> Gedichte und Zitate für alle: F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Pandora Seite 137

2015-11-25

F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Pandora Seite 137



Da das Pandoraspiel konzipiert ist aus dem Prometheus-Epimetheusgegensatz, hat die alte Prometheusgestalt sich symmetrisch gerichtet nach ihrem Gegenstück: er ist nicht mehr der Rebell, sondern der Tätig-Wirkende. Die ganze Seite seines Wesens die sich gegen Zeus kehrt hatte weder in Goethes Altersstimmung noch in einem auf dem Gegensatz zwischen Wirken und Sinnen aufgebauten Werk Platz. Die Funktionen und Attribute des wirkenden Menschen hat Goethe nicht als einheitliche Handlung und Haltung des Prometheus dargestellt, sondern schematisch verteilt auf die Chöre von Kriegern, Hirten, Bauern, Schmieden usw. — die verschiedenen Richtungen menschlicher Tätigkeit, die Bändigung der Elemente, die Eroberung und Ausbeutung der Natur, die menschlichen aus der Kultur alsbald sich ergebenden freundlichen oder feindlichen Wechselbeziehungen die als Stände erscheinen. Was aus dem Streben, Wollen, Tun entsteht als Gewerb und Beruf, wird um Prometheus gruppiert. Dekorativ gestellte und stilisierte Figuren mit in den Mund gelegten Erfahrungs- und Gesinnungssprüchen, nicht verkörperte und sprachgewordene Erlebnisse, sind die Begleiter des Prometheus. Er selbst erscheint nur als der abstrakte resümierende Genius des Wirkens und Handelns überhaupt, nicht als Sprachgestalt des Goethischen Wesens welches sich als titanischer Wirkungsdrang entlad, wie es der erste Prometheus war. Dieser zweite Prometheus und sein Kreis entstammen nur Goethes Dekorationskunst oder Weltweisheit. Die Goethische Leidenschaft und Lebenswallung hat keinen unmittelbaren Teil daran. Also gerade da wo Goethe scheinbar an sein Jugendwerk anknüpft ist er der Art, Glut und Fülle nach ihm am fernsten: der Prometheus der Pandora hat mit dem ersten nur den Namen und die stoffliche Herkunft gemein. Er und seine attributären Chöre sind gespeist aus der kühlsten, dem Herzen fernsten Schicht Goethischen Gehalts.

Die Auseinanderlegung eines Gedankens in sein Prinzip und in seine Modi, wie es Goethe bei dem Prometheus, als dem Genius des Wirkens, und seinen Begleitern, als den Arten des Wirkens, getan hat, diese Spaltung in Erscheinungsgrund und Erscheinungsformen der Seelenkräfte wiederholt sich auch bei dem Mittelstück der Pandora. Eipore und Epimeleia sind, als Hoffnung und Sorge, als Verheißung und Reue, nur die beiden verselbständigten Ausstrahlungen der Macht welche sich in Pandora offenbart: sie ist, seelisch gedeutet, die Phantasie, die Illusion kraft welcher der Mensch Bilder sieht, sucht und flieht, kraft welcher er in Vergangenheit und Zukunft lebt, Ideale und Phantome, Hoffnungen und Befürchtungen, Ahnungen und Erinnerungen hat.. kosmisch gedeutet, die ursprünglich zeitlose bilderschaffende Macht, als solche zugleich Göttin des Schicksals, der Schönheit und des Traums. Ursprünglich ist sie eine rein kosmische Potenz, noch im alten Prometheusfragment:

Heiliges Gefäß der Gaben alle 
Die ergötzlich sind 
Unter dem weiten Himmel 
Auf der unendlichen Erde ..

Durch ihre Zeit-und Seelewerdung, das heißt durch ihr Eingehen in die Menschlichkeit, durch ihre Ankunft bei Prometheus, dem zukunftfordernden Wirker, und bei Epimetheus, dem vergangenheitsdurstigen Sinner, wird diese kosmische Göttin zur Seelengöttin und hinterläßt, vor ihrem Zurücktreten in die überseelische Sphäre, den Menschen ihre zeitgeformten Erscheinungen, ihre Ausstrahlungen, ihre Töchter: Eipore und Epimeleia. Ihr Abschied und ihre Wiederkehr bezeichnen in allegorischem Geschehn die Wechselbeziehungen zwischen dem menschlichen Bedürfnis und der kosmischen Erfüllung. Im ersten Prometheus ist Pandora ein Geschöpf des Titanen und gleicher Art mit ihm. Auch Prometheus ist dort gedacht als die Schöpferkraft schlechthin, und — wie sehr immer aus seelischem Erlebnis geformt — eine kosmische Gestalt, geboren aus dem Gefühl eigner Weltfülle, nicht bloß wie der Prometheus in der Pandora, die Verkörperung einer menschlichen Gesinnung. Die zweite Pandora ist göttlichen d. h. kosmischen Ursprungs, für die Menschen zugleich Gegensatz und Ergänzung, zugleich Gefahr und Lockung. Als Göttin des Traums und des unberechenbaren Schicksals von vornherein dem wirkenden, tätig begrenzten Prometheus unbrauchbar, ist sie für Epimetheus, den Schauenden und Sinnenden, die eigentliche Weltschöpferin.

Pandora ist die Vermittlerin zwischen Menschlichem und Göttlichem, nicht selbst Göttin, aber göttlichen Ursprungs und menschlicher Wirkung. Prometheus hat von seinem Urcharakter das bewahrt daß er sich um das Göttliche nicht kümmert, als um etwas das er nicht beherrschen, worauf er nicht wirken kann. Er beschränkt sich auch in der „Pandora“ ganz auf den menschlichen Kreis „den seine Wirksamkeit erfüllt“ und zieht mit Bewußtsein die Grenze gegen alle Gewalten für die er die Verantwortung nicht übernehmen kann: gegen Pandora als das grenzenlose Bilderspiel der Seele und den grenzenlosen Zufall des Schicksals. Seine allegorische Haltung ist dieselbe die der alte Faust mächtiger ausspricht mit den Versen:

Der Erdenkreis ist mir genug bekannt.
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
Tor, wer dorthin die Augen blinzend richtet,
Sich über Wolken seines gleichen dichtet !
Er stehe fest und sehe hier sich um.

Aber Faust ist nicht mit diesen Worten erschöpft, so wenig wie Goethe. Derselbe Faust spricht die Worte:

Dämonen, weiß ich, wird man schwerlich los,
Das geistig-strenge Band ist nicht zu trennen.

Und wären jene Verse ein Leitwort für das Prometheus-Pandoradrama, (das ja in dem Pandorastück ungespielt bleibt und der Vorgeschichte angehört) so passen diese für das Epimetheus-Pandoradrama. Prometheus ist der Mensch als Wille, der die Dämonen — und Pandora ist ein Dämon kennt und durch Werk und Wissen ausschließt. Epimetheus ist der Mensch als Seele, der sich mit ihnen einläßt, mit ihnen zeugt. Die Kinder sind die Gemütszustände, halb dämonischen, halb menschlichen Ursprungs, die Zeitformen der Seele, Eipore und Epimeleia. Aber auch Prometheus hat einen Sohn, der die Züge des Vaters trägt, Wille und Trieb, nur ohne das Wissen und die Zucht des Vaters: den Phileros, die Leidenschaft in jeder Form — als Liebe, Sehnsucht, Eifersucht, Zorn, Rache, Verzweiflung. Dieser bleibt nicht unberührt von dem Zauber des halbdämonischen Geschlechts und daraus erwächst das Phileros-Epimeleiadrama, welches die eigentliche Handlung der Allegorie ausmacht und zwischen dem reinmenschlichen Kreis des Prometheus und dem menschlich-dämonischen Kreis des Epimetheus erst eine dramatische Verbindung und Einheit herstellt. Pandora selbst, als Dämon, schwebt über dem Ganzen und waltet nur durch ihre Ausstrahlungen in die Handlung hinein. Auch sie ist übrigens nichts Einzelnes, sondern so wie Prometheus mit seinen Werkleuten, wie Epimetheus mit seinen Töchtern und Phileros, zu einem Kreis vereinigt, wovon im ausgeführten Teil nur Eos auftritt. Eos ist die Göttin welche sich nicht unmittelbar ins Menschliche eingelassen hat. Ganz frei von den Verwirrungen des menschlich göttlichen Geschehens, kann sie am Schluß, dramatisch gesprochen, als Versöhnerin, dekorativ gesprochen, als Apotheose auftreten. Im Personenverzeichnis sind „Helios“ und „Dämonen“ angeführt, wodurch der Götterkreis wohl noch ausgefüllt und ergänzt worden wäre. Die dekorative Konzeption des Ganzen erfordert daß die verschiedenen Mächte, menschliche, halbgöttliche und göttliche, gruppenweise erscheinen. Die rein dramatische oder geistige Aufgabe hätte eine Einzelgestaltung eher gestattet, ja gefordert (wie in Iphigenie oder Tasso) aber die möglichst reiche Gruppierung war ein Verlangen von Goethes Auge.

In der Pandora sind die dichterisch schönsten und heute noch durch und durch lebendigen Stellen nur diejenigen welche aus den Herzenserschütterungen geboren sind, welche Goethes Liebe als Schmerz, Sehnsucht und Wehmut ausdrücken, unabhängig von den dramatischen und allegorischen Bedürfnissen des Ganzen worin sie stehen. Was Prometheus und sein Kreis sagt ist genährt mit Goethischem Weltwissen, Weltschauen, Weltdeuten, doch überall steht hier zwischen dem Ton und dem Sinn der Lehrzweck und die artistische Absicht, nirgends ist der Vers, der Tonfall selbst die einzig mögliche Form wie gerade dieses Leben lautwerden konnte. Der Weg zwischen Ton und Sinn ist hier am weitesten, die Filterung des ursprünglichen Lebens durch das Bewußtsein des Weisen und den Kunstwillen des Dekorateurs am gründlichsten. In den Reden von Eipore, Epimeleia, Epimetheus ist der unwillkürlichen Sprachwerdung von Gefühl und Trieb die Möglichkeit durch das kontrollierende Bildnerbewußtsein schon nicht so rigoros versperrt — oder vielmehr das Bildnertum Goethes reicht hier aus dem Denkbezirk bis in den Gefühlsbezirk hinunter, obgleich sich die Grenze zwischen gekonntem und gemußtem Ausdruck auch hier noch deutlich unterscheiden läßt. Hier kommen nicht nur Erfahrungen und Gesinnungen, wie in den Prometheusreden, sondern Empfindungen, freilich zumeist durch Erinnerung gemilderte, zu Wort.

Daß dieser Bezirk gefüllter war mit Goethes Glut und Not ergibt sich schon aus den Ansprüchen des Gegenstands. Prometheus soll ja den Täter, den Wirker darstellen: dies war, wo es durch allegorisches Bild und nicht durch dramatische Gebärdung geschehen mußte, nur durch Vermittlung der Erfahrung, durch Reflexion und Abstraktion möglich: denn die Tatkraft an sich hat nicht das Bedürfnis sich sprachlich zu entladen, und was in Goethe tathaft war befriedigte sich im Tun und Schaffen, nicht eigentlich im Dichten. (Der Prometheus seiner Jugend war nicht Ausdruck seines Tatwillens, sondern seines Schöpferdrangs, seiner Kraftfülle, also einer allgemeinen, dem Dichtertum näheren Form der Expansion.) Darum ist gerade die Allegorie der Tatkraft, Prometheus, notgedrungen reflektiver und abstrakter als die Allegorie des Sinnens und Empfindens, Epimetheus: der Empfindung und dem Sinnen ist das Sprechen ja schon mehr ein Bedürfnis. Epimetheus war also an sich dem Wesen Goethes näher und konnte darum voller und leichter aus seiner Seele empfangen: es war dem Dichter gemäßer Empfindung ausdrücken als Tätigkeit darstellen. Auch der alte Faust, von dem Erinnerungsbilde des großen Friedrich angeleuchtet, steht trotzdem vor uns mehr als der Strebende denn als der Wirkende oder Tätige. Shakespeare aber, der zumeist unter den neueren Dichtern den aktiven Menschen in unmittelbaren Sprachausdruck gebannt hat, gibt im Wort auch nicht das eigentliche Tätertum, sondern heroische Spannungen aus denen Taten fahren, nicht Bilder des Tuns und Wirkens, sondern des Wollens, Siegens, Kämpfens. Shakespeare kennt den Tatmenschen nur als Kämpfer, für Goethe ist die Tat nur darstellbar unter der Form des Strebens, die Shakespeare ganz unbekannt ist, und unter der Form des Wirkens, welches überhaupt die allgemeine Form menschlicher Leistung, menschlichen Heraustretens aus dem bloßen Sein und der bloßen Innerlichkeit ist. Daß das Empfinden in der Richtung des Dichtens läuft, ihm „entgegenkommt“, während das Tun sich von ihm entfernt — das macht die Worte des Epimetheus, der Eipore und der Epimeleia zu einem bequemeren und ursprünglicheren Ausdruck dessen was sie ausdrücken sollen als die Worte des Prometheus.





  

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