> Gedichte und Zitate für alle: Briefwechsel J.W.v.Goethe und C.F.Zelter: An Goethe 15.07.1803 (27)

2016-04-29

Briefwechsel J.W.v.Goethe und C.F.Zelter: An Goethe 15.07.1803 (27)



27. An Goethe 15.07.1803

Berlin, 15. Julius 1803. 

Herr Geheimer Rat v. Wolzogen ist so willfährig gewesen, durch einen Bekannten sechs Exemplare meiner Lieder für Sie mit abgeben zu lassen. Eins davon war für Schillern und eins für den guten Ehlers bestimmt, die übrigen sollen Ihrer Disposition unterworfen sein.

Seit meiner Zurückkunft von Weimar und Dresden hat sich ein neuer Zustand in mir angefunden. Ich habe Ihren »Cellini« gelesen, den ich, teils aus Zeitmangel und anderer unerheblichen Ursachen wegen, unverantwortlicher Weise noch nicht gelesen hatte, obschon ich wußte, daß der »Cellini« in den »Horen« schon vor Jahren erschienen ist. Ich habe das Buch mit unnennbarem Anteil gelesen und bin davon durch und durch erschüttert. Alle Gedanken an die Dinge der Welt sind mir davon vergangen, und die Sehnsucht nach Italien hat sich meiner wieder so bemeistert, daß ich nichts als weinen möchte. Herr v. Wolzogen hat mit mir über die Tunlichkeit gesprochen, mich in dies Vaterland der Musen zu führen. Ich habe seine wohlmeinende Absicht erkannt, woher sie kömmt. Was für Talente und Produkte könnte ich vorzeigen, um mich einer für mich so kostbaren Unternehmung würdig zu beweisen? da alles noch in mir wie im Schoß der Mutter ruht und auf eine Zeit hofft, die wohl niemals erscheint. Jeder Nerv meines Geistes fängt erst jetzt an, sich nach und nach loszumachen von den Bändern und Schienen, die Zufall und Gehorsam ihm angelegt hatten, und nun, da ich immer verständiger und zahmer werden sollte, fühle ich mich wie ein junges Pferd, das zum erstenmal seine Freiheit ahndet.

Beinahe 30 Jahre habe ich die Last und den Druck getragen, die mich auf dem flachen Boden halten, indem mich eine unbekannte Macht nach oben zieht, und ich lebe noch und kann noch ruhig scheinen, wo die höchste Anstrengung meines Leibs und Gemüts nicht sichtbar werden soll.

Hätte ich doch das Glück zwanzig Jahre eher gehabt, in Ihren Kreis zu geraten! Alles um mich her in dieser großen Stadt lebt von dem, was es liebt, und ihm ist wohl bei dem, was es treibt. Ich darf nicht einmal dreist sagen, was ich liebe, und was ich bin, soll ich nicht sein. Was ich so machen kann, wie es keiner macht, verlangt keiner, und was die meisten wenigstens eben so gut als ich können, gibt mir ein saures Brot, das ich ohne Freude über vergoßnen Schweiß genieße.

Aus dieser Darstellung sollen Sie, mein ehrwürdiger Freund, beurteilen, was Sie mir wert sind, indem Sie mich wert achten. So viele Jahre habe ich mit Anstrengung mein Innerstes meinen nächsten Nachbarn verhehlt, und Sie haben in der Ferne den Schleier hinweggezogen. Von meiner Ergebenheit gegen Sie sage ich Ihnen nichts, denn was sollte ich wohl sagen? Nur zeigen möchte ich Ihnen, was ich durch Sie sein könnte.

Wie mich manchmal die ungeheure Leidenschaft zur Kunst anpackt und mich nicht loslassen will, bis ich meine Kleinen ansehe. Dann gibt sich’s wieder, und ich bin wieder der alte.

Ich hätte billig vorher daran denken sollen, meinen äußern Zustand zu verändern. Die Furcht, ein unzulängliches Talent zu kultivieren, so wie der Mangel aller Ermunterung haben mich fast erdrückt. Bei dem allen bin ich doch dahin gekommen, in der Kunst das Bessere vom Guten zu unterscheiden, in der Kunst, die eben so wie ich unter dem Druck einer populären Sensation erstickt.

Ihre »Natürliche Tochter« ist bis heute zweimal gegeben worden. Was soll ich Ihnen davon sagen? Alle hier tun, was sie können, und jeder das Seinige, wie er nun ist. Daß wir hier zu Lande vor der Hand dahin kommen, etwas Natürliches natürlich zu finden und zu gebrauchen, dazu ist vor der Hand keine Aussicht, doch kann es besser werden. Die Hoffnung ist schwach, aber nicht unmöglich. Eine totale Geschmacksfinsternis, die nicht von der Stelle rückt, in die sich alles einfügt, dem das Denken sauer wird, die ihren höchsten Genuß in der Mäkelei, Vergleichungssucht, kurz die Lust in der Unlust zu finden meint, kann nur durch eine gewaltsame Explosion aus der stinkenden Ruhe in einen ändern Zustand übergehn, und was dann draus wird, muß man wieder hinnehmen. Wer von dem Undank unserer Kunstwelt will zu erzählen haben, darf sich nur um sie bemühen.

Brockmann aus Wien ist jetzt hier und hat im »Clavigo« den Beaumarchais gespielt. Er ist mit jauchzendem Beifall empfangen worden. Meines Urteils über sein Spiel enthalte ich mich, da er ein Mann ist, der einen großen Ruf für sich hat. Gut hat er in jedem Falle gespielt, doch nun verstehe ich erst ganz, was der brave Fleck, der nichts recht machen konnte, für ein Mann gewesen ist.

Den 7. August. Indem ich Ihren lieben Brief vom 28. Julius erhielt, hatte ich so eben Schillers Vorrede zur »Braut von Messina« mit Muße gelesen und bereits Hand an einen Versuch gelegt, die Chöre des Stücks in eine musikalische Form zu bringen. Soviel habe ich bis jetzt gesehn, daß ich ein ruhiges Jahr haben müßte, glücklich in das neue Genre hineinzugeraten. Sobald etwa soviel fertig ist, daß man es erkennen kann, schreibe ich Ihnen über meinem Fund. Was Sie mir über die Chöre geschrieben, ist mir sehr nützlich dabei gewesen, weil es mir mehr um eine bestimmte Ansicht des alten griechischen Chors als um meine neue Erfindung zu tun ist. Der Musiker ist so auf eine horrible Art unter dem Dichter geordnet und bedarf außerdem der ganzen Kraft seiner Kunst. Ihr Gedanke, einen Versuch mit einem kurzen Oratorio zu machen, ist vortrefflich, und ich wünschte aus mehr als einer Ursache ihn ausgeführt zu sehn. Es ist ein neuer Weg zum Herzen, und ich denke unaufhörlich daran. Daß Ihnen jemand ein Buch dedizieren könnte, ohne es Ihnen zu senden, ist mir gar nicht beigefallen. Es ist Ihnen und Herren Müller (wahrscheinlich dem Kantor der Leipziger Thomasschule) dediziert.

Sobald die »Natürliche Tochter« wieder gegeben wird, will ich mich bemühen, alles zu verstehn, was unsere Schauspieler reden, und Ihnen darüber schreiben, was ich kann. Es ist fast unmöglich, in dem großen schallenden Hause einen ganzen Vers zu gewinnen, und über die Plage vergeht einem zuletzt aller Mut. Die Komödienzettel werde ich sammeln und Ihnen zuschicken.

Ihre Lieder sollen mir höchst willkommen sein, zumal jetzt, da ich vor lauter Arbeit nicht arbeiten kann. Mit Schmerzen habe ich schon auf die Erscheinung der »Natürlichen Tochter« gehofft, allein es ist noch nicht zu bekommen.

Was ich über das Orchesterwesen niedergeschrieben, erhalten Sie anbei. Etwas Vollständiges ließe sich nur hervorbringen, wenn man eine Zeitlang mit einem Orchester unablässig zu tun hätte. Ich wünschte zu wissen, ob Ihnen das Wenige interessant ist und ob ich Ihnen von Zeit zu Zeit mehr darüber schreiben darf; doch dann müßte ich die Blätter zurückhaben, von welchen ich keine Kopie genommen. Es wäre gar viel zu sagen, und worüber Sie Auskunft verlangten, würde ich Ihnen gar gerne dienen. Ich glaube das Wesen zu kennen wie einer und jetzt besser darüber reden zu können wie alle, die an der Ordnung sind. Es müßte eine ganz neue Zucht eingeführt werden, wenn etwas gewonnen werden sollte.

Leben Sie so wohl, als ich es wünsche, und empfehlen mich Ihrem lieben Hause. Auf ewig

Ihr

Zelter.

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