> Gedichte und Zitate für alle: H. Conradi: "Lieder eines Sünders Vorwort-2 (2)

2015-12-20

H. Conradi: "Lieder eines Sünders Vorwort-2 (2)

 

Entweder – oder! ... Der mehr will als Gold und Brot, ist jeden Augenblick
in Gefahr, in Abgründe zu stürzen ... Und doch hat ein jeder Recht – ein jeder
auf dieses Mehrwollen ... »Glück« und »Zufriedenheit« in engem,
herkömmlichem Sinne gibt es für uns nicht ... Die Erkenntnis der
Werde-Faktoren stählt zwar, aber sie schmerzt auch – oh so sehr! ... Und wer
wollte dafür bürgen, daß er sich nicht von neuem blenden – erniedrigen ließe?
Nach Katastrophen, die man überdauert, erreicht man Höhepunkte,
Sonnengipfel, Araratsspitzen ... Aber das Leben ist eine einzige Versuchung. ..
Und nur zu leicht wird man seiner Natur untreu. Goethe hatte die gewaltige
Erneuerungszeit in Italien, wo er seine Wiedergeburt erlebte, hinter sich, als er
seinen »Bürger-General« usw. schrieb – kleine, kleinliche Machwerke, die aus
neuen Irrtümern, neuen Kümmernissen und Verkümmerungen hervorgegangen
... Und wenn einer das Ideal, »harmonisch« zu leben, begriffen und annähernd
erreicht hat, so war es Goethe ... Aber Bruchstücke – nur Bruchstücke
umsäumen unseren Lebenspfad ... Wem das Leben ein Mosaikbild
zusammenfügt, das notdürftig Sinn gibt, darf sich glücklich schätzen ... Also:
  »Lieder eines Sünders« bedeuten Lieder eines Kämpfers, der sich nicht
ganz von der grenzenlosen Gemeinheit des Lebens knechten lassen wollte. ..
Ich hätte im Anschluß an diese Worte noch mancherlei zu sagen. Es wurmt
mich noch so vieles – aber erlaßt mir das heute ... Die Herren Kritiker werden
wieder einmal über mich herfallen – sie werden mich zu Tode schweigen oder
zu Tode zupfen und rupfen. Das kann mir gleichgültig sein. Wer diesen Kampf
um die innere Freiheit, von dem mein Buch Zeugnis ablegt, nicht an sich
erfahren; wer nie von der Begeisterung für die höchsten menschlich-ethischen
Ideale erfüllt gewesen, der wird in meinen Strophen nur Pathos, Klingklang,
manierierte Gedankenbildnerei und ähnliches finden. Ich weiß im voraus, daß
ich innerlich das, mit dem ich heute auf den Plan trete, bald überwunden haben
werde. Ich hoffe es sogar. Aber ich halte es gerade für ein im besten Sinne des
Wortes modernes Künstler-Charakteristikum: daß man voll Inbrunst und
Hingebung versucht, die verschiedenen Stufen und Grade des Sichabfindens
mit dem ungeheueren Wirrwarr der Zeit schöpferisch zum Ausdruck zu
bringen, einseitig trotz aller Vielseitigkeit – vielseitig trotz aller Einseitigkeit
... Wohl wird die Natur mit ihren unermeßlichen Zauber- und Trost-und
Gesundungskräften je und je ein Motiv für den Poeten bleiben. Wohl wird ihn
die Liebe immer begeistern – – aber auf uns alle, die wir früh auf den Markt
geworfen sind, hat der Alltag mit seiner ganzen grausamen Kleinlichkeit
abonniert – und ist es nicht gerade das Kleine und Kleinliche, das Gemeine,
Gemeinsame und darum Alltägliche, das uns überkrustet, einschichtet,
verdorren und verstummen läßt? ... Gewiß ist das ein dem Wesen der Dinge
immanentes Moment – aber immanent ist uns auch die Sehnsucht nach der
Freiheit – natürlich ist dem Menschen auch sein ideologischer Drang: es
kommt nur auf die Intensität der Kräfte an, mit der er sich äußern darf ... Wer
sich darum gegen mich wendet, spricht aus einer anderen Sphäre zu mir – aus
einer Welt, welche nicht die meine ist – und ich habe immerhin das Recht, ihn
ignorieren zu dürfen. Denn ich kann mir nicht denken, daß ein Mensch – ich
spreche dieses Eigenlob, das darum nicht »stinkt«, weil es in dieser
Verbindung zugleich einen Vorwurf gegen mich enthält, scheulos aus –
leidenschaftlicher mit dem Höchsten und Tiefsten gerungen hat denn ich ...
Und damit Gott befohlen! Bei Philippi sehen wir uns wieder! ...

alle Gedichte "Lieder eines Sünders"                                                                                       weiter

Keine Kommentare: