> Gedichte und Zitate für alle: W. Bode: Goethe in vertraulichen Briefen...10.02.1789 Herder an seine Frau (472)

2015-11-22

W. Bode: Goethe in vertraulichen Briefen...10.02.1789 Herder an seine Frau (472)



10. Februar

Neapel. Herder an seine Frau

Antwort auf den Brief vom 16. Januar

Was Du über Goethe schreibst, ist ganz wahr. Meine Reise hieher hat mir seine selbstige, für andre ganz und im Innern unteilnehmende Existenz leider klärer gemacht, als ich’s wünschte. Er kann indessen nicht anders; laß ihn machen! Es tut wehe, es zu fühlen, daß man einen angenehmen Traum verloren habe, und doch ist’s besser wachen als träumen. 

Sein entsetzlicher Enthusiasmus für Moritz gehört auch dazu. Moritz ist ein guter Mensch, auch ein seltner Mensch in der Art, wie er sich seine Ideen stellt und stellen muß; in ihnen aber ist nichts Lichtes, nichts Geendigtes, und mich ärgert’s, was die Damen dort für ein Wesen aus ihm machen und wie sie’s mit ihm treiben. Auch von Dir hat’s mich gewundert, daß Du einige seiner Gespräche so hoch und neu aufgenommen hast; sie lassen weder Klarheit noch Erquickung zurück, und im Grunde ist er ein gedrücktes, krankes Wesen, auch in seiner Gedankenreihe, die nicht für mich ist; wir sind weiter. 

Mit Goethe ist’s anders, weil Moritz in ihn vernarrt ist und seine ganze Philosophie darauf gerichtet hat, ihn als das Summum der Menschheit zu vergöttern. Zu dem allen gehört die Geschichte ihres römischen Daseins, wo Moritz sehr gedrückt war und Goethe ihm wie ein Gott erscheinen mußte. Das mag gut für beide sein; andre Menschen aber müssen sich nicht irremachen lassen ...

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