Goethes Pandora ist neben den Helenaspartien des zweiten Teiles Faust der Höhepunkt der deutschen, ja der neueuropäischen Allegorik und als solche zugleich die geistvollste Ausdeutung und Erweiterung des antiken Götterkreises: freilich nicht eine mythische Weiterbildung aus der gleichen Atmosphäre heraus, sondern seine bewußte dekorative Benutzung zum Ausdruck moderner Gesinnungen. Sie ist konzipiert aus Bewußtsein und Bildung, als bewußte Vermittlung zwischen bildender Kunst und philosophischer Erfahrung, eine Allegorie mit lyrischen Einlagen, von denen einige allerdings in Goethische Urerlebnisse hinabreichen und als Lyrik die Allegorie durchbrechen worin sie untergebracht sind. Denn keineswegs sind hier die lyrischen Glanzstellen, die „Bravourarien“, der Ursprung und Kern der Gestalten aus deren Mund sie kommen, wie etwa Goethes früher Prometheus nur als und durch seine Trutzode lebt.
Schon der Gattungstitel „Festspiel“ zeigt wohin Goethe das Werk gestellt wissen wollte, deutet den Ursprung aus der Dekoration und die Rücksicht auf ein zu gehobener Gelegenheit versammeltes Publikum an. Pandora gehört als Gelegenheitsdichtung höheren Stils ihrem Ursprung und also auch gewissen Grundbedingungen ihres Baues nach in dieselbe Reihe wie die Maskenzüge, wie Paläophron und Neoterpe und wie des Epimenides Erwachen. Zu jenen Grundbedingungen des Baues gehört die Stellung der- allegorischen Personen in malerischen Gruppen, die Distanz zwischen Gefühl und Ausdruck, die Unterordnung des seelischen Gehalts unter die klassizistische Bildwirkung, daher Abkehr von scharfkantiger Charakteristik wie von psychologisierender Zerfaserung und Durchwühlung. Was nicht dekorativ und erhebend wirken konnte hatte in einem Festspiel keinen Platz. Dekorativ wirken konnte jede Seelenregung, auch die heftigste, die in äußerer Stellung und Gebärde, in Körperbewegung — nicht bloß in Mienenspiel — sich ausladen ließ, und erhebend wirken konnte alles was dem Hörer ein Gefühl der Übersicht, der Lösung und Verknüpfung, der Schlichtung von Widersprüchen und der Umfassung von Einzelheiten gab. Dies war innerhalb eines „Festspiels“ die Aufgabe der Goethischen Weisheit.
Das gemeinsame Organ für die dekorative wie für die erhebende Seite des Festspiels war die schöne und kunstreiche Sprache: nie hat Goethe bewußter und artistischer berechnend Sprachklänge und -fälle als „Kunstmittel“ — nicht als unwillkürliche Entladung der bewegten Seele — nie die Sprache deutlicher als „Spiel“, wenn nicht losgelöst von dem Erlebnis, so doch unbelastet von ihm gehandhabt als in solchen Festspielen: sie sind gekennzeichnet dadurch daß sie, von der sinnlichen Wirkung ausgehend, nach einer Verteilung, Unterbringung, dekorativen Verwendung der seelischen Massen streben, also gewissermaßen von außen nach innen, von dem Rahmen nach dem Bild, von der Komposition im Raum nach den Figuren, von den Figuren nach deren Gebärden hin dichten, statt einen inneren Gehalt von innen nach außen gliedernd in die sinnliche Erscheinung zu drängen. In den Festspielen empfängt Goethe sein Gesetz nicht von den Erlebnismassen die nach Gestaltung ringen, die aus dem Gefühl zu Gebärden, zu Charakter, zu Raum und Bau werden wollen, sondern geradezu von bestimmten Gleichgewichtsgefühlen, ja Grundsätzen, denen Erlebnisse, Erfahrungen, Weisheiten nur als Material, als Farbe, Baustein, selbst als Mörtel dienen. Sie sind verfaßt von dem versetzten Bildkünstler Goethe der die Sprache als Material für seine bildkünstlerischen Ideen vollkommen beherrscht, nicht von dem Dichter der in Italien plastisch schauen lernte. Dies versetzte Bildkünstlertum brach bei dem alten Goethe freilich, besonders wo er gattungshalber an die Bühne denken mußte, immer stärker hervor, es hat seine späteren Dramen zu Maskenzügen gemacht oder wenigstens den Maskenzügen angenähert, d. h. zu dekorativen Gruppierungen mit artistischer, fast opernartiger Sprachbehandlung.
Zum Maskenzug gehört es, in jedem einzelnen Bühnenbild schon ein selbstgenugsames Ganzes zu geben, mit der Freiheit weitere runde Bilder anzureihen. Dies Prinzip kam an sich dem Bedürfnis des alten Goethe entgegen jederzeit fertig zu sein, in selbstgezogenen Grenzen vollendet zu erscheinen, und zugleich bei immer neu zudrängendem Stoff, bei unendlicher Ausbreitung die Freiheit zu stets neuer Abrundung zu bewahren. Von einem einzigen Punkte aus die unübersehbare Masse zur dramatischen Einheit zu gliedern war ihm, zumal bei abnehmender Gestaltungskraft, nimmer möglich, wohl aber, sie in immer neu zu bewältigenden Einzelgruppen aufzureihen an einer allgemeinsamen, wenn auch nicht allumschließenden oder durchformenden Idee zu einem geordneten, überschaubaren und doch fortsetzbaren oder abschließbaren, unendlichen oder abzubrechenden Bilderzug:
Des Menschen Leben ist ein ähnliches Gedicht.
Es hat wohl einen Anfang, hat ein Ende,
Allein ein Ganzes ist es nicht.
So erklärt sich die Vorliebe des alten Goethe für eine Gattung die aus bildhaften Endlichkeiten ein geistig Unendliches, aus begrenzten Gruppen eine grenzenlose Weltbreite, aus abgerundetem Raum eine unabsehbare Zeit hervorrief. Der Maskenzug (als dramatische Gattung im Faust II zur Weltdichtung erhöht, in den Wanderjahren zur Erzählung umgeartet; ist das Mittel um dasjenige was seinem Geist nach, weil unendlich, notwendig fragmentarisch bleiben muß, wenigstens für die Sinne abzuschließen — für einen Greis der jederzeit abgerufen werden kann, obwohl er noch Unendliches zu sagen hat, und der doch bereit und fertig vor Gott und Welt da stehen will, die gegebene Kunstform. Aus der gesellschaftlichen Gegebenheit des dekorativen Aufzugs hat sich eine dramatische Gattung entwickelt die der seelischen Bereitschaft des späteren Goethe entsprach und zugleich seinen Bildnersinn, seinen nie ganz saturierten Malerwilien beschäftigte . . oder vielmehr die ursprünglichste Form des Dramas, ein Festaufzug mit kultischen Vorgängen, kam auf dem Umweg über das Charakter-, das Intrigen- und das Seelendrama, nach der langen Ausbildung eines mannigfachen, schließlich selbständig gewordenen und als „Theater“ etablierten Apparats und einer eigens diesem Theater angemessenen Technik, wieder zur Geltung, freilich nicht ohne die Spuren einer langen Geschichte an sich zu tragen: die Verweltlichung ihrer dekorativen und die Verzwecklichung ihrer geistigen Seite, oder: die Theatralisierung des Kultus und die Allegorisierung des Mythus.
Das Fragment eines maskenzugartigen Ganzen ist der ausgeführte Teil der Pandora. Goethe hat ein Schema zur Wiederkunft der Pandora als zweiten Teil und Abschluß des ausgeführten entworfen, doch sich nachher beruhigt bei der sinnlichen Abgeschlossenheit des ersten Teils, welcher (ähnlich wie bei der Natürlichen Tochter) eine Fortsetzung zwar zuließ, und für Verstand oder Gemüt als Versöhnung sogar forderte, für die Sinne und die Darstellung jedoch als abgeschlossen gelten konnte, weil die darin auftretenden Gestalten sich deutlich und symmetrisch dargestellt hatten. Ein neuer Akt konnte wieder von vorne anfangen und ihren Gehalt zu neuen Figuren ordnen, wohl auch neue Elemente zu einem weiteren Tanz einbeziehen, aber in sich war das Pandorastück selbstgenugsam, und sogar das Fehlen der Titelgestalt unter den auftretenden Personen ließ sie nicht vermissen: Pandora war die alldurchdringende Mitte, die sich als Wirkung und Spiegelung in den andren Figuren vergegenwärtigte. Nachdem sich in ihren Zwillingstöchtern ihre sinnliche Gegenwart zugleich erneuert und verdoppelt hat, wäre ihr eignes Auftreten, mindestens vom sinnlich dekorativen Standpunkt aus, mit solchen Schwierigkeiten verknüpft, daß Goethe vielleicht aus diesem Grund von der Ausführung weiterer Szenenabstand. Denn es war leichter den Sinn ihrer Wiederkehr auszudenken, den Ausgleich der Spannungen und Gegensätze, als diese Wiederkehr selbst zu veranschaulichen, zumal nicht nur die Verdreifachung der körperlichen Gestalt die Augen ermüden mußte, sondern auch das im ersten Teil als Traum, Ahnung, Hoffnung schon vorweggenommene Geschehn, als Erfüllung auf der Bühne dargestellt, den Sinnen nichts eigentlich Neues bringen konnte. Die Doppelnatur der Allegorie, welche zugleich durch Bilder die Sinne, durch Bedeutung den Geist befriedigen sollte, erklärt sowohl den schematischen Plan einer Fortsetzung als auch das Scheitern dieses Plans. Denn der Bedeutung nach ließ sich aus dem Figurenkreis der Pandora noch vieles entwickeln, ja, der geistigen Ausdeutung dieser Figuren und ihrer Beziehungen war keine Grenze gesetzt, aber sie sinnlich mannigfaltig zu gruppieren und ihre begrifflichen Werte in ebensoviele dramatische Vorgänge und Bilder umzusetzen war eben durch das vorwegnehmende „Ineinanderkeilen“ der möglichen Motive im ersten Teil erschwert: eine Erweiterung der gegebenen Motiv- und Figurenreihe sinnlich neu zu füllen traute Goethe sich nicht mehr zu, nachdem er das Geistige durch den Plan, das Sinnliche durch den ersten Teil vorweggenommen hatte. Wo am Plan nicht Denkkraft und Bildkraft gleichzeitig arbeiten, sondern der Gedanke der Phantasie voreilt oder umgekehrt, ist das Liegenbleiben eines Werks begreiflich das nur durch Kombination entstehen kann: der Sinnenstoff der Pandora reichte, nach der intensiven Ausbeutung im ersten Teil, nicht mehr hin um den Gedankenriß des zweiten Teils auszufüllen.
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