine Demut unter dem unerforschlichen Ratschluß. Das Sich- eines-wissen mit Gottes Gesetz ist jetzt die Stimmung seiner Frömmigkeit, wie es einst das Umfangen-umfangend-fühlen, oder die kühne Spannung gegen das Gesetz oder die bewußt schlechthinige Abhängigkeit war: die neue Klarheit im Gesetz ist ihm geheimnisvoll wie die selige Dumpfheit und die freiwillige Anerkennung des Unbegriffenen. Diese Klarheit ist zugleich Heiterkeit und Schwermut — Heiterkeit, weil sie die vollkommene Herrschaft des Geistes über den Widerstand des Dumpfen bedeutet, Übereinstimmung des eignen Sinns mit dem Sinn der Gotteswelt, er sei wie er wolle . . und Schwermut, weil es den endgültigen Verzicht auf alle Hoffnungen, Wähne und Räusche des Dumpfen, Wallenden , Ahnungsvollen, Werdenden einschließt — und wohl war Goethes Geist, aber nicht sein Naturell reif für den weisen Verzicht . . seine Kultur, aber nicht seine Natur war vollendet mit jenem völligen Wissen.
Dieselbe Grundstimmung hat Goethe etwa gleichzeitig lyrisch in der Zueignung zum Faust ausgedrückt. Auch von hier aus begreifen wir wie vor der Gesinnung des alten Goethe der Gegensatz zwischen Freiheit und Notwendigkeit, der in so vielen Formen ihn erschüttert und gespannt hatte, aufgehoben wird, warum die Wahl Verwandtschaften, trotz des überpersönlichen unerbittlichen Gesetzes in welchem die Charaktere dieses Romanes ebenso verhaftet sind wie das Gesetz in ihnen, keiner dem antiken Schicksalsdrama oder dem modernen Vererbungsdrama entsprechenden Idee entstammen. Allerdings auch von der Freiheits- und Schicksalsidee im Shakespearischen Charakterdrama und dessen Ableitungen ist ihre Idee grundverschieden. Wenn der Unterschied von der antiken Schicksalsidee in dem dehnbaren, individuellen, einmaligen und immanenten Gesetzesbegriff Goethes liegt, so entfernt Goethe sich von Shakespeare durch die bloße Empfänglichkeit selbst seiner aktiven Charaktere. Was sie auch tun, was ihnen widerfährt, die Wechselbeziehungen der Personen zueinander erscheinen bei Goethe nur als die sukzessiven Funktionen eines gesetzlichen Seins, nicht als Handlungen ursprünglicher Kräftezentren, nicht als Akte eines schöpferischen Willens, der sich den Raum, das Schicksal erst erringt, die Wege auf denen er zu Sieg oder Sturz wandelt erst bahnt, und die Luft in denen er mit anderen atmet erst ausstrahlt. Das aber ist Shakespeares Welt: ihre Menschen sind weder festgelegt durch ein unerforschliches Müssen über oder in ihnen, wie die antiken Helden und die modernen Opfer, noch auch bloß freie, aber leidende Äußerungen eines überpersönlichen Seins. Das Sein, die Natur, das Schicksal, die Atmosphäre eines Stücks sind bei Shakespeare Ausstrahlungen der menschlichen Charaktere, welche wollend, tuend und leidend ursprüngliche Wesenheiten sind. In Goethes Wahlverwandtschaften ist das Gesetz seelisch früher konzipiert, und die Menschen sind nur dessen Ausstrahlungen: bei Shakespeare ist der Mensch [allerdings nicht psychologisch sondern kosmisch gefaßt, d. h. ebenso wie bei Goethe als eine Einheit von Seele, Natur, Schicksal — darin sind beide untereinander und mit der Antike verwandt, und von aller modernen europäischen, dekorativ, psychologisch, naturalistisch romantischen Literatur von Calderon und Moliere bis Balzac, Ibsen und Dostojewsky tief unterschieden] die schöpferische Mitte, in den Wahlverwandtschaften das Gesetz. Shakespeare konzipiert die Welt (auch Natur und Schicksal) unter dem Bilde menschlichen Willens und Wirkens, Goethe den Menschen, zumal in den Wahlverwandtschaften, unter dem Bilde natürlichen Werdens und Geschehens. So ist die oft gerügte Passivität seiner Gestalten nicht ein Mangel seiner Gestaltungskraft, sondern der notwendige und richtige Ausdruck seiner damaligen Weltschau überhaupt, und seiner künstlerischen Absicht bei den Wahlverwandtschaften insbesondere. Wer an den Gestalten der Wahlverwandtschaften die Aktivität vermißt, begreift nicht einmal den Gedanken dieses Werks, welcher ja eben den Gesetzen und nicht Taten oder Begebenheiten gilt. Unter den Menschlichkeiten woran oder worin sich das Gesetz kundgibt fehlen nicht der Wille und die sittliche Kraft, aber sie erscheinen der Gesinnung des Werks gemäß nicht schicksalsschaffend und taten wirkend sondern schicksaltragend, leidend oder pflichtig.
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